Donnerstag, 28. Januar 2016

Der giftige Fisch

Ein Mann hatte einstmals einen Fisch gefangen, den man Stachelbauch oder Fugu nennt und für giftig hält. Er kannte aber dessen böse Eigenschaften nicht recht und begann, ihn zum Mahle herzurichten, obwohl er doch nicht ohne alle Besorgnis war. Während er mit dem Zubereiten des Fisches beschäftigt war, kam eine hungrige Katze, ergriff ein Stück von dem Fische und lief mit demselben davon. Der Mann verfolgte sie; sie lief deshalb in einen engen Spalt zwischen zwei Häuser, wo sie in Sicherheit war; das Stück Fisch hielt sie fortwährend im Maule.

Der Mann dachte nun, als er von der Verfolgung der Katze zu seiner früheren Beschäftigung zurückgekehrt war, daß seine Besorgnis wohl unbegründet sein müsse, denn wenn die schlaue Katze den Fisch nicht verschmähe, könne er ihm unmöglich schaden. Er begann daher, als sein Mahl fertig war, ruhig den Fisch zu verspeisen.

Die Katze aber hatte, nachdem sie ihre Beute in Sicherheit gebracht, doch auch einige Bedenken gehabt. Sie kam daher aus ihrem Verstecke wieder hervor und sah zu, ob der Mann den Fisch auch wirklich verzehre. Als sie nun sah, daß er ihn wirklich aß, da zögerte sie nicht länger und fraß ihr Stück ebenfalls. Beide, Mann und Katze, starben elendiglich. So täuschen sich die schlauesten oft am allerleichtesten.

Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, 1885

Dienstag, 26. Januar 2016

Russische Fabeldichter

Als Begründer der russischen Fabel gilt Alexander Petrowitsch Sumarokow (1717 - 1777). Sumarokow stammt aus einer adligen Familie, diente u.a. in der militärischen Kanzlei und war eine Zeit lang auch Theaterdirektor. Er schrieb Theaterstücke, Opernlibretti und zwischen 1762 und 1769 Fabeln. Seine Fabeln zeichnen sich durch eine große Geschwätzigkeit aus. A. A. Rževskij (1737 - 1804) ist ein weiterer Dichter, der sich in Rußland der Fabel angenommen hatte. Anders als Sumarokow, der die Prosafabel pflegte, nutzte Rževskij die Gedichtform, teilweise durch druckgrafische Gestaltung, in dem er den Gedichten geometrische Formen gab. Vasilij Ivánovič Májkov (1728-1778) bewunderte Sumarokow, dem er insbesondere in den Fabeln nachstrebte. Bekannt wurde er allerdings durch seine Episteln. Iwan Andrejewitsch Krylow (1769 - 1844) war Hauslehrer und Bibliothekar in Sankt Petersburg. Er veröffentlichte zwischen 1809 und 1843 mehr als 200 Fabeln, von denen eine Auswahl bereits 1842 in deutscher Sprache erschien. Nur am Anfang orientierte sich Krylow an Äsop und La Fontaine, schuf später dann aber eigene Fabeln. Alexander Nikolajewitsch Afanassjew (1826 - 1871) gilt als der »russische Grimm«. Er war Märchensammler und erfasst dabei auch Fabeln.
Horst-Dieter Radke

Mittwoch, 20. Januar 2016

Der Baum



Er lies sich an dem mächtigen Baum am Fluss nieder, lehnte sich mit dem Rücken an. Was war das überhaupt für ein Baum? Eine Buche? Eine Linde? Ein Ahorn? Er hatte überhaupt keine Ahnung. Von Bäumen verstand er nicht viel. Also zog er sein Buch hervor und begann zu lesen, vom Ringeherrn, dem Auenland und dem Fangornwald. So vertieft war er in die Lektüre, dass er nicht merkte, wie langsam und leise knirschend sich zwei starke Äste herunterbogen, ihn umfassten, umklammerten und nach und nach den Druck erhöhten. Erst als das Atmen schwer wurde, merkte er auf. »Was? … Lass mich los!« Doch so sehr er sich mühte, er kam nicht mehr frei. Immer kräftiger drückten ihm die Äste die Brust und den Atem ab. »So soll es allen gehen«, wisperte es aus den Zweigen, »die aus meinen Brüdern schnödes Papier machen und dies mit Schwärze beschmutzen.«

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 19. Januar 2016

Nathan

Nathan, ein Prophet und weiser Lehrer zu Salem, saß unter seinen Jüngern und die Worte der Lehre und der Weisheit flossen wie  Honig von seinen Lippen.

Da sprach einer seiner Jünger, Gamaliel: Meister wie kommt es, daß wir so gern deine Lehren empfangen, und alle horchen der Rede deines Mundes?

Da lächelte der bescheidene Lehrer und sprach: heißt mein Name nicht Nathan (Geben?) – der Mensch nimmt ja gerne, wenn man nur zu geben weiß!

Wie giebst du denn? fragte Hillel, ein anderer von denen, die zu seinen Füßen saßen.

Und Nathan antwortete: Ich reiche euch den goldenen Apfel in silberner Schaale. – Die Schaale empfanget ihr, aber ihr findet den Apfel.

Parabeln, oder Gleichnisse aus der Natur gezogen
mit anmuthigen Erzählungen und lehrreichen Bildern geziert
vorzüglich der Jugend und allen Ständen gewidmet
Friedrich Adolf Krummacher (Hrsg.)
Bregenz, 1810

Sonntag, 17. Januar 2016

Buddha im Schnee


Eines Tages wurden Buddha und seine Jünger beim Meditieren bereits morgens vom Schnee überrascht. Während seine Jünger nach und nach aufhörten zu meditieren, blieb der Buddha in seiner Versenkung und rührte sich nicht. Es wurde Mittag, die Jünger liefen frierend und zitternd herum, sich mit den Armen sich auf Brust und Schulter schlagend. Keiner wagte es, den Erhabenen aus seiner Versenkung zu holen. Nur Ananada befreite ab und zu den Meister von allzu großer Schneelast. Am frühen Nachmittag hörte der Schneefall auf, die Sonne kam durch und schmolz den Schnee wieder weg. Noch vor Sonnenuntergang schüttelte sich der Buddha, stand auf, schaute um sich und sah nur bibbernde Mönche.

»Was ist los?« fragte er. »Warum friert ihr? Wärmt euch die Sonne nicht, die gerade dabei ist, mit einem wunderschönen Rot für die Nacht zu verschwinden?«

»Habt ihr nicht gefroren, Meister? Wir hatten den ganzen Tag über Schnee und eisigen Wind!«

Buddha lächelte. »Vielleicht hatten wir Schnee und vielleicht war es kalt. Ich war jedoch nicht da. Wie konnte ich da frieren?«

Der Kater, dem Buddha schon einige Male begegnet war, schnurrte, während er noch mit seinen Jüngern sprach, heran und rieb sich an seinem Bein. Auf seinem schwarzen Fell glänzten noch wenige Schneekristalle. »Auch er war nicht anwesend«, sagte Buddha, »und hat folglich nicht gefroren.«

»In einer Höhle wird er gewesen sein, in irgend einem Unterschlupf. Das Katzenvieh ist viel zu bequem um der Kälte zu trotzen«, schimpfte ein Jünger.

»Oder zu schlau«, sagte Buddha. »Wer wird auch so dumm sein, im Schnee und in der Kälte auf und ab zu laufen ohne sich unterzustellen.«
apokryphe Buddha-Legende aus dem 21. Jh.
aufgeschrieben erstmals von
 Horst-Dieter Radke

Samstag, 9. Januar 2016

Die beiden Hunde

Längs einem Strom in einem Felsenschlunde,
Ging einst ein Edelmann,
Und ihn umhüpften seine beiden Hunde:
Joli und Soliman.

Joli, das Windspiel, sprang mit tausend Possen
Hinan an seinen Herrn,
Und wird geküßt, indessen steht verstoßen
Der arme Pudel fern,

Den armen liebt man nicht, er kann nicht schmeicheln,
Zu finster ist sein Blick,
Und statt den treuen, wie Joli, zu streicheln,
Stößt man ihn stets zurück.

Nun aber wankt der Herr am steilen Strande
Mit ungewissem Fuß
Und stürzet plötzlich von dem glatten Rande
Des Abgrunds in den Fluß.

Indes Joli mit Furcht und bangem Bellen
Am hohen Ufer steht,
Sich in dem Silberspiegel glatter Wellen
Begaffet und dann geht,

Stürzt sich der brave, stets verschmähte Pudel
Hinab vom hohen Strand,
Entreißet mühsam seinen Herrn dem Strudel
Und trägt ihn froh ans Land.

O möge diese kleine Fabel lehren,
Wie oft der Schein belügt,
Nur die Gefahr kann einen Freund bewähren,
Die Außenseite trügt.

Ihr Weltenherrscher hasset nicht den Braven,
Weil er nicht niedrig kriecht,
Der erste eurer tiefgebückten Sklaven
Ist oft ein Bösewicht.

Franz Grillparzer