Mittwoch, 17. Oktober 2018

Buddhas Lamento






Noch stand ich staunend vor dem Zaun und wunderte mich über die Stille, die rings um den Baum sich zu verbreiten schien. Ruhig floß der Main im Hintergrund und etwas seitwärts saß der Buddha in ständiger, tönernen Versenkung. Der Wunsch einzutreten und mich der Stille einzufügen, wurde übermächtig. Da sprach der Buddha laut und vernehmlich: »Bleib draußen, Wanderer. Die Stille, die du wahrzunehmen wähnst, ist nichts als Lärm, der die Ruhe scheucht.« Irritiert schaute ich auf die unbewegliche Gestalt, deren Augen immer noch geschlossen waren. Um diese Wahn zu verscheuchen sagte ich laut: »Aber ich höre doch keinen Ton!« Ein leises Lachen war die Antwort. »Narr! Lärm besteht nicht nur aus Tönen«, erwiderte der Buddha. »Auch die Stille kann schreien.« Ich stellte mein Fahrrad ab und trat näher. »Aber…« rief ich, senkte meine Stimme dann jedoch erschrocken zu einem Flüstern ab. »… wenn man doch nichts hört, keinen Ton, dann muss doch Stille sein!«  Wieder dieses Lachen und fast meinte ich, die Statue mit dem Kopf schütteln zu sehen. Ich sah genauer hin – und erkannte nun keine Bewegung des Buddhas mehr. »Die äußere Stille ist das eine«, belehrte mich der Erhabene. »Wie aber sieht es mit deiner inneren Stille aus?« Skeptisch versuchte ich in mich hineinzuhorchen und in die vermeintliche Lautlosigkeit meines Selbst klang die Stimme des Buddhas wie ein Schrei: »Wie kann in Dir die Stille herrschen, wenn Du meine Stimme noch vernehmen kannst?« Verblüfft sah ich ein Wimpernzucken der Statue. Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder und schon war alles vorbei.

»Kommst du?«, rief meine Frau. »Wir wollen weiter.« Ergeben und doch ein bisschen sehnsuchtsvoll schob ich mein Fahrrad an diesem Garten der vermeintlichen Stille vorbei, schwang mich auf den Sattel und trat in die Pedale.


Horst-Dieter Radke