Montag, 21. Dezember 2015

Der Geier und die Taube

Blutgierig rupfte einst ein Geier eine Taube,
Und sprach zu ihr:
»Du dummes Thier!
Du hassest mich: ich weiß es schon;
Dafür empfang‘ nun deinen Lohn!
Du bist und bleibest mein, und dienest mir zum Raube
Die Götter sind gerecht!« – »O möchten sie es seyn!«
Fällt drauf die Taube, zu dem Himmel blickend, ein. –
»Wie!« – ruft der Geier nun – »Tod und Verderben!
»Jetzt mußt du schonungslos, Verruchte! sterben;
Ich hätte dir aus Mitleid noch verzieh’n;
Nun winkt die Rache, Gottesläugnerin!«

Claris de Florian

Montag, 7. Dezember 2015

Die kleinen Leute

In Lilliput (ich glaub’ es kaum,
Doch Swift erzählt’s) giebt’s Leute
So groß, als ungefähr mein Daum:
Man denk erst in der Weite!
Da müssen sie gewiß so klein
Als bei uns eine Mücke seyn.

O wär’ ich dort, wie groß wär’ ich!
Man nennte mich den Riesen,
Und mit den Fingern würd’ auf mich,
Wo man mich säh’, gewiesen:
Dort, sprächen sie, dort gehet er!
Und vor mir ging’ ein Schrecken her.

Doch, wenn ich nun nicht klüger wär’,
Als jetzt, sie aber wären
Gesitteter, verständiger,
Wie? würden Sie mich ehren?
Ich glaube kaum. Sie würden schrein:
Am Leibe groß, am Geiste klein!

Christian Felix Weiße
(1726 - 1804)

Montag, 30. November 2015

Die Preisfrage

Die Akademie zu Dorndorf warf diese Preisfrage auf: Was ist jetziger Zeit für ein Unterschied zwischen einem Lehrjünger Ulpians, und einem Anfänger in der neuern Philosophie?

Lange blieb die Frage unaufgelöset. Endlich erhielt jener den Preis, der sagte: Die Rechtsgelehrte unsrer Zeit lernen eher schreiben als denken; die Schüler der neuern Philosophie hingegen eher denken als schreiben.

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner

Donnerstag, 26. November 2015

Die Werwolf-Probe

Eines Tages brachten Bauern einen Mann nach Königsberg zu Herzog Albrecht von Preußen (*1490 - +1568), den sie für einen Werwolf hielten. Er sah verwildert aus und hatte im Gesicht Narben und Wunden. Der Mann sagte, dass diese von Hunden stammten, die ihn verfolgten, wenn er sich als Werwolf verwandelte. Dies würde zweimal im Jahr geschehen, einmal zum Johannisfest und dann zu Weihnachten. Er würde die Gestalt eines Wolfes annehmen, in die Wälder laufen und sich zu den echten Wölfen gesellen. Die Verwandlung würde ihm nicht leicht fallen, gab der Mann zu. Jedes Mal würde ihn große Angst überkommen, bevor die Haare ausbrächen und der Wolfspelz wuchs. Das alles schien sehr glaubhaft zu sein, doch wolle man sich selbst davon überzeugen. Deshalb behielt man ihn im Schloss, bis die Zeit der Verwandlung kam. Aber der Mann blieb ein Mensch und wurde kein Wolf.

Erzählt nach einer alten ostpreußischen Sage

Dienstag, 24. November 2015

Der Vogel und die Affen

Es lebte einmal in einem Walde eine Affenherde; einst an einem kalten Tage sahen die Affen einen Leuchtkäfer, den sie für ein Feuer hielten. Sie fingen ihn, legten Laub und dürres Gras darauf und hofften, damit ein Feuer anzuzünden; einer von ihnen blies noch mit vollen Backen den Leuchtkäfer an. Dies sah der Vogel Spitzschnabel und sprach zu ihm: »Das ist ja kein Feuer, das ist ein Leuchtkäfer. Gib dir keine Mühe!« Der Affe kehrte sich nicht an diese Worte, sondern fuhr fort mit Blasen; da stieg der Vogel vom Baume, näherte sich ihm und wollte ihn mit aller Gewalt von dem törichten Beginnen abhalten. Darob erzürnte sich schließlich der Affe und warf einen Stein nach dem Spitzschnabel, daß er zermalmt wurde.
***
»Deshalb soll man dem nicht raten, der Belehrung nicht annimmt.

aus:
Somadewa
KATHÂSARITSÂGARA
Übersetzt von Dr. Hans Schacht
1918, Leipzig und Lausanne

Montag, 23. November 2015

Der Krieger, der seinen Zorn bezähmt

Im Dienste des Königs Kuladhara stand ein gewisser Surawarman, ein Krieger, der aus guter Familie entsprossen war und dessen Mut allgemein anerkannt wurde. Als er einst unvermutet aus einem Feldzuge nach Hause kam, traf er seine Frau in freiem, ungestörtem Verkehr mit seinem eigenen Freunde. Er sah es, aber charakterfest wie er war, bezähmte er seinen Zorn, indem er überlegte: »Was nützt es mir, wenn ich dieses Vieh, diesen falschen Freund getötet habe, oder wenn ich mich an dieser Ehebrecherin wegen ihres sündhaften Wandels vergreife? soll ich noch Sünde auf mich laden?« Er rührte sie also nicht an, sondern sagte nur: »Wer von euch beiden mir wieder zu Gesichte kommt, den werde ich töten. Tretet mir nicht wieder vor die Augen!« Mit diesen Worten ließ er sie laufen, so weit sie wollten, dann nahm er sich ein anderes Weib, mit der er glücklich da wohnen blieb.
»Wer seinen Zorn bezwingt, mein Fürst, der kann niemals dem Kummer zur Beute fallen, und wer Klugheit besitzt, der kommt nicht um.

aus:
Somadewa
KATHÂSARITSÂGARA
Übersetzt von Dr. Hans Schacht
1918, Leipzig und Lausanne

Mittwoch, 18. November 2015

Der Löw und seine Feinde

Dem Löwen fielen in einer Krankheit alle Haare weg. Seine Feinde nahmen hieraus Gelegenheit ihn zu verkleinern, und sagten: „Er sieht keinem Löwen mehr ähnlich. Er ist auch kein Löwe mehr.“


Der Löw erfuhr es, und sagte nichts anders darauf, als: „Meine Handlungen werden es zeigen, daß ich ein Löwe bin.“

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Montag, 16. November 2015

Das mittelalterliche Franken

Dass das Mittelalter nicht nur Fabeln kannte, ist in meinem neuen Buch nachzulesen: Mittelalterliches Franken.

Es ist nicht einfach ein »Geschichtsbuch« sondern auch ein Reiseführer für die heutige Zeit. Es sind viele Tipps drin, wo man das Mittelalter in Franken heute noch sehen kann.

Mittwoch, 11. November 2015

Kuh und Bache

Kuh und Bache wohnten, so geht die Mär, zusammen in einem geruhigen Tal. Sie bekamen zur selben Zeit Junge. Sprach die Bache zu ihrer Gefährtin: »Schau, wie fruchtbar ich bin, und wie viel schöner ich mit meinen vielen Kleinen bin als du!« Die Kuh antwortete: »Laßt uns ins Dorf gehen und den Leuten unsere Nachkommenschaft zeigen; wer von uns verhöhnt wird, soll die Häßlichste sein.« Die Bache willigte ein, und beide begaben sich auf den Weg. Die Kuh trabte zuerst durch die Gassen; als die Leute sie sahen, sagten sie: »Schaut mal, welch herrliche Kuh! Seht, was für ein niedliches Kälblein sie bei sich hat!« Die Bache folgte ihr unmittelbar; als die Leute sie sahen, höhnten sie und riefen: »Seht einmal das garstige Wildschwein an!«

Daher trägt das Wildschwein stets den Kopf zum Boden gesenkt; es schämt sich der Worte der Menschen. Die Kuh aber hält das Haupt hoch empor, denn sie ist auf die Schmeicheleien stolz.

Paul Hambruch
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
 Jena: Eugen Diederich, 1922.

Mittwoch, 4. November 2015

Zum Herbst: Fabel


Ein jüngst noch dick belaubter Baum
Sah seines Wipfels Pracht erbleicht zu seinen Füssen,
Und, wie des Bodens runder Raum,
Den die so angenehm begrünten Schatten
So oft geschützt, so oft bedecket hatten,
Den lieben Kinderchen zum Kirch-Hof werden müssen.
Es riß der kalt' und rauhe Nord
Den dünnen Ueberrest noch immer mit sich fort,
Sie taumelten recht Schaaren-weis' herab,
Und suncken in das finstre Grab.

Er schien, in dunckler Farb', ihr sterben zu betrauren,
Und, in der Kinder Fall, sich selber zu bedauren.
Dieß heimliche Geseuftz, dieß still' und bange Klagen
Vermochten einige der Blätter, die noch grün,
Und deren frische Farb' fast unverwercklich schien,
Nicht zu vertragen.

Sie sprachen: Traure nicht! wir wollen bey dir bleiben,
Uns wird kein Wind, kein Frost vertreiben.
Sieh nur, wie grün wir noch, wie frisch; wir fühlen nicht,
Daß uns, an Kraft, an Schönheit, was gebricht.

Allein, fast in derselbigen Secunde,
Erstarrt' ihr kühnes Wort in ihrem kleinen Munde.
Ein kalter Hauch den Eurus von sich bließ,
Der ihnen seine Stärck', und ihre Schwäche wies,
Griff ihren zarten Leib so grimmig an,
Daß ihnen Leben, Muth, und alle Kraft
Vergieng, entwich, zerrann.
Es stockt ihr Lebens-Saft;
Es schrumpft ihr Cörper ein; sie zittern jämmerlich;
Ein ängstlich Seufzen scheint ihr lispelndes Gezische;
Sie beben, und sie krümmen sich:
Es scheint, als ob man sie recht von den Zweigen wische.
Sie hielten bloß darüm, dieweil die Reih
Sie etwas später traff, sich fast vom welcken frey.

Lasst diese Blätterchen, ihr noch gesunden Alten,
Bey euch des Lehrers Amt verwalten!
Ein Augenblick stürtzt sie herab:
Ein Augenblick stürtzt euch ins Grab.

Berthold Heinrich Brockes
1680-1747

Sonntag, 1. November 2015

Die XXVII. Fabel/Von dem Wolff und dem Kitze


Wo jemand bezwungen würd / under zweyen uberbösen dingen eines zuerwehlen / so ist doch das minder schmählich auffzunemmen / Darvon hör diese Fabel.

Ein Kitze gieng auf einem Anger / nahe bey seinem Hauß / zu dem kam ein Wolff / inn meinung das zu fressen / Aber das Kitze entrann im von der statt under die Schafe. Da aber der Wolff mercket / daß er es nach seinem willen nicht haben mochte in frevel / gedachte er das mit listen unnd schmeichelwort zu ihm bringen und sprach zu im: O du thörichtes Thier / was suchest du hie in dieser statt / sihest du nit wie hie in dem Tempel das Erdtreich unsauber und blutig ist von den Thieren / die man täglich den Göttern opfferet unnd ertödtet / stick dich nit in die sorge / daß du alle stund des todts warten müssest und gehe herauß auff den grünen Anger / da du in freyheit leben magst. Das Kitze antwort unnd sprach: O Herr Wolff leg hin dein sorg das bitte ich dich / dann weder mit treuw / noch mit falsche rath bringst du mich hinauß zu dir / dannh ob ich meines lebens und blut vergiessen müste besorgen / so were mir doch lieber / das geschehe den Göttern zu ehren / dann das ein freysamer Wolff von mir gesettiget würde.

Esopus Teutsch/
Das ists:
Das ganze Leben und Fabeln Esopi/
mit sampt den Fabeln Anianai/
Adelfonsi und etlichen Schimpffreden Pogij,
darzu Außzüge von fabeln und Exempeln des Sebastian Brand.
1594

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Der Märchenerzähler erzählt eine neue Geschichte

Wenn die Dämmerung kommt und die meiste Arbeit gemacht ist, gehen alle auf den Markt, von dem sich die Händler dann bereits zurückgezogen haben. Mitten auf dem Platz aber sitzt der Märchenerzähler und sobald alle sich um ihn herum versammelt sind, beginnt er, seine Geschichten zu erzählen. Er kennt viele Geschichten, die Zuhörer haben sie alle schon gehört, weil sie immer wieder kommen und es ihnen nie langweilig wird, sie ein zweites, ein drittes oder ein viertes Mal zu hören.

Doch heute sitzt der Erzähler lange still. Niemand traut sich etwas zu sagen oder zu fragen. Mal räuspert sich hier eine, mal hustet dort jemand. Irgendwann beginnt der Erzähler doch, mit geschlossenen Augen und mit einer ganz neuen Geschichte.

Eines Tages, so erzählt er, kam die Wahrheit an eine Wegkreuzung, und wusste nicht weiter. Jeder den sie fragte, gab ihr eine andere Antwort. Der eine sagte »links gehen«, eine andere behauptete »rechts ist der richtige Weg«. Ein noch junger Mann rief emphatisch: »Nur geradeaus führt der Weg ins Neue!« und ein altes Männlein wollte die Wahrheit sogar zurückschicken, weil direkt voraus das größte Unheil zu erwarten sei. Da stand sie nun, die Wahrheit, und wusste nicht, wem sie glauben sollte. Da ihr selbst die Lüge fremd war, galt alles, was andere sagten, für sie so, als hätte sie es selbst gesagt. Was tun? Gleichzeitig nach links, rechts, vorne und hinten ging nicht. Am liebsten wäre sie nach oben weg, weil das niemand vorgeschlagen hatte, aber fliegen konnte sie nicht. Seufzend ließ sie sich auf einen Stein am Wegesrand nieder. Hier wollte sie bleiben. Da kam ein kleines Mädchen an die Kreuzung und sah die Wahrheit. »Warum gehst du nicht weiter«, fragte es, »bist du müde?« »Nein, müde bin ich niemals, aber ich kann nicht sehen, wo ich hin soll. Jeder gibt mir eine andere Richtung an und deshalb weiß ich nicht, welchem Rat ich folgen soll.« »Ist doch egal«, sagte das Kind. »Wo du hingehst, muss es richtig sein, denn wo die Wahrheit erscheint, muss das Falsche verschwinden.« Da lächelte die Wahrheit, nahm das Kind an die Hand und ging mit ihr gerade aus weiter. Doch schon im nächsten Ort kamen die Menschen schreiend gelaufen, schlugen die Wahrheit, prügelten das Kind und warfen die Geschundenen zur Stadt hinaus. »Was war das?« klagte die Wahrheit. »Ich weiß es auch nicht«, weinte das Kind. »Sie haben etwas von Fremden, die ihnen die Heimat wegnehmen und die Ordnung zerstören wollen« gerufen. »Aber das ist ja schrecklich«, sagte die Wahrheit, »wer sind denn diese Fremden.« »Ich glaube, sie meinten uns damit«, antwortete das Kind. Da war die Wahrheit sehr betroffen und beschloss, nicht mehr geradeaus zu gehen sondern lieber nach links abzubiegen. Doch sie kamen nicht weit, denn bald standen sie vor einem Zaun, der aus stacheligen Drähten gespannt war. Da hinüber konnte sie nicht kommen. Nun gingen sie in die andere Richtung, bis sie zu einer Mauer kamen, die so hoch war, dass sie nicht drüber hinweg sehen konnten. Bald standen sie wieder an der Kreuzung und seufzend machte sich die Wahrheit auf den Weg dorthin zurück, woher sie gekommen war. Aber auch das wurde ihr bald verwehrt. Menschen standen dort, mit Waffen und drohten, sie zu vernichten, wenn sie nur einen Schritt weitergehen würde. So kam es, das seit diesem Tag die Wahrheit an der Wegkreuzung sitzt. Viele Kinder haben sich zu Ihr gesellt, viele zerschunden und zerschlagen. Sie alle bleiben dort und warten auf den Tag, an dem sich alle Wege wieder öffnen werden. Doch wann wird das sein?

Der Märchenerzähler erhebt sich, verneigt sich in alle vier Himmelsrichtungen, und geht. Keiner hindert ihn. Aber es bleibt still auf dem Platz und beim nach Hause gehen gibt es kein fröhliches Gespräch, keine angeregte Unterhaltung, kein Wort zum Abschied. Jeder denkt über diese Fabel nach, die der Märchenerzähler heute das erste Mal erzählt hat.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 27. Oktober 2015

Fabularium


Gesehen in Magdeburg, im Hundertwasserhaus. Eine von den außergewöhnlichen Buchhandlungen, die man gottseidank nach häufig findet – im richtigen Leben, und nicht im Internet. Fabularium ist Fabelhaft, finde ich.

Freitag, 23. Oktober 2015

Der Zauberteppich

In der Hauptmoschee zu Meschhed Hosseïn, der berühmten schiitischen Pilgerstadt, ist unter der Gebetsnische ein Teppich zu sehen, dessen Geschichte man folgendermaßen erzählt:

Zu Ijar, dem im ganzen Morgenland bekannten Teppichweber, kam Yussuf el Kürkdschü, der ebenso berühmte Musannif, um einen Teppich zu bestellen, der Eigentum seines Freundes Mazak, des jungen Kutubi, werden sollte. Ijar sprach:

»Ich habe eigentlich keine Zeit zu dieser Arbeit, jedoch weil du es bist, will ich sie übernehmen. Sie ist für Mazak bestimmt, dem meine Achtung angehört; darum werde ich dir nicht etwas Gewöhnliches, sondern das Beste liefern, was ich liefern kann.«

Nach einiger Zeit kam Yussuf el Kürkdschü wieder, um die begonnene Arbeit zu betrachten. Als er dies getan hatte, sagte er:

»Ich bin unzufrieden mit dir, o Ijar. Ich will ein Muster, das allen Leuten, besonders aber den Packträgern und Eselsjungen gefällt; du aber scheinst mich nicht verstanden zu haben.«

Da antwortete der Teppichweber:

»Du hast diese Arbeit für Mazak, den Kutubi, bestimmt, der weder Lastträger noch Eselsjunge ist, und wenn du glaubst, daß meine Kunst um das  Wohlgefallen der Verständnislosen zu buhlen habe, so irrst du dich. Laß mich machen, wie ich will; du wirst zufrieden sein!«

»Was ist es, was du willst?« fragte Yussuf.

»Einen Zauberteppich, der jeden Fuß, der ihn betritt, zum Pfad der Liebe lenkt. Ich webe ihn aus Fäden, die nie vergehen, sondern ewig währen.«

Diese Versicherung genügte dem Kürkdschü; er ging beruhigt fort. Aber als er nach einigen Tagen wiederkehrte, um die fortschreitende Arbeit in Augenschein zu nehmen, verfinsterte sich sein Angesicht, und er sprach:

»Ich sehe Gestalten, die mir nicht gefallen und auch keinem andern gefallen werden! Und ich sehe den Untergrund gefüllt mit Sprüchen der Weisheit, der Liebe und Barmherzigkeit, die das Auge des Beschauers stören. Ich bitte dich, ja nicht in dieser Weise fortzufahren!«

Da schaute der Weber ihn ernst an, schüttelte verwundert seinen Kopf und erwiderte:

»Ich habe dich für einen Kenner meiner Kunst gehalten und geglaubt, daß du Vertrauen zu mir hegest. Sollte ich mich geirrt haben? Willst du ein Werk von mir, so störe sein Entstehen nicht, sondern warte mit deinem Urteil, bis es fertig ist. Kannst du das aber nicht, so gehe in den Basar, wo man mit Schmerzen auf die Käufer wartet und heute verschachert, was morgen schon zerrissen wird.«

Der Kürkdschü entfernte sich schweigend. Er war nicht mit Ijar einverstanden, obgleich er ihm nichts entgegnen konnte. Aber als er zum drittenmal kam und seinen Blick auf den nun halbfertigen Teppich fallen ließ, rief er aus:

 »Maschallah! Was sehen meine Augen! Du füllst trotz meines Wunsches den Untergrund noch immerfort mit unwillkommenen Worten, und die Gestalten, die auf ihm entstanden sind, werden das Mißfallen jedes wahren Gläubigen erregen! Kürze das Werk und füge schnell den Rand hinzu! Da ich es bestellt habe, werde ich es behalten, obgleich es mir nicht gefällt. Zwar wird der Teppich nun kürzer als ich dachte, aber auf dem Basar sind genug andere zu haben, die ich für Mazak, den Kutubi, hinzufügen kann, damit er befriedigt werde.«

Da erhob Ijar sich von seiner Arbeit, lächelte wehmütig und sprach:

»So hast du also auch mir nur Ware des Basars zugemutet, und mich für einen Sohn gewöhnlichen Geschmacks gehalten! Wäre ich das, so säße ich bei den andern auf der Ladenbank und müßte mich wie sie um die Käufer heiser schreien. Aber ich webe nach Gedanken, die nicht zu kürzen sind, und wenn ich fertig bin, so haben diese Gedanken eine Tat vollbracht. Gehe getrost hin und kaufe da, wo du nun kaufen willst! Du brauchst meine Arbeit nicht zu behalten und nicht zu bezahlen. Nicht mein Geschäft, sondern Allah sorgt für mich!«

Yussuf el Kürkdschü entfernte sich zögernd, begleitet von der Ahnung, daß er töricht gehandelt habe. Ijar aber sandte den Teppich, als er ihn vollendet hatte, an El Akle, den weisesten der Kalifen. Dieser ließ ihn vor seinem Thron ausbreiten, rief die Großen seines Reiches zusammen und sprach, als sie vor dem Teppich standen:

»Betet die heilige Fatha, und laßt euch dann auf  dieses Gewebe nieder! Es wurde mir gesagt, daß es ein Teppich der Beratung sei. Ich will ihn prüfen.«

Da trat der Großwesir hervor und sagte:

»Wolltest du nicht die heilige Fahne des Propheten entfalten, um die Lehren des Islam auf den Spitzen unserer Schwerter hinaus in alle Welt zu tragen? Laß uns beraten, ob es der Wille Allahs ist!«

»Es sei euch gewährt,« antwortete der Kalif, »kniet auf den Rand des Teppichs, um zu beten!«

Sie gehorchten alle. Der Teppich war von grauer Farbe, und nichts, kein Spruch, kein Bild auf ihm zu sehen. Aber kaum sprachen sie dem Vorbeter die ersten Worte der Fatha nach, so begann er sich zu beleben. Der Spiegel des Gewebes füllte sich mit Dunkel, auf dem, goldig glänzend, Spruch um Spruch in der Reihenfolge erschien, in der sie von Ijar gewebt worden waren. Die grüne, wehende Fahne des Propheten wuchs hervor, und um sie scharten sich alle die Gestalten, die Yussuf el Kürkdschü nicht gefallen hatten: heulende und tanzende Derwische, Softas, Ulemas, Missionare, stürzende Säulen, Tempelmänner. Das alles kam und stand deutlich vor den Augen der Betenden, bis sie die letzten Worte der Fatha sprachen:

»Und führe uns nicht den Weg der Irrenden!«

Kaum waren diese Worte gesprochen, so begannen die Gestalten sich zu verwandeln, und zwar waren es grad so viel wie es Beter gab, und jeder von diesen hatte sein eignes Bild grad vor sich stehen, ihm ähnlich, zum Erstaunen ähnlich, aber doch das Zerrbild seines eignen Glaubens. Da sprang der Vorbeter erschrocken auf und rief:

 »Nein, nein, das bin ich nicht! O Allah, gib, daß ich ein andrer bin!«

Da stieg El Akle, der Kalif, von seinem Thron herab, stellte sich auf die Mitte des Teppichs und sprach:

»Ihr seid es alle, wie ihr euch hier seht. Es zeigt der Teppich euch die Züge eures Glaubens. Habt nun wohl acht, was jetzt geschehen wird!«

Sie sahen zu ihm auf, voller Erwartung, was nun geschehen werde. Sein Gesicht verwandelte sich; seine Gestalt wurde eine andre; nicht mehr der Kalif, sondern Ijar, der Weber, stand auf seinem Teppich. Er erhob gebieterisch seine Hand und sprach:

»Tretet zurück; ihr habt genug gesehen! Wenn dieser Teppich euch ein besseres Bild von eurem Glauben zeigt, dann ist es euch erlaubt, die Fahne des Propheten zu entfalten. Ihr seht jetzt meinen Geist, der hier bei seinem Werke lebt. Ich lege es in Allahs Tempel nieder. Geht hin, so oft ihr euch beraten wollt! Mein Geist wird dort euch stets die Wahrheit sagen!«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so war er wieder verschwunden und mit ihm der Teppich vor ihren erstaunten Augen. Am andern Tag aber verbreitete sich das Gerücht, daß in der Moschee zu Meschhed Hosseïn ein großer, grauer Teppich unter der Gebetsnische liege, den man dort nicht entfernen könne. Er sei unsichtbar über Nacht gekommen, und niemand habe ihn gebracht; es seien alle Wächter der Moschee bereit, dies zu beschwören.

Karl May

Dieser Text stammt aus dem Nachlass von Karl May. Näheres dazu hier

Dienstag, 20. Oktober 2015

Der Böxenwolf

Der Werwolf von Neuses
(Wikipedia)

Eine Abart des Werwolfs ist der sogenannte Böxenwolf; das ist ein Mensch, der mit dem Teufel im Bunde steht und durch Umschnallen eines Gürtels ein riesenstarker Wolf wird, um andere Leute zu quälen. Besonders liebt er es, denselben auf den Rücken zu springen und sich eine Strecke weit tragen zu lassen. Im Schaumburgischen giebt es wohl kein Dorf, wo sich nicht Jemand fände, dem dieß schon begegnet sein soll. Auch er wird durch Verwundung erkannt. – Der Name scheint auf das plattdeutsche böxen – Hosen – zurückzuführen und demnach einen Wolf zu bezeichnen, der eigentlich Hosen trägt, also einen männlichen Werwolf, dem sich vielleicht der von Grimm besprochene rheinisch-westfälische Uetterbock – Euterbock - als weiblicher zur Seite stellt (?).

Dr. Wilhelm Hertz
Der Werwolf
Beitrag zur Sagengeschichte
Stuttgart, 1862

Sonntag, 18. Oktober 2015

Fabel vom Storch und dem überschlauen Wolf


Ein Storch landete nach seinem langen Flug von Afrika entkräftet und müde neben dem Teich auf der großen Wiese. Sofort schlief er ein. Ein Wolf, der im Vorbeikommen den Storch sah, überlegte kurz, ob er ihn fressen sollte. Mit einem Blick auf die quakenden Frösche im Teich sagte er: Nein, den dürren, mageren Vogel mag ich mir jetzt nicht einverleiben. Ich warte noch ein bisschen, bis er sich wieder Fleisch an die Knochen gefressen hat. Dann wird er mir eine gute Mahlzeit sein.

Als der Storch am nächsten Tag erwachte und die Frösche im Teich hörte, begann er sofort, sich die besten herauszusuchen und zu verschlingen. Bald war er wieder kräftig und stand gut im Fleisch. Dem Wolf lief das Wasser im Mund zusammen, als er den Storch so sah. Er lief hin und wollte ihn fressen. Allein der Storch hob in aller Seelenruhe ab, flog noch ein paar Runden über dem Teich, in dem nur nur noch vereinzelt Frösche quakten und zog weiter. Der Wolf hatte das Nachsehen.

Horst-Dieter Radke

Samstag, 17. Oktober 2015

Von der Libelle, dem Frosch und dem Storch



»Du bist zu Höherem geboren«, sprach die Libelle, gerade aus dem so engen Puppenleib geschlüpft, zu sich selbst und stieg am Schilfhalm bis zur Spitze empor.
»Sie ist zu Höherem geboren, sagt sie«, sinnierte darüber der Frosch, die Augen fest auf das Insekt gerichtet. »Das verspricht ja ein Festmahl zu werden.«
»Stimmt«, ließ sich der Storch vernehmen und schnappte sich den Frosch just in dem Moment, als er auf dem Sprung zur Libelle war.

Und die Moral: Hör nicht auf dein Essen, wenn es spricht.

Wolf P. Schneiderheinze

Dienstag, 6. Oktober 2015

Habicht und Nachtigal

Der Habicht fasste die Nachtigall mit seine Krallen und flog mit ihr davon. Der Singvogel schrie und wehklagte laut über sein Schicksal. Da sprach der Habicht zu ihr: »Wozu schreist du, Törin? Glaubst du, dass dies etwas an deiner Situation ändert? Du bist jetzt in meiner Macht, weil ich stärker bin als du. Ob ich dich nachher töte und esse oder dich wieder freilasse, das liegt ganz in meinem Belieben. Du kannst zu deinem Unglück nur noch die Schande tragen, wenn du nicht einsichtig bist.«

Frei nach Hesiod (Werke und Tage 202-212)

Montag, 5. Oktober 2015

Der Holzwurm

Ein Holzwurm suchte seine Speis
In alten Bücherschränken.
Und lang beschäftigte sein Fleiß
Sich blos mit morschen Bänken.

Auf einmal aber fiel ihm bey,
An Bücher sich zu wagen;
Er fande daß es besser sey
Alß Bretter zu benagen.

Ein Alter schmutziger Roman,
War seine erste Beute
Dann fiel er den Menantes an,
Und Stegfrieds Helden Streite.

Nach diesen, weil ihm ungestört
Hier sein Gewerbe bliebe:
Nagt er ein Buch von großem Wehrt
Mit schadenfrohem Triebe.

Als drauf der Herr nach langer Zeit
Zu seinen Büchern nahte:
So schimpft’ er voll von Zorn und Neid
Auf die verwünschte Made.

»Du Frevler kannst dich unterstehn
Mir dieses Buch zu schänden.
Und schonend mit ihm umzugehn,
Hat ichs selbst nie in Händen!«

Mit spöttischem Gelächter schrie
der Wurm aus seinen Rizen:
»Du nüzest diese Buch ja nie,
Und darum wollt ichs nüzen!«

***

Ihr Kinder seht euch fleißig vor
Vor einem solchen Streite.
Sonst sagt der Holzwurm euch ins Ohr,
Ihr seyet faule Leute!

Belustigung für die Jugend in Fabeln und Erzählungen
von Christian Gottlieb Göz
Stuttgart, bey Christoph Friedrich Cotta, 1779

Donnerstag, 1. Oktober 2015

Die Geschichte von der Krähe, dem Hirsch und dem Schakal

In Madhyadesha gab es einen großen Wald, der Champakavati genannt wurde. Darin lebten schon lange ein Hirsch und eine Krähe zusammen und empfanden große Zuneigung füreinander. Einem umherschlendernden Schakal fiel der Hirsch auf, der einen satten und prallen Körper besaß.

Der Schakal überlegte: »Oh. Wie komme ich an dieses köstliche Fleisch? Nun, zunächst muss ich sein Vertrauen gewinnen.«

Mit diesen Gedanken näherte er sich dem Reh und sagte: »Freund, geht es dir gut?«

Das Reh fragte: »Wer bist du?«

Der Schakal antwortete: »Ich bin ein Schakal und heiße Kshudrabuddhi. Ich lebe in diesem Wald ohne Freunde oder Verwandte – ein trostloses Leben. Jetzt finde ich einen Freund in dir und fühle mich wieder den Sterblichen zugehörig. Ich werde nun immer dein Freund sein.«

Der Hirsch sagte: »So soll es ein.«

Später, nachdem der Sonnengott mit seinem Strahlenkranz untergegangen war, gingen beide zur Wohnung des Hirsches. Dort saß auf dem Ast des Baumes Champaka die Krähe Subuddhi, der alte Freund des Hirsches. Als die Krähe die beiden zusammen kommen sah, sagte sie: »Freund Chitragreeva, wer ist der Andere?«

Der Hirsch antwortete: »Das ist ein Schakal. Er hat den Wunsch, unsere zu unserer Freundschaft zu gehören.«

Die Krähe sagte: »Freund! Die Freundschaft mit einem, der ganz plötzlich erscheint, kann nicht richtig sein.«

Einem, dessen Familie und Charakter nicht bekannt sind,
darf Schutz nicht gewährt werden.

Aus dem Hitopadesha
Übersetzung (aus dem Englischen): H.D.Radke

Mittwoch, 30. September 2015

Falke und Sperling


Nummer 2 handelt vom Adler, oder wohl richtiger Falken und Sperling. Auch diese hatten mit einander Freundschaft geschlossen. Eines Tages machte der Sperling dem Falken in seiner Wohnung einen Besuch. »Schön, dass du kommst,« sagte der Falke, »warte hier ein Weilchen auf mich, ich will ausgehen und etwas für uns zum Essen kaufen«. So erhob sich denn der Falke in die Lüfte, und als er unten einen Mann vorübergehen sah, der eben in einem Schlächterladen ein halb Pfund Fleisch gekauft hatte, stiess er hernieder und raubte es ihm aus der Hand. Dann flog er zurück in seine Wohnung, und er und der Sperling brachten den Tag essend und trinkend vergnügt mit einander zu.

Nach einiger Zeit machte der Falke dem Sperling einen Gegenbesuch in des letzteren Wohnung. »Schön, dass du kommst«, sagte der Sperling, »warte hier ein Bischen auf mich, ich will auch auf die Strasse gehen und etwas für uns zu essen kaufen«. So flog er denn auf die Strasse und sah einen Mann, welcher ein viertel Pfund Fleisch in der Hand hielt, welches er soeben in einem Schlächterladen gekauft hatte. Er flog also hin, um es fortzunehmen; da er aber so klein und schwach war, so konnte er es dem Mann nicht entreissen, sondern er sass nur darauf mit unruhig flatternden Flügeln. Der Mann aber sprach: »Vor einiger Zeit, als ich mir ein halbes Pfund Fleisch gekauft hatte, hat ein Falke es mir geraubt, und heute kommst du, mir dies viertel Pfund Fleisch zu entreissen? Warte! ich will dir einen Denkzettel erteilen.« So sprechend, riss er dem Sperling seine sämtlichen Federn aus, und warf ihn dann auf die Erde. Inzwischen wunderte sich der Falke, dass der Sperling gar nicht zurückkam. So flog er denn aus, ihn zu suchen, und nicht lange; so fand er den armen Wicht nackt auf der Erde liegen, unfähig, die Flügel zu regen. Er erschrak und- fragte ihn: »Was ist dir denn passiert?« »Ach,« erwiderte der Sperling, »der Mann mit dem Fleisch wollte durchaus keine Vernunft annehmen; da habe ich mir eben den Rock ausgezogen, um ihm eine tüchtige Tracht Prügel zukommen zu lassen, dem Buben!«

Auch diese kleine Fabel zeigt eine entschiedene Localfarbe; nichts ist in den Strassen chinesischer Städte gewöhnlicher, als die sich zu einer Rauferei Anschickenden sich zunächst ihrer sackartigen, weiten, jede freiere Bewegung hemmenden Gewänder entledigen zu sehen, um dann den ersten Angriff gegen den Zopf des Gegners zu richten, gerade wie in unserer Geschichte der Fleischkäufer dem Sperling die Federn ausreisst.

Arendt, C.
Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke
In: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang, 1891

Donnerstag, 17. September 2015

Die Regenwürmer

 
Ein Maulwurf trennt und hebt den Grund.
Ein Regenwurm, der Noth empfund,
Warnt seine Brüder, als Beschirmer.
Ein jeder folget seinem Rath,
Und kriecht herfür. Was bringt die that?
Ein Hun erscheint, und frißt die Würmer.

***

Die Frucht, für ungewisse Noth,
Bringt manchem den gewissen Tod.

Neue Fabeln und Erzählungen
nebst einer Vorrede,
Sr. Wohlgeb. Herrn
Daniel Wilhelm Triller
Phil. er Med. Doct. Königl. Pohln. und Churfürstl. Sächs. Hofraths, profess. Med. Publ. Ord. auf der Universität zu Wittenberg, und der Akademie der Wissenschaften zu Bologna Mitglieds.
Leipzig und Bremen, bey Hermann Jägern. 1752

Donnerstag, 10. September 2015

Der Pfau


Einstmals gingen ein Pfau und eine Pfauhenne freundschaftlich zusammen, und da sie sich nicht begatten konnten, machte der Pfau die Bewegung des Begattens und ging dreimal um die Henne herum. Da er dabei eine Thräne vergoss, so fing die Henne diese, ehe sie zur Erde fiel, in ihrem Schnabel auf und verschluckte sie.

Einst dachte der Pfau so: »Kein Geschöpf ist so schön wie ich; indem die Menschen meine Federn anstecken, erlangen sie einen Rang, und mein Futter sind giftige Schlangen«. Während er so sich brüstend dort stand, kam plötzlich ein Geier listig herbei und holte ihn. So war die List sehr mächtig.

Der Pfau ist in der Fabel oft das Bild der Eitelkeit und Thorheit, wie in der von Schiefner, Mélanges asiatiques Bd. VIII, S. 101 mitgeteilten Geschichte, aber andererseits auch das symbol der geistigen Schönheit, Reinheit und Tugend, wozu m,an die Erzählung von dem Pfauenkönig Suvarnaprabhase (Goldglanz) vergleiche.

Aus einer unveröffentlichten Handschrift der Königl. Bibliothek zu Berlin mitgeteilt von B. Laufer
(Fünf indische Fabeln, aus dem Mongolischen von Hans Conon von der Gabelentz)
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Bd. 52 (1898)

Donnerstag, 27. August 2015

Der Kukuk und die Henne

Ein Kukuk wollte eine Henne über die Art und Weise belehren, wie sie ihre Jungen warten und pflegen sollte.
Die Henne lächelte und sagte:
»Wie kannst du mich die Methode lehren, wie ich meine Küchlein erziehen osllte, da du selbst deine eigenen Kinder in eine fremde Wiege legst, und von andern Vögeln erziehenläßt.

Auf diese Fabel passen jene pädagogischen Schriftsteller, welche die glänzendsten Theorien über Erziehung schreiben, selbst aber nie ein Kind erzogen haben.

Joseph Kraus
Fabeln für unsre Zeiten und Sitten
Zweytes Bändchen
Strasburg und Mainz, 1801

Montag, 24. August 2015

Indische Fabeln von den zwei Raben


Ich hatte ihn bereits über eine Stunde mit all den Schnurren und Schwänken ergözt, die meine muntre Laune mir eingab, als sich zwey Aelstern auf die Bäume sezten, die uns beschatteten. Sie begannen ein so tösendes Gedatter, daß sie unsre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Keifen wol gar die Vögel wie’s scheint? sagte der Herzog. Ich möchte wol wissen, worüber sie eigentlich streiten. Ew. Durchlaucht, sagt’ ich zu ihm, erinnern mich an eine Indische Fabel, die ich im Bilpay, oder in einem andern Fabler gelesen habe. Der Minister frug mich, was das für eine Fabel sei, und ich erzälte sie ihm auf folgende Art:

»Es herrschte ehmals in Persien ein guter Monarch, der, weil sein Verstand nicht ausgebreitet genug war, um seine Staaten selbst zu beherschen, dem Groswessir diese Sorge überlies. Dieser Minister Namens Atalmuc hatte einen sehr hervorragenden Gesit. Er trug die grosse Bürde dieses Reichs, ohne von selbiger niedergedrükt zu werden; er verbreitete druch selbiges den goldenen Frieden; verstand sogar die Kunst, die Königsgewalt so algeliebt als algefürchtet zu machen, und die Untertanen besassen in einem dem Fürsten biedertreuen Wessir eine huldreichen Vater.
Atalmuc hatte unter seinen Geheimschreibern einen jungen Kaschemirier, namens Zeangir, dem er gewogner war als allen übrigen. Er fand Behagen an seiner Unterhaltung, führte ihn mit sich auf die Jagd, und entdekte ihm die geheimsten Gedanken seiner Seele.
eines Tages, als sie mit einander in einem Gehölze jagten, ward der Wessir auf einem Baume zwei Raben gewahr, die mit einander krächzten, und sagte zu seinem Schreiber: Ich möchte wol wissen, was sich diese Vögel in ihrer Sprache sagten. Dein Wunsch kan erfült werden, Herr, hub der Kaschemirier an. Und wie das? rief Atalmuc. Weil ein in der Kabala wolerfarner Derwis mich die Sprache der Vögel gelehrete hat, versetzte Zeangir. Befielst’u, so will ich sie belauschen, und Dir von Wort zu Wort hinterbringen, was ich vernommen.
Der Wessir willigte darein. Der kaschemirier nahte sich den Raben, und schien ihnen ein aufmerksames Ohr zu liehen. nach einiger Zeit kam er wieder zum Minister zurük. Soltest’u’s wol glauben, Herr, sprach er, daß ihr Gespräch uns betrift? Nicht möglich! sagte der Persische Minister. Und was sagen sie von uns?
Der eine dort, versetzte der Geheimschreiber, sagte: Ha! a ist der grosse Wessir Atalmuc. Dieser alspähende Adler, der über Persien, als über sein Nest, seine schirmende Fittiche ausspreitet, und unabhlässig für dessen Erhaltung wacht. Zur Erquickung von seinen mühevollen Arbeiten jagt er in diesem Gehölz mit seinem treuen Zeangir. Wie glüklich dieser Schreiber, einem Herrn zu dienen,d er unendliche Güte für ihn hat! Nicht so rasch geurteilt! fiel ihm der andre Rab’ ein. Preise den Kaschemirier nicht so selig. Zwar spricht Atalmuc mit ihm wie der Freund zum Freunde, schüttet in seinen Busen seine geheimsten Gedanken aus, auch zweifl ich nicht, daß er des Vorhabens ist, ihn dereinst auf eine hohe Staffel der Ehre zu sezen, doch eh’ dies dereinst heranrükt, ist Zeangir Hungers gestorben. Der arme Unglükliche wont in einem kerkerähnlichen Kämmerlein, wo’s ihm am Allernotwendigsten gebricht. Mit Einem Worte, er lebt das elendeste aller Leben, obwol es keiner der Höflinge gewahret. Der Groswessir läßt sich’s nicht zu Sinne kommen, ihn zu fragen: Hast Du auch zu Deines Lebens Nahrung und Notdurft? sich gnügend, Wolwollen für ihn zu hegen, läßt er ihn einen Raub der Armut.

Hier endete ich meine Fabel, um zu sehn, wie der Herzog sie aufnemen würde. Dieser frug mich lächelnd, was diese Fabel auf Atalmuc für Eindruk gemacht, und ob der Groswessir die Künheit seines Schreibers nicht übelgenommen. Nein, Gnädiger Herr, versezt’ ich, durch diese Frage ein wenig betroffen, vielmehr sagt die Fabel, er habe ihn mit Woltaten überhäuft. Ein besonders Glük, versetzte der Herzog mit ernster Mine. Mancher Minister möchte dergleichen Winke nicht gut heissen. Doch, fuhr er fort, indem er den faden unsrer Unterredung plötzlich abris, und aufstand, ich glaube, der König wird bald aufstehn. meine Schuldigkeit ruft mich zu ihm. Mit diesen Worten eilte er starkes Schrittes nach dem Pallaste, ohne weiter mit mir zu reden, und wie’s schien, über meine Indische Fabel gar schlecht erbaut.

Gil Blas von Santillana,
von Alain-René le Sage
3. Band, Berlin 1779
Bey Christian Friedrich Himburg

S. 229 ff.

Mittwoch, 19. August 2015

Wilhelm & Jacob Grimm: Kinder & Hausmärchen


Die »Kleine Ausgabe« aus dem Jahr 1825 ist eine lohnende Anschaffung, nicht nur für Märchenfreunde. Warum, das ist dort ausführlich begründet.

Samstag, 15. August 2015

Spinnenreim



Spinne am Fenster
bannt keine Gespenster
doch Fliegen und Mücken
kann sie gut verdrücken.

H.D.Radke

Mittwoch, 12. August 2015

Fabel von der kleinen Porzellantänzerin

Die kleine Porzellanfigur, das Mädchen als Tänzerin auf den Zehenspitzen des linken Beins stehend, das andere nach hinten weggestreckt, die beiden Arme seitwärts haltend um das Gleichgewicht auszubalancieren, war es leid, Tag für Tag so auszuharren und darauf zu warten, das erstaunte Ausrufe dafür sorgten, sie aus dem Schrank zu nehmen, herumzureichen und unter bewundernden Bemerkungen von Hand zu Hand zu reichen bis das letzte Paar sie dann sorgsam zurück in den Schrank stellte und die Glastür schloss, rief endlich die Fee der kleinen Wunder und bat, als diese erschien und ihr einen Wunsch zusprach, aus der Starre erlöst zu werden, was die Fee ihr auch umgehend erfüllte, wobei die Porzellantänzerin um ein Haar gestürzt wäre, denn ohne die Steifheit des Materials war es nicht so leicht, das Gleichgewicht zu halten, so dass sie zunächst ein wenig umher ging, um sich an die neue Situation zu gewöhnen, was ihr bald gut gelang, sodass sie erneut probierte, auf den Zehen des linken Beines stehend die Tanzhaltung einzunehmen, was auch nach einer Weile ging, nur nie für lange, weshalb sie am Morgen traurig und resigniert neben dem Sockel saß, auf dem sie früher so prächtig gestanden hatte und der Diener, der in den Raum trat um ihn für die Gesellschaft herzurichten rief, das sie kaputt sei und sofort ersetzt werden müsse, wonach gleich ein junger Kerl gerannt kam, sie griff, in einen Korb warf, eine neue Porzellantänzerin hinstellte und die alte aus dem Raum trug, zuletzt auf den Müll warf, weil ein trauriges Mädchen niemand gerne sehen möchte und womit bewiesen wäre, das Wünsche gut überlegt und nicht schnell ausgesprochen sein sollten.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 11. August 2015

Der Elephant und der Biber

Ein Elephant und ein Biber sprachen einsmals von dem Laufe der Welt mit einander, sowohl in Ansehung der Thiere, als der Menschen. Unter andern Dingen fragte der Biber den Elephanten, welche Herrlichkeit er sich am liebsten wünschen mögte, entweder Reichtum, oder Weisheit? Der Elephant antwortete: ich wollte mir wohl Weisheit wünschen, wenn ich nicht sähe, daß so viele weise Sooicitanten und studirte Leute mit niedergeschlagenen Köpfen in den Vorgemächern der Narren stünden.

aus: Moralische Fabeln
Aus dem Dänischen des Herrn Barons von Holberg
übersetzt durch J.A.S.K.D.C.
Kopenhagen, 1761

Montag, 10. August 2015

Mensch und Mücke

Herr Olombelona und die Mücke Rekehitsa hatten Gefallen aneinander; so schlossen sie denn auch Blutsbrüderschaft; als Rekehitsa vom Blute des Herrn Olombelona trank, mundete dies ihr vortrefflich. Und so erzählte sie nachher den anderen Mücken: »Wir mühen uns allemal ab, Blut ausfindig zu machen. Da wollen wir künftighin doch nicht das unseres Bruders vergessen, das ausgezeichnet schmeckt.« Eine andere Mücke antwortete: »Laßt uns ihn besuchen und einmal sein Blut proben; dann ersparen wir ihm die Mühe, uns Reis zu kochen, Wasser zu holen und ihn zu waschen, wir bitten ihn da nur um ein recht einfaches Mahl.«

Herr Olombelona war eingeschlafen und schnarchte, als die Besucher bei ihm erschienen; sie baten nach allen Regeln des Anstands um Eintritt, doch Herr Olombelona hörte sie nicht und antwortete nicht. »Bss! Bss!« machten die Mücken, »laßt uns hineingehen.« Damit flogen sie hinein, ließen sich auf dem Menschen nieder und tranken sein Blut. Plötzlich fuhr Herr Olombelona aus dem Schlafe auf und rief wütend: »Wartet! Euch werde ich kommen! So benehmt ihr euch also einem Blutsbruder gegenüber?« Und tapp, tapp! streckte er eine Mücke nach der anderen nieder.

Seither, so geht die Mär, sind Menschen und Mücken keine Freunde mehr. Sieht der Mensch eine Mücke, schlägt er sie tot; trifft aber die Mücke einen Menschen, sticht sie ihn und saugt sein Blut.

Paul Hambruch
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
Eugen Diederich Verlag, Jena, 1922.

Mittwoch, 5. August 2015

Aus den Fuchsfabeln

 ain bei‘-spil fun ain leb un‘ andere tir

wenn es ainem hebt an, übel zu gen,
sol er ale handel un‘ wandel losen sten.

ain leb [= Löwe] war krank un‘ wild-haser kamen her.
das wild-haser kam mit seinėn scherfen zen,
der leb het es gern gehat un‘ kunt nit far im besten.
der-noch docht er, er wolt dem esel kumen bei‘,
der esel wert sich seiner mit seinen fisen gar vrei‘,
er must vun im losen ab.
er maint, er wer doch nit ganz schab-ab,
er wolt sich uber den fuks machen.
er tets aber nit der-lachen,
den mit seinėm schwanz tet er sein augen fer-blenden,
der-noch schlag er in mit fisen un‘ henden.

ain bei‘-spil, wen ainem das gluk nit wil bei-sten,
sol er ales vor-uber losen gen.
den ungluk kumt mit houfen,
darum sol er sich mit nimant schlagen noch raufen,
auch ver-woren sein mit handeln un‘ kaufen.


Berechja ben natronaj haNakdan
Mišle Šu‘alim (Fuchsfabeln)
Übertragung: Koppelman

Montag, 3. August 2015

Italienische Fabeln der neueren Zeit

Den Styl der äsopischen Fabeln des Phädrus haben in neueren Zeiten, mit mehr Leichtigkeit und Anmuth, als im sechzehnten Jahrhundert, Paresi und Verdizotti, der Abate Roberti und Don Lorenzo Pignotti nachgeahmt.

Friedrich Boutewek
Geschichte der Poesie und Beredsamkeit
seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts
Zweiter Band
Göttingen, bey Johann Friedrich Röwer, 1802

Freitag, 31. Juli 2015

Der Schmetterling und die Biene


Ein bunter Schmetterling wiegte sich stolz auf einer Blume. Eine Biene flog auch dahin, um Honig zu sammeln. Der Schmetterling blickte sie mit Verachtung an, und sagte:

»Du haariges Ding! du wagst es, mir an der Seite zu stehen. Sieh, wie meine Flügel glänzen; jedermann hascht nach mir.« – »Jedermann hascht nach dir?« versetzte die Biene: »ich sehe nur Kinder nach dir laufen. Du glänzest zwar; ich aber arbeite. Komm’ in mein Haus, schau meine Arbeit, und verachte mich nicht mehr.« Der Schmetterling schwieg und flog davon.


Diese Fabel ist für euch, ihr Herrchen! die ihr nur die Geschicklichkeit besitzet, von Toilette zu Toilette, wie Schmetterlinge, zu flattern.

Joseph Kraus
Fabeln für unsre Zeiten und Sitten
Erstes Bändchen
Strasburg und Mainz, 1801

Dienstag, 28. Juli 2015

Die beiden Tauben


Eine Fabel nach Lafontaine

Zwei Täubchen liebten sich mit zarter Liebe.
Jedoch, der weichen Ruhe überdrüssig,
Ersann der Tauber eine Reise sich.
Die Taube rief: »Was unternimmst du, Lieber?
Von mir willst du, der süßen Freundin, scheiden:
Der Uebel größtes, ist's die Trennung nicht?
Für dich nicht, leider, Unempfindlicher!
Denn selbst nicht Mühen können und Gefahren,
Die schreckenden, an diese Brust dich fesseln.
Ja, wenn die Jahrszeit freundlicher dir wäre!
Doch bei des Winters immer regen Stürmen
Dich in das Meer hinaus der Lüfte wagen!
Erwarte mindestens den Lenz! Was treibt dich?
Ein Rab' auch, der den Himmelsplan durchschweifte,
Schien mir ein Unglück anzukündigen.
Ach, nichts als Unheil zitternd werd' ich träumen
Und nur das Netz stets und den Falken sehn.
Jetzt ruf' ich aus, jetzt stürmt's: mein süßer Liebling,
Hat er jetzt alles auch, was er bedarf,
Schutz und die goldne Nahrung, die er braucht,
Weich auch und warm ein Lager für die Nacht
Und alles Weitre, was dazu gehört?« –
Dies Wort bewegte einen Augenblick
Den raschen Vorsatz unsers jungen Toren;
Doch die Begierde trug, die Welt zu sehn,
Und das unruh'ge Herz den Sieg davon.
Er sagte: »Weine nicht! Zwei kurze Monden
Befriedigen jedweden Wunsch in mir.
Ich kehre wieder, Liebchen, um ein Kleines,
Jedwedes Abenteuer, Zug vor Zug,
Das mir begegnete, dir mitzuteilen.
Es wird dich unterhalten, glaube mir!
Ach, wer nichts sieht, kann wenig auch erzählen.
Hier, wird es heißen, war ich; dies erlebt' ich;
Dort auch hat mich die Reise hingeführt;
Und du, im süßen Wahnsinn der Gedanken,
Ein Zeuge dessen wähnen wirst du dich.« –
Kurz, dies und mehr des Trostes zart erfindend,
Küßt er – und unterdrückt, was sich ihm regt –
Das Täubchen, das die Flügel niederhängt,
Und fleucht. –

Und aus des Horizontes Tiefe
Steigt mitternächtliches Gewölk empor,
Gewitterregen häufig niedersendend.
Ergrimmte Winde brechen los: der Tauber
Kreucht untern ersten Strauch, der sich ihm beut.
Und während er, von stiller Oed' umrauscht,
Die Flut von den durchweichten Federn schüttelt,
Die strömende, und seufzend um sich blickt,
Denkt er, nach Wandrerart, sich zu zerstreun,
Des blonden Täubchens heim, das er verließ,
Und sieht erst jetzt, wie sie beim Abschied schweigend
Das Köpfchen niederhing, die Flügel senkte,
Den weißen Schoß mit stillen Tränen netzend;
Und selbst, was seine Brust noch nie empfand,
Ein Tropfen, groß und glänzend, steigt ihm auf.
Getrocknet doch, beim ersten Sonnenstrahl,
So Aug' wie Leib, setzt er die Reise fort
Und kehrt, wohin ein Freund ihn warm empfohlen,
In eines Städters reiche Wohnung ein.
Von Moos und duft'gen Kräutern zubereitet
Wird ihm ein Nest, an Nahrung fehlt es nicht,
Viel Höflichkeit, um dessen, der ihn sandte,
Wird ihm zuteil, viel Güt' und Artigkeit:
Der lieblichen Gefühle keins für sich.
Und sieht die Pracht der Welt und Herrlichkeiten,
Die schimmernden, die ihm der Ruhm genannt,
Und kennt nun alles, was sie Würd'ges beut,
Und fühlt' unsel'ger sich als je, der Arme,
Und steht, in Oeden steht man öder nicht,
Umringt von allen ihren Freuden, da
Und fleucht, das Paar der Flügel emsig regend,
Unausgesetzt, auf keinen Turm mehr achtend,
Zum Täubchen hin und sinkt zu Füßen ihr
Und schluchzt in endlos heftiger Bewegung
Und küsset sie und weiß ihr nichts zu sagen –
Ihr, die sein armes Herz auch wohl versteht!

Ihr Sel'gen, die ihr liebt, ihr wollt verreisen?
O, laßt es in die nächste Grotte sein!
Seid euch die Welt einander selbst und achtet
Nicht eines Wunsches wert das übrige!
Ich auch, das Herz einst eures Dichters, liebte:
Ich hätte nicht um Rom und seine Tempel,
Nicht um des Firmamentes Prachtgebäude
Des lieben Mädchens Laube hingetauscht!
Wann kehrt ihr wieder, o ihr Augenblicke,
Die ihr dem Leben einz'gen Glanz erteilt?
So viele jungen, lieblichen Gestalten,
Mit unempfundnem Zauber sollen sie
An mir vorübergehn? Ach, dieses Herz!
Wenn es doch einmal noch erwarmen könnte!
Hat keine Schönheit einen Reiz mehr, der
Mich rührt? Ist sie entflohn, die Zeit der Liebe – ?

Heinrich von Kleist

Freitag, 24. Juli 2015

Der Blinde und der Lahme

Von ungefähr muß einen Blinden
Ein Lahmer auf der Straße finden,
Und jener hofft schon freudenvoll
Daß ihn der andre leiten soll.

Dir, spricht der Lahme, beizustehen?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehen;
Doch scheint's, daß du zu einer Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.

Entschließe dich, mich fortzutragen,
So will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein helles Auge deines sein.

Der Lahme hängt, mit seinen Krücken,
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.

Du hast das nicht, was andre haben,
Und andern mangeln deine Gaben;
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.

Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die Natur für mich erwählte,
So würd' er nur für sich allein
Und nicht für mich bekümmert sein.

Beschwer die Götter nicht mit Klagen!
Der Vorteil, den sie dir versagen
Und jenem schenken, wird gemein:
Wir dürfen nur gesellig sein.

Christian Fürchtegott Gellert

Freitag, 10. Juli 2015

Der Bauer und das Rothkehlchen

Aus dem Englischen

Einst schoß ein Bauer, sein Getraide zu erhalten, unter einen Haufen räuberischer Sperlinge, und unter den übrigen traf auch das tödtende Bley ein armes Rothkehlchen. Ach! schrie der sterbende Sänger mit schwacher wehklagender Stimme, Ungerechter! Du tödtest mich? Verdiente mein melodischer Gesan wol diese Strafe? Wann hab ich Dich beleidigt? War es nicht meine Stimme, die Dich am frühen Morgen ergötzte? Mein Futter raubte ich Dir nicht, ich sammlete nur das Gewürme, was unter Deinen Füßen kroch, verdiente dieses den Tod? – Ja, traurig ist Dein Schicksal, versetzte der Bauer, ich beklage Dich; allein was ist an Deinem Unglück schuld, als Deine Unvorsichtigkeit? Warum gesellest Du Dich zu den Dieben?

aus:
Litterarisches Portefeuille
Ein Beytrag zur Unterhaltung und Belehrung
Erstes Stück
Hamburg bey h.J. Matthiessen. 1786

Dienstag, 30. Juni 2015

Fabel vom Wolf

Ein Wolf viel jaemerlichen sprach:
Wâ sol ich nû belîben,
Sît ich dur mînes lîbes nâr
Muoz wesen in der âhte?
Darzuo sô bin ich geborn, diu schult, diun ist nicht mîn;
Vil manic man hât guot gemach,
den man siht valscheit trîben
unt guot gewinnen offenbâr
mit sündeclîher trâhte;
der tuot wirser vil, dan ob ich naem ein genslein.
Jân hab ich nicht, des goldes rôt
Zegebene umb mîne spîse,
des muoz ich rouben ûf den lip durch hungers nôt,
der valsch in sîner wîse ist schedelîcher, dan ich,
unt wil unschuldic sîn.


Süßkind von Trimberg

Sonntag, 28. Juni 2015

Der Hänfling und die Lerche

Ein Hänfling hörte oft in lehrbegierger Ruh
Den holden Nachtigallen zu;
Und einst, einst schlug die kleine Philomele
Mit ganz bezaubernd süßer Kehle
Das Chor der Vögel schwieg, entzückt durch jeden Ton,
Und Büsch’ und Bäume tanzten schon.
Die Schönen kamen um die Wette,
Die kleine Blonde, die Brunette;
Und nie ward dieser Zauberklang
Der flüchtgen Galathee zu lang;
Und Doris, die erst nicht den Thirfis leiden wollte,
Die bat nunmehr, daß er doch mit ihr gehen sollte;
Und da ihr lauschend Ohr den süßen Ton empfand,
Litt’ sie den Kuß auf Mund und Hand,
Und ließ, bey so entzückendem Vergnügen,
Den losen Schäfer willig siegen,
Und dabey noch der Freude Thränen sehn.
Wie konnte sie ihm widerstehn?
Ach Philomele sang zu schön!

Das kleine Ding hat gar zu feine Gaben;
Wie gerne möcht’ ich es in einem Käfig’ haben.

War auch der Hänfling da? Ja, auf dem nächsten Zweig,
Und lernte mehr und mehr, und ward empfindungsreich;
als eben, voller Neid, die Lerche, die itzt kam,
Den Hänfling und das Lied der Nachtigall vernahm.
Das Närrchen singt? rief sie. O eine schlechte Gabe!
Ich schwör, ob nicht der Kukuk besser singt,
Der Wiedehopf, die Aelster und der Rabe,
Als Philomelens Stimme klingt.
Und, schöner Hänfling, du
Weihst ihr die stille Abendruh?
Erregt ihr Lied wohl mehr, als ein verzärtelt Sehnen?
Wohl mehr, als Doris weiche Thränen?
O steig mit mir empor, und hör der Lerche zu!
Nein! rief der Hänfling, wie ich sehe,
Liebst du nur deine stolze Höhen,
Dein Lied ist mir zu schwer,
Von Philomelen lern ich mehr.

***

Du singst ein Heldenlied. Wird auch die Welt gebessert,
Wenn, was schon groß genug, dein Lied noch mehr vergrößert?
Was nützs der Erde denn, wenn du den Himmeln singst?
Dich in Gedanken stets hoch in die Wolken schwingst?
Du denkst: ich sing den Ewigkeiten.
O sing, ich bitte dich, doch erst für unsre Zeiten!
Die Nachwelt lobt dich warlich nicht,
Und lacht nur über dich und über dein Gedicht;
Denn, lieber Freund, wie Klopstock singst du nicht.
So bleibe doch im Thal, und sing, wie Philomele,
Dem Mensch mit edlem Trieb’ Empfindung in die Seele.
Schaff, daß es Nutzen bringt. Sing lehrreich, zärtlich, schön:
So wirst du dich bald groß, berühmt und glücklich sehn.
Setz dich zu Hagedorns und Gellerts Füßen nieder,
Und lerne ihnen ab. Sing selbst so schöne Lieder:
So folgt dir allgemein der größte Beyfall nach;
Wo nicht: so merke dir, was vor der Hänfling sprach.

Anonymus, aus:
Nachahmungen in Fabeln und Erzählungen
Nebst einem Anhange anderer Gedichte
Dresden und Leipzig
In der Gerlachischen Buchhandlung
1761

Dienstag, 23. Juni 2015

Kurze Geschichte der Fabel

(Neufassung)

Fabeln sind kurze, lehrhafte Erzählungen, in denen Tiere handeln und agieren. Es gibt sie in der Erzähltradition fast aller Völker. Mit zu den ältesten Fabelsammlungen gehört die indische Sammlung Pantschatantra, die vermutlich im 3.-2. Jahrtausend v. Chr. zusammen gestellt wurde. Die heute bekannten Texte stammen aber aus dem 3.-6. Jh. n. Chr. Fabeln sind auch aus dem alten Ägypten bekannt.

Ausgangspunkt in der europäischen Fabeltradition ist Äsop (um 600 v.Chr.). Zur mittelalterlichen Schullektüre gehörten lateinische Fabelsammlungen. Einer der ersten Fabeldichter, der die Mittelhochdeutsche Sprache nutzte, war der Stricker (13.Jh). Große Beliebtheit genoss die Fabel im Humanismus und in der Reformationszeit. Hans Sachs (1494-1576) und Martin Luther (1483-1546) bereicherten die Fabeldichtung nicht unwesentlich. Danach wurde die Fabel erst im 17. Jh. wieder populär, durch La Fontaine (1621-1695) in Frankreich und durch ihn angeregt im 18. Jh. auch in Deutschland. In dieser Zeit gab es eine Motivverschiebung: An Stelle der moralischen Belehrung trat nun die Betonung der bürgerlichen Lebensklugheit. Aus der Vielzahl der Fabeldichter des 18. Jahrhunderts sind von Friedrich von Hagedorn (1708-1754), Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) und Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) zu nennen.

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der sich mit seinen Fabeln wieder an Äsop orientierte, brachte die Fabel zu einem Höhepunkt und schloss diese Entwicklung weitgehend ab. Es gab danach zwar immer noch eine hohe und deutliche Produktion an Fabeln bis ins 19. Jh. hinein, aber sie wurde meist zur Belehrung von Kindern und Schülern eingesetzt, so z.B. von dem Pfarrer Wilhelm Hey (1789-1854).

Moderne Dichter des 20. Jahrhunderts griffen die Fabel gelegentlich auf. Beispiele finden sich bei Franz Kafka (1883-1924), Berthold Brecht (1898-1956), Wolfdietrich Schnurre (1920-1989).

Ausführlicheres über die Fabel ist hier zu finden.

Horst-Dieter Radke

Freitag, 19. Juni 2015

Der Uhu und die Lerche



Es saß ein Uhu lange Zeit
Im Schatten einer hohlen Eiche,
Der höchsten in dem deutschen Reiche,
In einer öden Traurigkeit.

Hoch über ihm ließ sorgenfrei
Sich eine muntre Lerche hören,
Und meldete der Sänger Chören,
Daß jetzt der Frühling nahe sey.
Ihr Lied dringt aus den heitern Lüften
In's grüne Thal, belebt die Triften.
Der Uhu horcht, und ächzt dabei,
Daß er nicht auch so fröhlich sey.

Die Ungeduld ermuntert ihn,
Sich aus dem Neste zu bemühen;
Die feige Lerche wollt' entfliehen,
Sie wollt' es noch, als er erschien.
Doch war der armen Lerche bange
So dauerte die Angst nicht lange,
Als sie zu ihrem Trost vernahm,
Daß er in Friede zu ihr kam.

Es schien dem Uhu zweifelsfrei
Das Lerchenfleisch noch nichts zu taugen,
Er schwur bei seinen großen Augen,
Daß er für jetzt nicht hungrig sey.
Die Neugier, sprach er, dich zu fragen,
Hat mich an diesen Ort getragen.
Bekenne, was die Ursach' ist,
Daß du beständig fröhlich bist?

Monarch der Eulen, sagte sie,
Wer stets gesunde Tage zählet,
Und fliegen kann, wohin er wählet,
Wie kann der trauren? Fragst du, wie?
Fiel ihr der Uhu in die Rede,
Du scheinst ja sonst mir ziemlich blöde,
Gedenkst du niemals an den Tod,
Noch was dir Herbst und Winter droht?

Ich denke, sprach sie, wohl daran,
Allein der Tod ist unvermeidlich,
Die Herbst- und Winternoth oft leidlich,
Und jetzt geht ja der Frühling an.
Ich leb' indessen nach der Lehre,
Die ich von jenem Schäfer höre,
Der dort im Grünen vor uns liegt,
Ein Weiser sey nie mißvergnügt.

Geh' nur, du kleine Närrin du,
Fiel der Bescheid aus, das sind Lehren,
Die für die Lerchen nur gehören;
Die Lerche flog dem Schäfer zu,
Und sang ganz heimlich auf der Reise:
Wer fröhlich seyn will, der sey weise.

*

Merkt, Freunde, was die Lerche spricht,
Und kehrt euch an die Uhu's nicht.

Magnus Gottfried Lichtwer


Donnerstag, 18. Juni 2015

Der Wolf und die zwei Bauern




Der Wolf mußte mit Schaden und Schande von der Wohnung des Fuchses abziehen, aber heimkehren wollte er nicht eher, als bis ihm sein Schmuck, der Zagel, gewachsen wäre. Nun ging er allein auf Abenteuer aus, sobald ihn sein unbändiger Hunger dazu trieb; das war aber nicht sehr lange, denn von dem Hochzeitsschmause war ja fast nichts in seinem Bauche geblieben. "Das ist wahr", sprach er bei sich, "der schlimme Fuchs hat dir manchen guten Bissen verschafft, doch was, ich werde mir schon auch ohne ihn helfen, habe ich doch die Schliche und Mittelchen ihm abgelernt!"

Da sah er zwei Bauern auf einem Wagen, die rührten Säcke in die Mühle. "Ha!" dachte er, "das sind Fische, du willst es jetzt gleich so machen wie der Fuchs!" Er lief auf einem Seitenweg dem Wagen voran und legte sich wie tot an die Landstraße. Als der Wagen heranfuhr, sahen die Bauern den Wolf, und sie schnallten sofort ihre Hosenriemen fester und sprangen vom Wagen ab. Einer aber war gerade derjenige, der vom Fuchs geprellt worden, der winkte dem andern mit den Augen und dem Kopf und zeigte mit den Armen, er solle die Axt nehmen; er selbst nahm sich eine Wagenleiste. Sie traten leise hinzu: als sie nahe waren, führten sie zuerst einige gelinde Schläge. "Denn ist er tot", dachten sie, "können wir den Pelz unversehrt haben." Der Wolf ließ anfangs nichts merken und meinte. "Die wollen gewiß nur versuchen, ob du wirklich tot bist!" Als aber der eine sah, wie der Wolf mit den Augen zwinkerte und Atem von sich ließ, erhob er die Axt und versetzte ihm einen Schlag auf das Haupt, daß gleich das Blut hervorströmte; jetzt fühlte der Wolf, das sei kein Spaß, sprang heulend auf und rannte wie besessen davon.

Josef Haltrich (1822 - 1886)

Mittwoch, 17. Juni 2015

Auslegung der Fabel von Phaethon, von den Heliaden, seinen Schwestern, und von dem Cygnus

(2)

Ich gestehe es, daß es schwer ist, den wahren Ursprung dieser Erdichtung zu finden; aber die Anlage dazu ist darum nicht weniger historisch; und es ist hier von sehr wirklichen Personen die Rede, deren Geschlechtsregister […] das Alterthum auf uns gebracht hat. Der gemeinen Meinung zu Folge, war Phaethon ein Sohn der Sonne und der Klymene; es sey nun, daß man unter der Sonne den Ägyptischen König Horus andeuten wollen; denn aus diesem Lande scheint, wie wir im folgenden sagen werden, diese Geschichte gekommen zu seyn; oder daß man eine andere von den Personen damit gemeint, welche für dieses Gestirn genommen worden. Einige Alten geben ihm die Nymphe Rhode, die Tochter Neptuns und der Amphitrite, zur Mutter, und Hesiodus […] sagt, daß er ein Sohn des Cephalus und der Aurora gewesen. Diese Stammtafel nimmt Apollodor […] an, und Eusebius, der darin den Julius Afrikanus zum Vorgänger gehabt, hat sich dieser Meinung bedient, die Zeit, wenn Cekrops gelebt, daraus zu bestimmen. Diesem Schriftsteller zur Folge war die Tochter dieses ersten Königs zu Athen, Nahmens Herse, die Mutter des Cephalus, welcher durch die Aurora entführt wurde; das heißt, welcher Griechenland verließ, um sich gegen Morgen niederzulassen. Cephalus hatte einen Sohn, Nahmens Tithon, der den Phaethon erzeugte. Nach dieser Stammtafel erkannte Phaethon den Cekrops für seinen Urältervater; und man kann demnach annehmen, daß er hundert und funfzig Jahre nach diesem ersten Könige zu Athen gelebt, welcher 1582 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung regierte, und fast 400 Jahre vor dem Trojanischen Kriege, wie man solches aus dem Dionys von Halikarnaß, und aus dem Censorin […] beweisen kann.

Anton Baniers
Erläuterungen der Götterlehre und Fabeln
aus der Geschichte
Aus dem Französischen übersetzt von
Johann Adolf Schlegel
und mit Anmerkungen begleitet von
Johann Matthias Schroeckh
Wien, 1791

Dienstag, 16. Juni 2015

Auslegung der Fabel von Phaethon, von den Heliaden, seinen Schwestern, und von dem Cygnus

(1)

Was wir jetzt von der Sonne gesagt haben, das führt uns auf die Fabel vom Phaeton. Diese Fabel, welche Ovidius […] umständlich beschreibt, ist kürzlich folgenden Inhalts. Als Phaethon einen Streit mit dem Epaphus, dem Sohne Jupiters und der Io, hatte, warf ihm dieser vor, daß er kein Sohn der Sonne oder des Phöbus sey, wie er sich rühme, sondern daß seine Mutter, Klymene solches nur ausgesprengt habe, um ihre Schwachheit zu verbergen, zu der sie sich von irgend einem Liebhaber verleiten lassen. Den Phaethon verdroß dieser Vorwurf, und er beklagte sich gegen seine Mutter darüber. Diese befahl ihm, daß er in den Palast des Phöbus gehen, und ihn bitten sollte, daß er ihm, zum beweise seiner Abkunft von ihm, die Führung seines Wagens auf einen Tag überlassen möchte. Phaethon kam dem Befehle seiner Mutter nach, und nachdem er seinem Vater die Ursache seines Besuchs eröffnet, beschwor er ihn, daß er ihm eine Gnade erweisen möchte, ohne diese aber zu bestimmen. Phöbus, oder die Sonne, ließ sich das nicht einfallen, daß ein so junger Mensch ihn um eine Sache bitten könnte, die seine Kräfte so sehr übersteige, als die Führung seines Wagens; er beschwor es ihm bey dem Styx, daß er ihm nichts abschlagen wolle, und Phaethon bath ihn um Erlaubniß, die Welt zu erleuchten. Phöbus hatte sich durch einen unwiderruflichen Eid zu Gewährung seiner Bitte anheischig gemacht; nachdem er nun alles Mögliche angewendet, seinen Sohn von einer so schweren und so gefährlichen Unternehmung abzubringen, gewährte er ihn endlich seiner Bitte. Der junge Wagehals besteigt den wagen der Sonne; aber die Pferde fühlten, daß die Hand ihres Herrn sie nicht lenkte, und wichen von der gewöhnlichen Straße aus, indem sie bald zu hoch stiegen, und den Himmel mit einer unvermeidlichen Verbrennung bedrohten, bald tief herunter kamen, und die Brunnenquellen und Flüsse austrockneten. Die Erde, welche dadurch in Schrecken gesetzt wurde, wendete sich an den Jupiter, und flehte ihn um Hülfe an. Der Gott wurde durch die gerechten Klagen dieser Göttinn gerührt, und schlug den jungen Phaethon mit einem Donnerkeile herab, daß er in den Fluß Eridanuns hinab stürzte. Die Heliaden, seine Schwerstern, überließen sich der grausamsten Verzweiflung. Cygnus, sein Bruder, starb vor Schmerz, und die Götter verwandelten ihn in einen Schwan.

Denen, welche die Fabeln nur für Behältnisse ansehen, in denen die Alten die Sätze der Sittenlehre und Naturkunde aufbewahrt, kostet es nicht viel Mühe, die gegenwärtige zu erklären. Sie sagen, sie sey das Sinnbild eines Verwegenen, welcher sich einer Unternehmung erkühnt, die seine Kräfte übersteigt. Aber bedurfte es so vieler Zurüstungen, uns eine so alltägliche Sittenlehre vorzutragen?

Anton Baniers
Erläuterungen der Götterlehre und Fabeln
aus der Geschichte
Aus dem Französischen übersetzt von
Johann Adolf Schlegel
und mit Anmerkungen begleitet von
Johann Matthias Schroeckh
Wien, 1791

Montag, 15. Juni 2015

Der Indianer

Die IV. Fabel

Ein Indianer war zu großem Reichthum kommen,
Und daher hatt ihn auch der Hochmuth eingenommen.
Er wünschte Stadt- und Land- und Weltbekannt zu seyn.
Mit diesem Kummer schlief er oft sehr mühsam ein;
Er pflegt auch manche Nacht zu wachen,
Und hatte stets dabey den Ruf zum Augenmerk.
Er wollte durch ein großes Werk
Sich einen großen Namen machen.
Inmittelst kam die Nachricht an,
Daß der Monarch von Indostan,
Der große Mogul, sich hieher erheben wollte,
Und daß man darum auch die Wege bessern sollte.
Der Ruhmbegierige fand hier Gelegenheit,
Den länstgehegten Wunsch im Werk erfüllt zu schauen.
Er ließ in der Geschwindigkeit
Gleich eine große Brücke bauen;
Sechs hundert Ellen lang und sieben Ellen breit,
Von einem Berge auf den andern.
Warum denn? War etwa der Strom zu schnell, zu tief,
Der zwischen beyden Bergen lief?
Und mußte dieser Bau vielleicht aus Noth geschehn,
Um trocken drüber hin zu wandern?
O nein! Kein Wasser war zu hören und zu sehn.
Drum wußt auch niemand sich hierinnen
Des Mannes Endzweck auszusinnen.
Daher entstund von ihm der allgemeine Wahn:
Er wäre nicht mehr bey Verstande.
Inzwischen kam sein Herr der große Mogul, an;
Der sprach: Was soll denn hier die Brück auf trocknem Lande?
Welch Bauherr hat sein Geld so närrisch angelegt?
Man sagte: Der und der. Der Kaiser trug Verlangen,
Aus dessen Munde selbst die Nachricht zu empfangen,
Was ihn zu diesem Bau bewegt.
Man rief. Er kam und fiel dem Mogul zu den Füssen.
Der Kaiser, voller Neubegier,
Begehrte nun von ihm zu wissen,
Was er doch immermehr mit dieser Brücke hier,
Auf trocknem Lande, haben wollt.e
Der Bauherr neigte sich, und sagte keck und frey,
Daß weiter nichts, als dieß, sein Zweck gewesen sey,
Daß Ihro Majestät nur nach ihm fragen sollte.

* * *

Wir würden in der Welt manch großes Werk entbehren,
Wenn in Europa nicht auch Indianer wären,
Die durch den größten Bau nichts anders haben wollen,
Als daß die Leute nur nach ihnen fragen sollen.

Daniel Stoppe
Neue Fabeln oder moralische Gedichte
Der Jugend zu einem nützlichen zeitvertreibe aufgesetzt
Band 2
1745

Donnerstag, 11. Juni 2015

Von den Seehunden

 
§ 654. Sonderbar ist es, daß der gemeine Mann in Island einen gewissen Abscheu, und doch zugleich eine Ehrerbietung für die Seehunde hat. Die Ursache hiezu ist die ungegründete Meinung, daß sie an Gestalt den Menschen mehr als anderen Thieren gleichen sollen, worin man durch ihren Vorwitz und ihre Klugheit gestärket wird. Hier erzählt man auch die Fabel, daß Pharao und sein Kriegsheer, die im rothen Meere ersoffen, in Seehunde sollen verwandelt geworden seyn. Eine andere Fabel oder Meinung, die eben so unrichtig ist, giebt den Seehunden ein Ansehen, daß es nämlich eine Art menschliches Geschlechtes, Seefolk genannt, sey, und eine menschliche Gestalt unter der äußerlichen und bekannten Seehundebildung haben solle, welche er zuweilen, wenn er am Ufer spaziren gehen wollte, ablegte. Man soll ihre Weibchen geheyrathet haben; auch hat man ihre Kühe, die sehr gute Milch geben, so wie die aschgrauen Kühe, die von diesen entstehen, gefangen und gemerkt. Die alten dänischen Riesenlieder (Klompe-Viser) enthalten eins oder andres, das diesen und dergleichen Fabeln ähnlich ist. Es ist unbeschreiblich, wie viel von ihnen zum Zeitvertreib erdichtet und erzehlt und von Einfältigen geglaubt worden ist. Die Gestalt dieser Thiere betreffend, gleichen sie vielmehr Hunden, als Menschen, desfalls sie auch bey den neuesten Naturkündigern, bey jenen ihrer Stelle, und daher den Hundenamen erhalten haben.

Des Vice-Lavmands Eggert Olaffens
und des Landphysici Biarne Povelsens
Reise durch Island
Aus dem Dänischen übersetzt
Kopenhagen und Leipzig, 1774

Mittwoch, 10. Juni 2015

Katze und Mäuse


Einstmals kam eine Katze, die ein gelb und rotes Kleid angezogen hatte, in die Nähe der Mäuse. Als die Mäuse sie erblickten, flohen sie erschrocken. Die Katze sagte: »Flieht nicht! Ich habe vor Buddha ein Gelübde abgelegt und thue deshalb keinem Geschöpf etwas zuleide«. Die Mäuse aber sagten: »Frau Katze, höre. Wenn dein Körper, indem du das gelb und rote Kleid anzogst, ein Gelübde genommen hat, hat dein Gemüt auch ein Gelübde genommen?« Die Katze sprach: »Meine Brüder, hört mich! Alle andern Dinge werden sich finden, mein Gemüt ist aufrichtig und rein. Die Mäuse glaubten es und machten die Katze zu ihrem Fürsten. Als sie aber zusammen waren, frass die Katze, sich listig verbergend, täglich mehrere hundert Mäuse. Die Mäuse wunderten sich und fanden, als sie nachzählten, das 800.000 Mäuse weg waren. Sie erkannten nun, dass die Katze sie gefressen hatte und sprachen »Jeder schlechtgesinnte Mensch muss so . . . . . .  werden«. So sprechend flohen sie. Das war die Macht der List.

Die Fabel ist auch in der mohammedanischen Welt verbreitet; man vergleiche die folgende Version:

Eine alte Katze war neben dem Feuer im Hause, auf dem Kopfe einen Turban setzend; diese Katze rief zu den Mäusen: ich habe viele Leute von euch getötet, ich habe Reue empfunden, ich habe Busse gethan, ich begebe mich zur Kaaba; kommet, um mir zu verzeihen und Frieden zu machen, sprach die Katze. Alle Mäuse kamen zu dieser Katze; eine grosse Maus blieb auf dem Hofe, ohne ins Innere des Hauses zugehen. Komm auch du, sprach die Katze zu dieser Maus; diese Maus sprach: bei Gott, das aussehen dieser Katze ist dasselbe, der Schnauzbart ist derselbe, die Ohren sind dieselben, der schwanz ist derselbe, die Art ist dieselbe; wegen des Turbans hat sie ihre Sitten nicht aufgegeben,m ich kann nicht hineinkommen. Also sprechend lief die grosse Maus davon; nahe kamen alle Mäuse und die Katze tötete und frass jene Mäuse und die Katze wurde satt.


aus: Fünf indische Fabeln
Aus dem Mongolischen von Hans Conon von der Gabelentz
Aus einer unveröffentlichten Handschrift der Königl. Bibliothek zu Berlin
mitgeteilt von B. Laufer
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Bd. 52 (1898)

Dienstag, 9. Juni 2015

Der Elefant und die Mäuse



Als vor alten Zeiten ein Elefant das Wasser des Meeres zu trinken ging, begegnete er einer Maus, die zu ihm sagte: »Onkel, du bist von Natur weise, ich bin von Natur listig; wer von uns beiden ist der ältere Bruder?« Der Elefant erwiderte zornig: »Ziemt es sich, dass du Knirps älterer Bruder sein willst? Ich zerstöre mit meinem Stosszahn den Berg Sumeru; wenn ich mit dem Fuss auftrete, töte ich zehntausend Mäuse«.

Als er im Begriff war, auf sie zu treten, floh die Maus erschrocken und sann auf eine List. Sie versammelte viele Mäuse und sprach: »Ein Elefant will uns alle töten. Wenn wir die Erde aus seinem Weg heimlich aushöhlen und ihn u Falle bringen und besiegen, so wird dies gut für unsern Ruhm sein«.

Die andern billigten diesen Vorschlag, gruben die erde auf und warteten. Der Elefant kam, stolperte und fiel, und da er sich nicht wieder aufrichten konnte, sprang die erste Maus auf das Haupt des Elefanten und sprach: »Onkel Elefant, wer von uns beiden ist nun der ältere Bruder?« Der Elefant antwortete: »Da alle Mäuse meine Lehrer gewesen sind, so mögen sie die älteren Brüder sein. Wenn ihr mich aus diesem Unglück errettet, so werde ich, wo ich eure Löcher sehe, erschrocken fliehen«. Auf diese Rede versammelte die erste Maus 800.000 Mäuse; einige befehligten von dem Körper des Elefanten aus und zogen von oben, andere gruben die Erde tiefer aus und feuchteten sie an, so dass der Elefant allmählich sich erhob. Als nun der Boden geebnet und der Elefant aufgestanden war, lief er erschrocken davon. Die Mäuse lachten.

O König, dass die einen Finger langen Mäuse durch Behendigkeit und List den gierigen Elefanten besiegt haben, ist durch solche List geschehen.


aus: Fünf indische Fabeln
Aus dem Mongolischen von Hans Conon von der Gabelentz
Aus einer unveröffentlichten Handschrift der Königl. Bibliothek zu Berlin
mitgeteilt von B. Laufer
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Bd. 52 (1898)

Dienstag, 26. Mai 2015

Die Fliegen Bunnyyarl und die Bienen Wurrunnunnah


Die Bunnyyarl und Wurrunnunnah waren Verwandte und lebten zusammen im selben Orte. Die Wurrunnunnah waren fleißig und arbeiteten tüchtig, um rechtzeitig viele Vorräte einzusammeln und sie für die böse Zeit der Hungersnot aufzuspeichern. Die Bunnyyarl bekümmerten sich jedoch nicht um die Zukunft; sie vergeudeten die Zeit mit Spielen und Possentreiben und dachten gar nicht daran, ebenfalls Vorräte einzusammeln.
Eines Tages sagten die Wurrunnunnah: »Kommt mit und holt den Honig aus den Blumen! Bald ist der Winter da, dann gibt es keine Blumen, und ihr könnt keinen Honig mehr einsammeln!«
»Nein,« antworteten die Bunnyyarl, »wir haben uns hier um andere Dinge zu kümmern.«
Sie gingen fort und überlegten sich, was sie nun wohl für neue Dummheiten aufstellen können; sie glaubten ja, daß die Wurrunnunnah nachher doch ihre Vorräte mit ihnen teilen würden. Die Wurrunnunnah taten also die Arbeit allein und überließen die Bunnyyarl ihren Nichtsnutzereien. Sie besuchten alle Blumen, trugen den Honig ein und kehrten nicht wieder zu den Bunnyyarl zurück. Sie waren es überdrüssig geworden, stets alle Arbeit für diese Faulpelze zu tun.

Und später wurden die Wurrunnunnah in kleine, wilde Bienen und die faulen Bunnyyarl in Fliegen verwandelt.

Paul Hambruch
Südseemärchen
Jena 1916

Die Jagd des Lebens

Es war einmal ein Jäger, der ging zu Wald in eine öde Wildnis, dort zu jagen. Da kam er einem Tiere auf die Fährte, als er dieses aber endlich entdeckte, wünschte er es nimmermehr gesehen zu haben, denn es war ein mächtiges Einhorn, welches sich gegen ihn stellte. Eilig wandte er sich zur Flucht, und stets verfolgte ihn das Einhorn, bis er auf eine steile Felswand kam, deren schroffen Abhang tief unten die Wellen eines dunklen Sees bespülten. In dem See schwamm ein ungeheurer Drache, der den Rachen gähnend aufriß, und plötzlich glitt der Jäger aus und wäre gerade hinab in den See und in des Drachen Schlund gestürzt, wenn er nicht an einem einer Felsritze entsproßten Strauch sich festgehalten hätte. Da war nun des Jägers Lage eine todängstliche. Droben stand, wie ein Wächter, das schreckliche Einhorn, drunten lauerte auf seinen Hinabsturz der greuliche Seedrache. In dieser Not ward seine Angst und Qual aber noch vermehrt, denn mit einem Male erblickte er zwei Mäuse, eine weiße Maus und eine schwarze Maus; die begannen an den Wurzeln der Staude zu nagen, und der Jäger vermochte nicht, sie hinwegzuscheuchen, weil er sich mit beiden Händen anhalten mußte. So mußte er jeden Augenblick gewärtig sein, daß die Wurzeln des Strauchs diesen nicht mehr halten würden. Über ihm stand ein Baum, von dem träufelte süßer Honig nieder, und gar zu gern hätte der Jäger diesen Baum erlangt, denn damit meinte er aller Qual erledigt zu sein, und über den Baum vergaß er aller ihm drohenden Gefahr. Wir wissen nicht, ob es ihm gelungen, aus seiner dreifachen Qual erlöst zu werden, oder ob die Mäuse des Strauches Wurzeln ganz abgenagt.

Der alte Dichter dieser Märe gibt ihr eine allegorische Deutung, indem er sagt: Der Jäger, das ist der Mensch, und das Einhorn, das ist der Tod, der ihm begegnet, ehe er es vermeint, und ihn immerdar verfolgt. Die steile Felswand ist die Erde, und der Strauch ist das Lehen, daran der Mensch nur mit schwachen Banden hängt. Die weiße und die schwarze Maus, welche das Leben an der Wurzel benagen, sind Tag und Nacht oder die rastlose Zeit, die an unserm Leben zehrt. Der dunkle See ist die Hölle, und sein Drache der Teufel, die darauf lauern, daß der Mensch falle und in ihren Rachen stürze. Der Honigbaum aber ist die Liebe, die das Leben versüßende, welcher der Mensch zustrebt und sie zu erlangen hofft zwischen Not und Tod, zwischen Qual und Pein, keiner Gefahr achtend, und mit deren Erringung er seine irdische Seligkeit findet. Doch soll der Mensch sich täglich hüten, da die Mäuse ihm an der Lebenswurzel zehren, daß er nicht in den See des Verderbens falle.

Ludwig Bechstein

Mittwoch, 13. Mai 2015

Der kranke Löwe

Der Löwe, sagt man, war krank; da gingen sie Alle, ihn in seinen Leiden zu besuchen; der Schakal aber ging nicht hin, weil die Spuren der Leute, die hingingen, um ihn zu besuchen, nicht wieder zurückkehrten. Da wurde er von der Hyäne bei dem Löwen verklagt. »Obschon ich gekommen bin, Dich zu besuchen, will doch der Schakal nicht kommen, Dich (wörtlich: den Mann) in Deinen Leiden zu besuchen.« Da schickte der Löwe die Hyäne, um den Schakal zu fangen. Das that sie und brachte ihn vor den Löwen. Der Löwe fragte den Schakal: »Warum kamst Du denn nicht, nach mir zu sehen?«

Der Schakal gab zur Antwort: »Bitte, lieber Onkel; als ich hörte, daß Du so schwer krank seiest, ging ich zum Zauberdoktor, um Rath zu holen und ihn zu fragen, was für eine Arznei meinem Onkel von seinen Schmerzen helfen würde. Der Doctor aber sagte so zu mir: »»Geh und sage Deinem Onkel, er möge die Hyäne ergreifen, ihr das Fell abziehen, und, wenn es noch warm wäre, es anlegen; dann werde er besser werden.«« Die Hyäne ist so nichtsnutzig, daß sie sich gar nicht um die Leiden meines Onkels kümmert.«

Der Löwe folgte diesem Rath, ergriff die Hyäne, zog ihr, während sie aus Leibeskräften heulte, daß Fell über die Ohren und legte es an.

Reineke Fuchs in Afrika
Fabeln und Märchen der eingebornen
nach Originalhandschriften der Grey’schen Bibliothek 
in der Kap-Stadt und andern authentischen Quellen
Von Dr. W. H. J. Bleek
Weimar, 1870

Dienstag, 12. Mai 2015

Kuckuck

Ein Sohn Zanaharys war gestorben. Der Vater rief sämtliche Lebewesen der Erde zusammen, damit sie bei der Bestattung die Trauerlieder sängen. Auf Befehl Zanaharys begannen alle mit dem Gesang, aber bald wurden etliche müde, und man vernahm ihre Stimmen nicht mehr. Nach Verlauf einer Stunde sangen nur noch sehr wenige Trauerlieder. Und nach zwei Stunden hörte man fast keinen mehr. Als die dritte Stunde zu Ende ging, waren alle heiser und stimmlos geworden, nur der Kuckuck sang noch aus vollem Halse. Tag und Nacht sang er, bis Zanahary ihm schließlich Einhalt gebot. Als der Kuckuck ihn nun um eine Belohnung bat, sprach Zanahary: »Ich bin mit dir zufrieden. Hinfort sollst du dir, wenn du Eier legen willst, nicht wie andere Vögel ein Nest bauen; denn du mußt doch jetzt sehr müde sein, nachdem du solange gesungen hast. So sollst du deine Eier denn in die Nester anderer Vögel legen; du darfst ihre hinauswerfen und zerschlagen, damit du Platz für deine eigenen bekommst. Die anderen Vögel sollen die Mühe haben, deine Eier auszubrüten, aber du brauchst es nicht!«

Und so geschieht es denn. Der Kuckuck brütet seine Eier nicht aus, sondern schiebt sie den anderen unter.

Paul Hambruch
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
Jena: Eugen Diederich, 1922.