Samstag, 31. Mai 2008

Wie erfindet man eine Fabel?

Das Kernstück der Fabel ist also die Lebenslehre, die »Moral« der Fabel, um derentwillen sie da ist. Dieser Grundgedanke sucht anschauliche Gestalt in einer Kleingeschichte.
Und dafür gilt dieses Gesetz: es sollen gerade die Charaktere gefunden werden, in deren Zusammenspiel sich die Lehre am klarsten entfaltet, und es wird die Handlung gefordert, die genau zu diesen Charakteren und nur zu ihnen paßt: keiner der Teilnehmer in dem Fabelspiel spreche ein Wort oder tue etwas, als was gerade durch ihn am besten gesprochen und getan werden kann.
Broder Christiansen

Fabeln sind erschlossenes Gebiet

„Fabeln sind ein erschlossenes Gebiet!“ sagte mir jemand, den ich zu einer Kritik und Stellungnahme einer kleinen Arbeit über Fabeln bat. Das schockierte mich zunächst ein wenig – nach einigem Nachdenken darüber musste ich jedoch zustimmen. Fabeln gibt es seit mehr als zweitausend Jahren. Sie entstanden im alten Griechenland – Äsop ist sicherlich jedem ein Begriff – sie erlebten eine Blüte im 17./18. Jahrhundert – La Fontaine und Lessing seien nur stellvertretend genannt -, wurden in diesem Jahrhundert für tot erklärt und tauchen doch immer wieder auf. Auch die Literaturforschung hat sich ausführlich damit auseinandergesetzt. Was gibt es da eigentlich noch zu entdecken?
Nun heißt ja „erschlossenes Gebiet“ nicht, dass eine Landschaft nicht individuell, wiederholt und erneut von jedem erschlossen werden kann. Durch Buch, Bild und Film kann ein Eindruck von diesem Gebiet gewonnen werden – eine innere Beziehung erhält man aber erst, wenn man dieses Gebiet selbst besucht. Andererseits ist aber allein durch den Besuch dieses Gebietes noch nicht eine solche Beziehung aufgebaut. Wie viele sind in die Welt gereist und haben aus den fernen Ländern nur das mitgenommen, was sie zu Hause ohnehin hatten?
Auch die Fabel will erschlossen werden – immer wieder neu.
Horst-Dieter Radke

Freitag, 30. Mai 2008

Der Räuber und der Esel

Zweene Räuber zankten sich
Des gestohlnen Esels wegen,
Und von Worten kam's zu Schlägen,
Beide fochten ritterlich.

Als nun jeder in dem Streite
Seinen Feind aufs schärfste trieb,
Nahte sich ein klügrer Dieb
Und entging mit ihrer Beute.

Meyer

Donnerstag, 29. Mai 2008

Die Uhr

„Du saust so hastig um und um – mir würde da schwindlig werden“ sagte der kleine zu dem großen Zeiger.
„Bist halt eine lahme Ente. Bis du einmal herum bist, habe ich das ganze schon zwölf mal geschafft. Wenn ich der Uhrträger wäre, ich hätte dich schon längst abgerissen.“
„Wer soll dann noch etwas mit dir anfangen?“ entgegnete der kleine Zeiger. „Wer lebt schon gern nach Minuten ohne zu wissen, welche Stunde es geschlagen hat?“
Horst-Dieter Radke

Fabel und Parabel

Das trifft den Punkt! Der einzelne Fall, aus welchem die Fabel besteht, muß als wirklich vorgestellt werden. Begnüge ich mich an der Möglichkeit desselben, so ist es ein Beispiel, eine Parabel.
Lessing, Abhandlungen über die Fabel – I. Vom Wesen der Fabel

Mittwoch, 28. Mai 2008

Eugen Drewermann: Von Tieren und Menschen

»Auch die Erzählform der Fabel ist tot. Nicht weil die Tiere uns nichts mehr zu sagen hätten, im Gegenteil: weil wir inzwischen besser begreifen, wie nahe wir ihnen in Wirklichkeit sind.«
Trotzdem schreibt Drewermann eine Sammlung neuer Fabeln - oder doch nicht? Fabeln im ursprünglichen Sinne enthält dieses Buch nicht, auch wenn die Überschriften »Der Hund«, »Die Saatkrähen« oder »Die Quallen« das zunächst vermuten lassen. Alle Erzählungen dieses Buches handeln von Menschen, auch wenn das Tier vorangestellt sind. Es sind zumeist sehr persönliche Erzählungen des Autors. Das beide - Mensch und Tier - miteinander zu tun haben ist der rote Faden, der sich durch dieses Buch zieht.
»Die Fabel ist tot. Doch: es lebe die Fabel!« steht deshalb konsequenterweise am Ende des Vorworts.
Horst-Dieter Radke

Der Bär

»Wohin, Gevatter Bär?« sprach ein Wolf zu einem wandernden Bären.
»Ich suche mir eine andere Wohnung«, antwortete er.
»Du hattest ja aber eine schöne, geräumige Höhle, warum verläßt du sie?«
»Der Löwe machte Ansprüche an dieselbe und ging an den Senat der Tiere.«
»Da brauchtest du dich nicht zu fürchten, du hattest ja eine gerechte Sache.«
»Gegen Könige ist jede Sache ungerecht, Gevatter Wolf.«
Novalis

Die Nachtigall und der Habicht

Ein Habicht schoß auf eine singende Nachtigall. »Da du so lieblich singst«, sprach er, »wie vortrefflich wirst du schmecken!«
War es höhnische Bosheit, oder war es Einfalt, was der Habicht sagte? Ich weiß nicht. Aber gestern hört' ich sagen: »Dieses Frauenzimmer, das so unvergleichlich dichtet, muß es nicht ein allerliebstes Frauenzimmers sein?«
Und das war gewiß Einfalt!
Gotthold Ephraim Lessing

Dienstag, 27. Mai 2008

Ausgangspunkt ist die Idee

Da ist zunächst die Idee nötig, die zu einer Fabel führen soll. Sie kann dem Alltag entnommen werden, auf eine Situation gemünzt sein oder eine Begebenheit zum Ausgangspunkt nehmen.
Ist eine Idee gefunden, ein Motiv oder ein Anliegen ausgemacht, dass in eine Fabel verpackt werden soll, so folgt die Ausformulierung. Je unvermittelter diese erfolgt, desto besser.
Abschließend erfolgt die Überarbeitung und nach Möglichkeit die Verdichtung. Je knapper und kürzer das Anliegen in Form gebracht werden kann, um so besser kommt die Fabel zur Geltung. Das schließt nicht aus, das auch eine längere Fabel ein gute Wirkung erzielt und manchmal bekommt ihr ein wenig erzählerische Ausgiebigkeit gut - die Gefahr, dass sie zu geschwätzig gerät, ist aber so groß, dass man sich die Kürzung in jedem Fall gut überlegen sollte.
Horst-Dieter Radke

Die jungen Frösche



Die jungen Frösche haben einmal bei warmer Sommerzeit nächst einer Lache über allen Maßen gequackt und geschrien, also zwar, daß ein alter Frosch selbst über diese abgeschmackte Musik verdrüssig geworden und die Jungen nicht wenig ausgefilzt hat.

»Schamt euch, ihr grünhosenden Fratzen!« sagte er, »ihr wilden Lachendrescher, ihr hupfenden Spitzbuben, schamt euch, daß ihr so ein verdrießlich Geschrei vollführt! Wenn ihr aber doch wollt lustig sein und frohlocken, so singt aufs wenigst' wie die Nachtigall, welche auf diesem nächsten Ast sitzt. Ihr großmaulenden Narren, könnt ihr denn nichts anderes als nur das Qua-Qua-Qua?«

»Vater«, antworteten die Frösche, »das haben wir von dir gelernt.«
Abraham a Santa Clara

Der Sack



»Was seid ihr ohne mich« sprach stolz der Sack zum Korn, dass er fest umschlossen hielt. »Winzige kleine Dinger, die keinen Zusammenhalt hätten, würde ich sie nicht umfangen. Niemand würde euch alle zusammen tragen wollen, wenn es mich nicht gäbe. Bedeutung erlangt ihr also erst durch mich.«
Still ertrugen dies die Körner, als sie zum Müller getragen, dort zu Mehl gemahlen und anschließend in Brot verbacken wurden.
Der Sack aber wurde, da schadhaft geworden, achtlos fortgeworfen. Seinesgleichen war ja billig zu haben.
Horst-Dieter Radke

Birkenhain



O Birkenhain! Wie oft bin ich in Mitten
Der selgen Lieben durch dich hingeschritten,
An frühlingswarmen schönen Ostertagen,
Nun hat man sie zu Grabe längst getragen.

Doch wo die Blicke dieser heilgen Todten
Gefallen sind auf diesen Waldesboden,
Da funkeln nun den Weg entlang so ferne
Der Anemonen weiße Blüthensterne.
Christian Wagner (1835-1918)

Der Wanderer und das Irrlicht

Ein Wanderer sah des Nachts ein Irrlicht, ging demselben nach, kam von seinem Weg ab und geriet in einen tiefen Sumpf.
»Verwünschtes Licht«, rief er, »warum mußtest du mich irreführen?«
»Dich irreführen?« antwortete das Irrlicht. »Du gingst mir ja freiwillig nach. Du selbst gabst dir den Rat, mir zu folgen.«
Sprich nicht, ich bin verführt! Wer wird verführen, wenn du nicht folgen willst.
J.A.L.Löhr

Montag, 26. Mai 2008

Tiere in der Fabel

Indem ich aber die Charaktere der Tiere zur eigentlichen Ursache ihres vorzüglichen Gebrauchs in der Fabel mache, will ich nicht sagen, dass die Tiere dem Fabulisten sonst zu weiter gar nichts nützten. Ich weiß es sehr wohl, dass Sie unter andren in der zusammengesetzten Fabel das Vergnügen der Vergleichung um ein großes vermehren, welches alsdann kaum merklich ist, wenn sowohl der wahre als der erdichtete einzelne Fall beide aus handelnden Personen von einerlei Art, aus Menschen, bestehen.
Lessing, Abhandlung über die Fabel – II. Von dem Gebrauche der Tiere in der Fabel

Der letzte Mensch

»Was haben wir nur falsch gemacht?« sprach sinnend der letzte Mensch, als er über die blühende, fruchtbare, von der Natur beseelten Erde ging. Neben ihm und überall fragten sich das auch alle Anderen.
Horst-Dieter Radke

Faustin

Faustin, der ganze funfzehn Jahr
Entfernt von Haus und Hof und Weib und Kindern war,
Ward, von dem Wucher reich gemacht,
Auf seinem Schiffe heimgebracht.
»Gott«, seufzt der redliche Faustin,
Als ihm die Vaterstadt in dunkler Fern' erschien,
»Gott, strafe mich nicht meiner Sünden
Und gib mir nicht verdienten Lohn!
Laß, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn
Gesund und fröhlich wiederfinden.«
So seufzt' Faustin, und Gott erhöhrt' den Sünder.
Er kam und fand sein Haus in Überfluß und Ruh'.
er fand sein Weib und seine beiden Kinder,
Und – Segen Gottes! – zwei dazu.
Lessing, Fabeln und Erzählungen

fabulieren

Vom Vater hab ich die Statur,
des Lebens ernstes Führen,
von Mütterchen die Frohnatur
und Lust zu fabulieren.
J.W.v.Goethe

Wenn jemand das Wort »fabulieren« benutzt, dann meint er damit, dass im Gespräch, beim Plaudern oder Erzählen ein wenig über die Realität hinausgeschossen wird. Er erzählt fantasievoll, erfindet Geschichten oder schmückt diese aus. Ein Fabulierer ist jemand, der fantasievoll zu erzählen weiß, der meistens auch »Lust am Fabulieren« hat (Fabulierlust). Es wird sogar über die »Kunst zu Fabulieren« (Fabulierkunst) gesprochen. Insgesamt hat dieses Wort also eine eher positive Bedeutung und erhält eine negative Deutung - wenn überhaupt - eher im Kontext einer Aussage (nicht selten von Politikern oder auf Politiker bezogen).
Horst-Dieter Radke

Das Echo

Echo war eine sehr geschwätzige Nymphe. Wenn Juno oft die Nymphen bei ihrem Jupiter auf dem Gebirge ertappen konnte, so verweilte Echo schlau mit ihrem Geschwätze die Göttin so lange, bis die Nymphen entwicht waren. Als Juno dies merkte, sprach sie: »Von nun an bist du dieser verschmitzten Zunge minder mächtig; höchst eingeschränkt soll hinfort der Gebrauch deiner Stimme sein!« Sie bestätigte die Drohung durch die Tat. Sie ward in einen Stein verwandelt, daß nichts als die Stimme von ihr übrig blieb, und zwar nur so viel, daß sie bloß die letzten Wort oder Silben von dem wiederholen konnte, was ihr vorgesagt wurde.
Johann Gottfried Hanisch

Sonntag, 25. Mai 2008

Einfache und zusammengesetzte Fabel

Einfach ist die Fabel, wenn ich aus der erdichteten Begebenheit derselben bloß irgend eine allgemeine Wahrheit folgern lasse …
Zusammengesetzt hingegen ist die Fabel, wenn die Wahrheit, die sie uns anschauend zu erkennen gibt, auf einen wirklich geschehenen oder doch als wirklich geschehen angenommen Fall weiter angewendet wird …
Diese Einteilung aber – kaum brauche ich es zu erinnern – beruht nicht auf einer wesentlichen Verschiedenheit der Fabeln selbst, sondern bloß auf der verschiedenen Bearbeitung derselben.
Lessing, Abhandlungen über die Fabel – I. Vom Wesen der Fabel

Libelle und Fliege


»Siehst du«, sagte die Fliege zur Libelle, die sich vergeblich mühte aus den klebrigen Fängen des Sonnentau freizukommen. »Jetzt helfen dir deine vier Flügel auch nicht mehr«. Sie flog tief befriedigt weiter, um wenige Augenblicke später von der langen Zunge der Eidechse in ein endlos dunkles Nichts gezogen zu werden.
Horst-Dieter Radke

Fabeln - Arbeitstexte für den Unterricht

Hrsg. Therese Poser, Reclam-Verlag, Stuttgart

Dieses erstmals 1975 erschienene Bändchen mit 84 Seiten gibt einen Querschnitt von der Antike (beginnend bei Äsop) bis hin zur Neuzeit (Reiner Kunze). Da die eigentliche Textsammlung nur über 40 Seiten geht, konnte bei der Auswahl natürlich nur das allerwichtigste aufgenommen werden. Immerhin sind auch 9 Seiten Texte »über die Fabel« dabei, kurze Auszüge aus den theoretischen Ausführungen der Fabeldichter über ihr Werk. Quellennachweise, kurze biografische Hinweise zu den Fabeldichtern ergänzen das Buch. Gedacht ist es zwar für den Schulunterricht - aber viel besser liest es sich außerhalb der Bildungsanstalten; nämlich ohne Zwang!

Geeignet, um einen Überblick über die Literaturgattung Fabel zu bekommen und erstes Hintergrundwissen in minimalistischer Form dazu. Preiswert und passt tatsächlich noch in die Hosentasche (Anmerkung für die Damen: auch für Handtaschen geeignet) - es spricht eigentlich nichts dagegen, es sich anzuschaffen um bekannte Fabeln wieder- und andere neu zu entdecken.
Horst-Dieter Radke


Heute noch Fabeln schreiben?

Schau hin, schau her Nun gibt’s keine Fabeln mehr.
Rainer Kunze: Das Ende der Fabeln

Sicher ist die Fabel als moralischer Ermahnung zu Zwecken der Erziehung und Bildung überholt und unnütz geworden. Zumindest in der Form, in der Sie im 18. und 19. Jahrhundert so häufig und beliebig produziert wurden. Aber zahlreiche Fabeln des 20. Jahrhunderts (von Kafka über Brecht bis Schnurre) zeigen, dass sie keinesfalls als ausgestorben gelten kann. Fabeln zu schreiben ist nach wie vor reizvoll, weil es sich um eine kurze literarische Form handelt, die aber keineswegs anspruchslos ist.
Horst-Dieter Radke

Weshalb die Fabel man erfand

Jetzt sei, weshalb die Fabel man erfand,
Noch kurz berichtet. Der bedrängte Sklave,
Der, was er mochte, nicht zu sagen wagte,
Barg seines Herzens Meinung in die Fabel
Und wich dem Vorwurf aus in droll'ger Maske.
Phädrus über Äsop
(Ü: J. Siebelis)

Samstag, 24. Mai 2008

Tapete und Kleister

„Warum lässt du mich nicht los?“ spricht die Tapete zur Wand.
„Du hängst an mir, wie eine Klette - geh doch fort!“ erwidert diese böse.
Höhnisch und trocken knistert zwischen beiden der Kleister.
Horst-Dieter Radke

Deutsche Fabeln des 18. Jahrhunderts

Hrsg. v. Manfred Windfuhr
Reclam, Stuttgart

Einen guten Querschnitt durch die deutsche Fabeldichtung des 18. Jahrhunderts bietet dieses kleine Reclambüchlein auf rund 130 Seiten. Es wird seit 1980 wieder und wieder aufgelegt - nicht zu unrecht, denn um eine derartige Sammlung zu bekommen würde man sich heute schwer tun (auch finanziell). Lessings Fabeln sind allenthalben noch zu haben. Gellert und Gleim vielleicht auch noch, wenn auch wesentlich schwerer. Aber wer kennt noch einen Daniel Wilhelm Triller oder Johann Ludwig Meyer von Knonau? Besonders lesenswert die sechs Fabeln von Johann Heinrich Pestalozzi, von denen einige schon kleine Erzählungen sind und die der Pädagoge ohne erhobenen Zeigefinger zu präsentieren weiß.
Horst-Dieter Radke




Die Wahrheit

Schon forscht man seit viel tausend Jahren,
Warum die Wahrheit nackend geht,
Und nie hat mans gewiß erfahren,
Weil nichts davon in Büchern steht;
Doch endlich deckt der Zeiten Lauf
Der Welt auch dies Geheimnis auf.

Und dich, mein Leser, zu vergnügen:
So sag ich dir durch dieses Lied,
Daß einst die Wahrheit mit der Lügen
In einen harten Streit geriet;
Weil diese jener offenbar
an einem Hofe schädlich war.

So hart sie auf einander gingen,
So blieb der Streit doch ungewiß,
Bis daß die Lügen, in dem Ringen,
Der Wahrheit das Gewand entriß;
Sie floh, und trug seit dieser Zeit
Kein anders als der Wahrheit Kleid.

So kam die Wahrheit in dem Streiten
Um alles Glück, durch ihr Gewand;
Denn nackend ward sie tausend Leuten,
Auch selbst den Klugen, unbekannt.
Hingegen sah fast jedermann
Die Lügen für die Wahrheit an.
Christian Fürchtegott Gellert



Der Rasenmäher


»Ich halte euch kurz«, lachte der Rasenmäher, als er über den Rasen des Vorgartens geführt wurde. »Kein Halm soll vorlaut zu hoch hinaus wachsen und über die Wiese schauen. Ich schneide euch alle ab und mache euch gleich. Gegen meine Schneiden aus Stahl, frisch geschärft, kommt keiner von euch an.«
Demütig hielten die Gräser still und nahmen es hin, auf ein Einheitsmaß gestutzt zu werden.
Der Rasenmäher war noch nicht im Keller verstaut und zur Untätigkeit verdammt, da begannen sie wieder zu wachsen, so wie es ihnen gerade beliebte. Der eine Halm schneller, der andere langsamer und sie dachten nicht des Tages, an dem der unerbittliche Schnitter wieder seinen Dienst antreten sollte.
»Vom vielen Schleifen werden seine Klingen immer kürzer", sagte ein Halm zu seinem Nachbarn. »Wir aber wachsen ständig nach, egal wie oft er noch über uns hinweg fegt.«
»Feuchtigkeit und Nässe lassen ihn rosten«, gab ein dritter Halm hinzu. »Wir aber bekommen durch die Wassertropfen Kraft.«
»Und richten uns grün und stolz der Sonne entgegen«, lachte ein anderer, »während er im dunklen Keller auf den kurzen Ausflug wartet, uns stutzen zu dürfen.«
»Welch sinnloses Unterfangen« riefen alle Halme im Chor.
Horst-Dieter Radke

Freitag, 23. Mai 2008

Äsopus und seine Nachfolger

Äsopus machte die meisten seiner Fabeln bei wirklichen Vorfällen. Seine Nachfolger haben sich dergleichen Vorfälle meistens erdichtet oder auch wohl an ganz und gar keinen Vorfall, sondern bloß an diese oder jene allgemeine Wahrheit bei Verfertigung der ihrigen gedacht. Diese begnügten sich folglich, die allgemeine Wahrheit durch die erdichtete Geschichte ihrer Fabel erläutert zu haben, wenn jener noch über dieses die Ähnlichkeit seiner erdichteten Geschichte mit dem gegenwärtigen wirklichen Vorfalle faßlich machen und zeigen mußte, daß aus beiden, sowohl aus der erdichteten Geschichte als dem wirklichen Vorfalle, sich eben dieselbe Wahrheit bereits ergebe oder gewiß ergeben werde.
Lessing (Abhandlung über die Fabel - I. Von dem Wesen der Fabel)

fabelhaft?!

Woher kommt eigentlich der Ausdruck »fabelhaft«? Schaut man im Grimm nach, findet man die Bedeutung unglaublich, aber auch den Sinn von geschwätzig, kindisch zugeordnet. Letzteres möglicherweise, weil die Fabel zuletzt im 19. Jahrhundert als Belehrung für Kinder verkommen war. Heute hört man dieses Wort nicht mehr so oft. Es ist verdrängt durch Wörter aus der Jugendsprache (schon seit den Siebzigern des 20. Jahrhunderts) wie geil, krass oder cool. Wenn es eingesetzt wird, dann im Sinn von außergewöhnlich oder alle Vorstellungen oder Erwartungen übertreffend.
Horst-Dieter Radke

Der Feuerfunke

Ein Feuerfünkchen stieg empor,
Bewundernd sah es seinen Schimmer
Und sprach: »Auf Erden bleib ich nimmer,
Ich schwinge mich zum Sternenchor.
Ein Licht, das dieser Glanz erhebt,
ist wert, daß es am Himmel schwebt.«

Kaum aber stieg es ins Kamin,
So sank sein Glanz zur Asche hin.

So steigt und fällt ein stolzer Sinn.

Christian Gottlieb Göz

Donnerstag, 22. Mai 2008

Das Papiertaschentuch

Leuchtend weiß, weich und angenehm in der Hand, wird es nur dazu benutzt, Schleim und Rotz hineinzugeben und um anschließend weggeworfen zu werden.
Horst-Dieter Radke