Donnerstag, 30. April 2015

1. Nathan

Nathan, ein Prophet und weiser Lehrer zu Salem, saß unter seinen Jüngern und die Worte der Weisheit flossen wie Honig von seinen Lippen.
Da sprach einer seiner Jünger: Gamaliel: Meister, wie kommt es, daß wir so gern deine Lehren empfangen, und alle horchen der Rede deines Mundes?
Da lächelte der bescheidene Lehrer, und sprach; Heißet mein Name nicht Geben? Der Mensch nimmt ja gerne, wenn man nur zu geben weiß!
Wie giebst du denn? fragte Hillel, ein anderer von denen, die zu seinen Füßen saßen.
Und Nathan antwortete: Ich reiche euch den goldenen Apfel in silberner Schaale. Die Schaale empfanget ihr, – aber ihr findet den Apfel.
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Ein andermal fragte Gamaliel den weisen Nathan und sprach: Meister, warum lehrest du uns in Gleichnissen?
Nathan antwortete und sprach: Siehe, mein Sohn, als ich ein Mann ward, vernahm ich das Wort des Herrn in meinem Herzen, daß ich ein Lehrer des Volkes würde, und der Wahrheit Zeugniß gäbe, und der Geist Gottes kam über mich. Da ließ ich meinen Bart wachsen, und kleidete mich in grob hären Tuch, und ging hinaus unter das Volk und strafte es mit harten gewaltigen Worten. – Aber die Menschen flohen vor mir, und nahmen meine Worte nicht zu Herzen, oder sie deuteten sie auf Andere.
Da ergrimmte ich in meinem Geist, und floh hinaus in die Nacht auf das Gebirge Hermon, und sprach in meinem Herzen: Wollen sie das Licht nicht, so mögen sie in Nacht und Dunkel wandeln, und in der Finsterniß verderben! – So rief ich und wandelte zürnend in der finstern Nacht.
Siehe! Da kam die Dämmerung, und die Morgenröthe stieg am Himmel empor, und der Thau des Morgens troff hernieder auf das Gebirge Hermon. Da entwich die Nacht, und Hermon duftete. Denn der Schimmer des Morgenroths war sanft und lieblich, und die Nebelwolken schwebten um die Gipfel der Berge und leuchteten das Erdreich. Die Menschen aber wandelten fröhlich und schauten zur Morgenröthe empor. Da stieg der Tag vom Himmel hernieder, und die Sonne kam aus den Armen des Morgenroths und bestrahlte die bethaueten Pflanzen.
Und ich stand und schauete, und es ward mir sonderlich im Herzen. Da erhob sich säuselnd der Morgenwind, und ich vernahm im Gesäusel die Stimme des Herrn, die redete zu mir und sprach: Siehe, Nathan, so sendet der Himmel dem Sohn der Erde seine köstlichste und zarteste Gabe, das süße Tageslicht!

Als ich nun vom Gebirge herniederstieg – fuhr der Prophet fort – da führte mich der Geist des Herrn unter einen Granatbaum. Der Baum aber war schön und schattig, und er trug zu gleicher Zeit Blüthen und Früchte.
Und ich stand in seinem Schatten und schauete seine Blüthe an und sprach: O wie ist sie so schön und röthlich, gleich dem zarten Hauch der Unschuld auf den blühenden Wangen der Töchter Israels! –
Und als ich mich näher hinzu neigete, fand ich auch die herrliche Frucht, verborgen in dem Schatten der Blätter.
Da geschah zu mir das Wort des Herrn aus dem Granatbaum und sprach: Siehe, Nathan, so verheisset die Natur in der einfachen Blüthe die köstliche Frucht und reichet sie, ihre Hand verbergend, im Schatten des Laubes!
Und nun – fuhr der weise Nathan fort – kehrt’ ich frohen Muthes nach Salem zurück; ich that mein rauhes Gewand von mir, salbete mein Haupt und lehret die Wahrheit in fröhlicher Weise und in Gleichnissen.
Denn die Wahrheit ist ernst und hat wenig Freunde. Darum erscheinet sie gern in einfach fröhlichem Gewande, menschlich unter den Menschen, ob sie möchte Freunde und Jünger gewinnen.

Friedrich Adolph Krummacher (1767 - 1845)
Parabeln
Essen, 1829

Mittwoch, 29. April 2015

Zitronenfalter im April



Grausame Frühlingssonne,
Du weckst mich vor der Zeit,
Dem nur in Maienwonne
Die zarte Kost gedeiht!
Ist nicht ein liebes Mädchen hier,
Das auf der Rosenlippe mir
Ein Tröpfchen Honig beut,
So muss ich jämmerlich vergehn
Und wird der Mai mich nimmer sehn
In meinem gelben Kleid.


Eduard Mörike (1804-1875)

Dienstag, 28. April 2015

Der Sperling und die Feldmaus


Zur Feldmaus sprach ein Spatz: Sieh dort den Adler sitzen!
Sieh, weil du ihn noch siehst! er wiegt den Körper schon;
Bereit zum kühnen Flug, bekannt mit Sonn' und Blitzen,
Zielt er nach Jovis Thron.
Doch wette, – seh' ich schon nicht adlermäßig aus –
Ich flieg' ihm gleich. – Fleug, Prahler! rief die Maus.

Indes flog jener auf, kühn auf geprüfte Schwingen;
Und dieser wagts, ihm nachzudringen.
Doch kaum, daß ihr ungleicher Flug
Sie beide bis zur Höh' gemeiner Bäume trug,
Als beide sich dem Blick der blöden Maus entzogen,
Und beide, wie sie schloß, gleich unermeßlich flogen.
*
Ein unbiegsamer F* will kühn wie Milton singen.
Nach dem er Richter wählt, nach dem wirds ihm gelingen.

Gotthold Ephraim Lessing

Dienstag, 21. April 2015

Die Muse und der Fabeldichter

Die Muse erschien dem Fabeldichter, und fragte ihn: Warum läßt du doch die Thiere oft vernünftiger sprechen, als die Menschen?

Weil die Menschen, war die Antwort, oft unvernünftiger handeln, als die Thiere.

Heinrich Braun
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Johann Nepomu, Fritz
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Montag, 20. April 2015

Johann Gottlieb Willamov

Johann Gottlieb Willamov wurde am 15. Januar 1736 in Mohrungen, einem kleinen Städtchen Ostpreußens geboren. Der Vater war Pfarrer und unterrichtete seinen Sohn selbst. Im Alter von 16 Jahren begann er an der Universität Königsberg mit dem Studium der Theologie, belegte aber auch Vorlesungen zu Mathematik und den schönen Wissenschaften. 1758 wurde er Professor am Gymnasium in Thorn. Er lebte arm, zunächst aber zufrieden und wurde von seinen Schülern geliebt. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer veröffentlichte er Dithyramben, aber auch ein Buch mit satirischen Grabschriften in Vers und Prosa. Weil die Besoldung auch nach Jahren noch allzu kärglich ausfiel, folgte er einem Ruf im Jahr 1767 nach Petersburg. Herder kritisierte, dass Willamov für das Amt einer pompösen Schule in Petersburg ungeeignet war. Tatsächlich geriet er dort in Schulden und verzichtete 1776 auf die Leitung der deutschen Schule. Mit Privatunterricht und Gelegenheitsschriften fristete er kümmerlich sein Leben. Er geriet ins Gefängnis und starb, kurz nach seiner Entlassung, im Alter von 41 Jahren am 6. Mai 1777.

Willamov war zu Lebzeiten bekannt und wurde von Kollegen wie Herder geschätzt. Man erklärte ihn gar zum preußischen Pindar. Seine Dithyramben und seine Fabeln waren schon zu Lebzeiten berühmt. Sein Gesamtwerk erschien erst nach seinem Tode.

Sonntag, 19. April 2015

Schneckentragödie


Zweiter Versuch

Eine Schnecke, die mit Haus verwegen,
auf jenem breiten Weg hinglitt,
der asphaltglatt von Süd nach Norden,
die Wiese in zwei Hälften schnitt,

Gewitzt durch angeborene Ahnung
zieht sie sich bei Gefahr zurück
in die Windung ihrer Wohnung
vertrauend auf ihr Schutz und Glück.

Da rast in ungebotner Eile
’ne nackte Schneck’ an ihr vorbei
höhnt, du brauchst wohl noch ne Weile,
ich kriech schon mal, ich bin so frei.

Zitternd noch vor Wut und Angst
fängt die Schnecke an zu klagen
Denkst du, dass du alles kannst?
Wirst dich noch zu Tode jagen.

So zieht sie langsam und gemächlich
voll Stolz auf ihrer Bahn dahin
als überschnell ein rasend Auto
sie plattwalzt ohne jeden Sinn.

Der erste Versuch

Horst-Dieter Radke

Samstag, 18. April 2015

Der Esel in der Löwenhaut

Wie sehr betrügt sich der, der nur dem Scheine traut!
Ein Esel prangt‘ einmal in einer Löwenhaut,
Und dachte; Wunder, wer er wäre.
In diese Haut hatt‘ ihn der Dörfer Moliere,
Der, was er spielte, selbst erfand,
Ein Held im Aberwitz, ein zweyter Reibehand,
Zu einem Schauspiel eingenäht,
Den Pöbel zu erfreun, der sich bey Possen freuet,
Der gern um seines gleichen steht.

Wenn er Hannswursten seiht, den Groschen nicht bereuet,
Sich nur zu Puppenspielern drängt,
Und, wo ein Roch entzückt, die Köpfe schläfrig hängt.

Hier möcht ich allzuweit in meinem Eifer gehn,
Und vielen Deutschen nicht verheelen,
Die, weil sie vornehm sind, sich blähn,
Sie wären auch sodann dem Pöbel zuzuzählen,
So weit sie sich auch über ihn erhöhn,
Und also fahr ich fort, vom Esel zu erzählen.

Er war dem Herrn entwischt. Um auch einmal zu schrecken,
Eilt er in einen Wald, der bey dem Dorfe liegt;
Und seine Löwenhaut betrügt.
Gleich liefen Reh und Hirsch, sich furchtsam zu verstecken;
Und selbst das wilde Schwein vergaß den Ungestüm,
Sah ihn mit Ehrfurcht an, und zitterte vor ihm.

Verstellung kann ja wohl im Anfang leicht berücken.
Doch kleinen Geistern laßt sie noch so trefflich glücken!
Die Eitelkeit wird bald durch plötzliches Entzücken
An ihnen zur Verrätherinn.
Den Esel riß die Freude hin.
Gleich hatte sich die ganze Furcht verloren.
Die Thiere sahen ihn mit Spott und Lachen an,
Sobald sie aus des Löwen Ohren
Die langen Ohren kommen sahn.

Ein Thor, den hohe Würden schmücken,
Vermag uns öfters zu berücken.
Er scheint uns wirklich groß zu seyn.
Jedoch er mag sich nur, um Ehrfurcht zu erwecken,
In seine Löwenhaut verstecken,
Es werden ihn die Ohren bald entdecken,
Und er wird wieder klein.


Johann Adolf Schlegels
Fabeln und Erzählungen
Zum Druck befördert von Carl Christian Gärtner
Leipzig, in der Dyckischen Buchhandlung, 1769

Freitag, 17. April 2015

Der Schmetterlingsfang


Der kleine Wilhelm hüpfte an einem frühen Sommermorgen in den garten seines Vaters, um von dem Blumenbeet, welches ihm eigen gehörte, einen Strauß von Nelken und Levkojen zu pflücken, der Mutter zum Geschenk. Denn es war ihr Geburtstag.
Als er nun in den Garten kam, erblickte er einen schönen Sommervogel, der hin und her flatterte. Da vergaß der Knabe Mutter und Blumen, und wollte das Vöglein erhaschen.
Anfangs verfolgt’ er es gebückt und mit leisen Schritten, um es unversehens zu ergreifen, aber mit jedem Schritt wuchs seine Begierde, um das Vöglein dünkte ihm schöner an Fittich und Farben, je mehr es sich entfernte. – Endlich ließ er sich nieder und setzte sich auf ein kleines Obstbäumchen, welches seine ersten Blüthen trug. Dieses aber stand neben dem Blumenbeet, das ihm eigen gehörte, und auch das Bäumchen hatte der Vater ihm geschenkt. Darum, und weil es so klein war und eine schöne Krone trug, liebte der Knabe es sehr.
Als er nun das Sommervöglein auf der Blüthe sitzend erblickte, sprang er eilends hinzu und schlug mit seinem Hut so heftig nach dem Sommervogel auf dem Bäumchen, daß alle Blüthen hernieder fielen und zwei Aeste herabgerissen wurden.
Da sah er bestürzt vor sich nieder zu seinen Füßen, wohin die Zweige gefallen waren, und ward gewahr, daß er auch alle seine Hyacinthen, Levkojen und Nelken zertreten hatte, und der Sommervogel lag todt und zerrissen zu seinen Füßen.
Da kehrte Wilhelm weinend und wehklagend nach Hause zurück, ohne Schmetterling und Blumen – ein Bild leidenschaftlicher Sinnlichkeit, die nach Freuden haschte.

Parabeln von 
Dr. Friedrich Adolph Krummacher
Essen, 1829

Donnerstag, 16. April 2015

Die Mäßigung des Wolfs


»Sie sehen doch, mein Herr, daß ich nicht so gefräßig bin, als mich meine Feinde insgemein ausgeben«  sprach ein an der Holz-Kette fortgeschleifter Wolf zum Jäger, dem er einige übrig gelassene dürre Knochen wiese. »Du sollst auch«, antwortete ihm jener, »nicht um der Knochen willen, sondern nur vor das Fleisch büssen, das du davon gefressen hast.«

Friedrich Carl von Moser
Der Hof in Fabeln
Leipzig 1762

Mittwoch, 15. April 2015

Der sterbende Pfau


Ein sterbender Pfau vermachte wenige Augenblicke vor dem Tode seinen schönen Schweif dankbar dem Hausherrn, der ihn ernährt hatte.
Seine Kinder beschwerten sich darüber, weil nun das vorzüglichste Stück ihrer Erbschaft verloren gehe.
“O, rief der Vater ihnen zu: ihr seid nicht meine Söhne, wenn ihr nicht, auch unbeschenkt einst ähnliche Schweife tragte.”

Söhne berühmter oder verdienstvoller Männer, ihr müßt Ruhm und Verdienst euch selbst erwerben, wenn ihr eurer Väter würdig seyn wollt!

A.G. Meißners 
Fabeln in VIII Büchern
Neue, vom Verfasser selbst besorgte Ausgabe, Theil I.
Mit 100 Holzschnitten von Gubiz.
Berlin, in der fröhlich’schen Buchhandlung 1807

Dienstag, 14. April 2015

Der Affe und der Leopard


Der Affe und der Leopard
Verdienten auf der Messe Geld,
Indem sie sich zur Schau gestellt,
Einer des andern Widerpart.
Der eine rief: »Ihr lieben Leute,
Mein Ruf und Ruhm ist nicht von heute,
Ich bin bekannt an höchster Stell;
Der König kam, um mich zu sehen,
Und sterb ich einst, dann soll mein Fell
Als Muff sich um die Hände drehen
Der allergnädigsten Königin.
Betrachtet mich, wie bunt ich bin:
Gestreift, gesprenkelt und geschenkt,
Getupft, beringelt und gefleckt.«

Das bunte Spiel der Haut gefiel
Für einen Blick als Augenziel,
Ein jeder sah es flüchtig an
Und wendete sich weiter dann.

Der Affe rief: »Herbei, herbei,
Ihr edlen Herrn und schönen Damen!
Ich kenne Künste mancherlei
Und nicht nur nach dem Namen.
Die Buntheit, die ihr hier
Bei meinem Nachbarn schaut,
Die trag ich auch bei mir,
Doch nicht auf meiner Haut,
Vielmehr in meinem Geist.
Weit bin ich hergereist,
Drei Schiffe haben mich getragen.
Muß ich noch meinen Namen sagen?
Hier steht Hans Wurst! Zwiefach verwandt
Mit Bertrand, der des Papstes Affe.
Gesegelt ist er und gerannt,
Damit er hier euch Kurzweil schaffe.
Er tut's! Man höre, schau und staune:
Er ist ein Tänzer, ist ein Hexer,
Springt Seil und Reifen, bläst Posaune –
Und alles dies für einen Sechser.
Was sag ich? Schon für einen Sou!
Und wenn euch seine Kunst mißfällt,
So geht und schaut nicht länger zu,
Ihr kriegt zurück das Eintrittsgeld.«

Der Affe redete gescheit.
Es gilt die Mannigfaltigkeit
Des Geistes mehr als die am Kleid:
Ein buntes Fell
Ermüdet schnell,
Ein bunter Geist dagegen
Weiß immer anzuregen.

Es gibt, dem Leoparden gleich,
So manchen Herrn, der, stolz und reich,
Als einziges Talent
Sein Kleid nur hat und kennt.

Lafontaine, Jean de

Montag, 13. April 2015

Der Knabe und der Kukuk

Der Knabe

Niemals, Kukuk, rufest du
Mehr als deinen eignen Namen,
Und doch horcht dir jedes zu,
Wie die Herren, so die Damen.

Kukuk

Meiner rauhen Stimme Ton,
Kann zum Singen sich nicht biegen;
Doch, im Rufen kann ich schon
Ueber viele Vögel siegen.

Weil ich gar nichts Bessres weiß,
Bleib ich bei der alten Weise,
Und doch lauschet man mit Fleiß,
Wie ich selbst mich immer preise.

Immer macht des Schwätzers Mund,
Uns schon längst bekannte Sachen,
Mit Beredsamkeit noch kund,
Wenn wir, was er spricht, belachen.

Karoline Stahl: Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder.
Nürnberg 1821, S. 73-74.

Sonntag, 12. April 2015

Die gekränkten Schafe

Die Schafe kamen einst zusammen, um Klage zu führen gegen die Menschen. Besonders heftige Stimmen erhoben sich bei den jungen Schafen dagegen, daß die Menschen immer wieder aufs neue den ehrlichen Namen der Schafe schänden, indem sie ihn in beschimpfender Absicht gebrauchen, wenn sie jemand als dumm bezeichnen wollen. Darin sahen alle Schafe eine schwere Kränkung. Sie wählten deshalb eine Abordnung, die von den Menschen verlangen sollte, daß sie in Zukunft den Schafsnamen nicht mehr als Schimpfwort gebrauchen. Wenn aber die Menschen in ihren Beleidigungen fortfahren würden, dann wollten sich die Schafe von den Schändern ihres Namens nicht mehr die Wolle abscheren lassen.

Die jungen Schafe verlangten, daß ein junger Widder die Abordnung führen sollte. Aber die Alten machten dagegen die Besorgnis geltend, der junge Widder könne durch sein wildes Ungestüm und sein jugendliches Feuer bei den Verhandlungen mit den Menschen alles verderben. Daraufhin entschied die Mehrheit der Versammlung, daß ein alter, erfahrener Hammel die Führung der Abordnung zu übernehmen habe.

Nach einiger Zeit versammelten sich die Schafe wieder. Sie wollten hören, wie sich die Menschen zu ihrer Forderung stellten.

Der alte, erfahrene Hammel, der die Verhandlungen geführt hatte, hielt eine große Rede, worin er die wichtigsten Punkte vortrug: Die Menschen hätten versichert, daß sie den Namen der Schafe überhaupt nicht in beschimpfender oder kränkender Absicht gebrauchen. Im Gegenteil! Sie würden nur solche Menschen mit dem Schafsnamen auszeichnen, die die größte Tugend der Schafe – die Sanftmut – in besonders hohem Grade besitzen. Er, der Hammel, habe den Eindruck sich die letzte Versammlung von denJungen ohne Grund habe aufwiegeln lassen. Nach seiner Meinung liege kein Anlaß vor, sich gekränkt zu fühlen; er empfehle deshalb den Schafen, daß sie, wie bisher, sich auch in der Zukunft von den Menschen scheren lassen sollten.

Die jungen Schafe protestierten. Die Mehrheit der Versammlung blökte ein zustimmendes »Baäh!«. Und es blieb alles, wie es war.

Felix Fechenbach

Geboren 1894 in Bad Mergentheim. Sekretär des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (1918-19). Auf Grund eines Willkürurteils 1922 - 1924 Zuchthaus. 1925 - 29 tätig für verschiedene Verlage und Zeitungen, leitete seit 1929 die Detmolder SPD-Zeitung. 1933 beim Transport in ein KZ ermordet.

Felix Fechenbachs schriftstellerische Arbeit, bedingt durch sein kurzes Leben nicht sehr umfangreich, wird kaum noch wahrgenommen. Um so erfreulicher ist es, dass im westfälischen Aisthesis-Verlag ein Taschenbuch mit einer Auswahl aus seinem Werk preisgünstig zu bekommen ist.



Samstag, 11. April 2015

Der Habicht und der Storch


Ein Habicht schoß auf eine Lerche herab und ergriff sie mit seinen tödlichen Krallen. Er wollte sie rupfen, da störte ihn ein Storch, der die Jagd mitangesehen hatte.

"Die arme, kleine Lerche!" seufzte er vorwurfsvoll. "Eben hat mich ihr lieblicher Gesang noch erfreut."

"Spare dir dein Mitleid", meinte der Habicht schroff, "der Frosch, den du gerade verspeist hast, quakte vorhin auch noch so fröhlich."

Freitag, 10. April 2015

Fabelglossar

fabelhafte Helden
Helden aus der Fabelzeit

Fabelheld
der F., ein fabelhafter Held, von welchem keine zuverlässige Nachrichten vorhanden sind.

Fabelreich
ein fabelhaftes Land

Fabellehre
die Lehre von den Fabeln der alten (Mythologie)

Fabellehrig
zur Fabellehre gehörig, aus der Fabellehre genommen (mythologisch)

Fabellese
die F., eine Lese, Sammlung oder Auswahl von Fabeln

Theodor Heinsius
Vollständiges Wörterbuch der deutschen Sprache …
Wien 1828

Donnerstag, 9. April 2015

Die Biene und die Taube

Ein Bienchen fiel in einen Bach,
Dies sah voll Mitleid eine Taube,
Und warf ein Blättchen von der Laube
Ihr zu: das Bienchen schwamm darnach,
Und half sich glücklich aus dem Bach.
Den andern Tag saß unsre Taube
In Frieden wieder auf der Laube.
Ein Jäger hatte jtzt den Hahn auf sie gespannt.
Mein Bienchen kam, pick! stach’s ihm in die Hand,
Paff! ging der Schuß daneben.
Die Taub’ entfloh. Wem dankt’ sie nun ihr Leben?
Nimm dich voll Menschenhuld der Kleinsten willig an,
Auch wisse, daß dir oft der Kleinste nützen kann.

Auswahl von Fabeln für die Jugend mit 16 illuminirten Bildern
Im Verlage der lithographischen Anstalt
Winckelmann & Söhne in Berlin, 1832

Mittwoch, 8. April 2015

Die beiden Kahlköpfe


In einem Winkle glänzt ein Stückchen Elfenbein.
Zwei Kahlköpfe, die es gerade sehen, schrei’n:
»Dieß ist ein Fund für mich!« Sie streiten hin und her,
Zuerst mit Worten, dann mit Fäusten, ja noch mehr,
Sie raufen sich sogar die wen’gen Haare aus;
Doch kommt der Sieger nun nach heißem Kampf nach Haus
Und will sich freun an der errung’nen Beute,
Erblickt er einen Kamm zu seinem Leide!

frei metrisch bearbeitet von
Conrad Samhaber
kgl. Kreis- und Stadtgerichts-Rahte zu Fürth
München, 1834

Dienstag, 7. April 2015

Der fromme Reinecke Fuchs

Reinecke wollte sich im Thierreiche empor schwingen, und sann auf Mittel, wie er recht reich, bey Hofe recht ansehnlich, und überhaupt recht glücklich werden könnte.

Vor allen schlich er in Jupiters Hayne andächtig herum, und so oft ihn der König Löw sah, bückte er sich bis auf den Boden vor dem Bilde Jupiters, und seufzte gleich dem strengsten Büßer. Kein Opfer ward dem Gott der Götter angezündet, wo er nicht miträucherte, und kein Fest angestellt, wo er nicht gegenwärtig war.

Alles, was Frömmigkeit schien, that er, und als man ihn fragte, warum er es thäte, gab er zur Antwort: Ich suche nicht fromm zu seyn, sondern nur fromm zu scheinen, und diese Frömmigkeit ist manchesmal zu vielem nutze.

Heinrich Brauns Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz, und Augspurg bey Iganz Anton Wagner.

Sonntag, 5. April 2015

Der Fuchs und die Pauke

Ein Fuchs kam in einen Wald, in welchem eine Pauke an einen Baum aufgehängt war. So oft ein Wind wehte, schlugen die durch denselben bewegten Zweige die Pauke an, und es erschallte ihr starker, bewundernswürdiger Ton. Der Fuchs ging dem Ton, den er vernommen nach, bis er zur Pauke kam. Er fand dieselbe sehr dickleibig, und glaubte deshalb sicherlich, daß sie viel Fett und Fleisch haben müsse. Er machte sich dann an dieselbige, bis daß er sie entzwei brachte. Allein als er sah, daß sie hohl war und nichts in ihr, sprach er:

Ich weiß nicht, wie das möglich ist, daß das gehaltloseste Ding den lautesten Ton von sich gibt und den größten Körperumfang hat.

Calila und Dimna
oder
die Fabeln Bidpai’s.
Aus dem Arabischen von Philipp Wolff
Doctor der Philosophie, Privatdocenten der Orientalischen Literatur an der königl. Universität zu Tübingen, Mitglied der asiatischen Gesellschaft von Paris.

Erstes Bändchen
Stuttgart: J. Scheible’s Buchhandlung, 1837

Freitag, 3. April 2015

Das unvermeidliche Schicksal


Eine Maus sah in einiger Entfernung die Katze. Sie hatte von ihrer Feindschaft gehört, und eine grosse Furcht vor ihr gefaßt. Aber sie beruhigte sich, da sie eine Mausfalle neben ihr stehen sah. Hier, sagte sie, habe ich einen sichern Schirm, wenn die Katze sich zu mir nähern wollte. Dieses köstliche Werk ist mir zum Schirm hierher gestellt. Ich kann mich augenblicklich dahinein flüchten, und durch einen schlauen Druck die Thüre zuschliessen, so bin ich wie in einer Festung vor den Klauen aller Katzen bewahrt. Die Katze that einen Sprung nach ihr, im Augenblicke floh die Maus in die Falle und drückte sie zu. Die Katze sagte: Noch bist du mein Raub, du bist dem Schicksal auf dem Wege entgegen gegangen, auf welchem du ihm zu entfliehen gedachtest.

Lessingische, unäsopische Fabeln
Enthaltend die sinnreichen Einfälle und weisen Sprüche der Thiere
Nebst damit einschlagender Untersuchung der Abhandlung Herrn Lessings von der Kunst Fabeln zu verfertigen
Zweyte Auflage
Zürich, bey Orell, Geßner und Comp. 1767

Donnerstag, 2. April 2015

Die Schlange

Es war einmal ein Weißer, so erzählt man, der traf eine Schlange, auf die ein großer Stein gefallen war, so daß sie sich nicht aufrichten konnte. Da hob der Weiße den Stein von der Schlange auf. Als er ihn aber aufgehoben hatte, wollte die Schlange ihn beißen. Der Weiße sagte jedoch: »Halt! Laß uns Beide erst zu klugen Leuten gehen!« So gingen sie denn und kamen zur Hyäne. Die sagte der Weiße: »Ist es auch wohl recht, daß die Schlange mich nun beißen will, obwohl ich ihr half, da sie hilflos unter dem Steine lag?« Die Hyäne erwiderte: »Nun, was wäre das denn Großes, wenn Du gebissen würdest?« Da wollte ihn die Schlange beißen, aber der Weiße sprach wieder: »Warte erst, und laß uns zu andern klugen Leuten gehen, damit ich höre, ob es auch recht ist!«

Als sie weiter gingen, trafen sie den Schakal. Da redete der Weiße den Schakal an: »Ist’s auch wohl recht, daß die Schlange mich beißen will, obschon ich den Stein aufhob, der auf ihr lastete?« Der Schakal erwiderte: »Ich kann es mir gar nicht vorstellen, daß die Schlange so vom Stein bedeckt sein konnte, daß sie nicht im Stande war aufzustehen. Nur wenn ich’s mit meinen eigenen Augen sähe, würde ich’s glauben. Kommt, wir wollen uns auf den Weg machen und zusehen, ob’s möglich ist.«
So machten sie sich denn Alle auf und gingen nach der Stelle, wo es geschehen war. Dort angekommen sprach der Schakal: »Schlange, lege Dich nieder und laß Dich mit dem Stein bedecken.« Da legte der Weiße den Stein auf sie, und, obschon sie sich sehr anstrengte, konnte sie doch nicht aufstehen. Der weiße Mann wollte den Stein wieder aufheben, aber der Schakal sprach: »Laß sie nur liegen, sie wollte Dich ja beißen; sie mag allein aufstehen!«

Und Beide gingen davon.

Reineke Fuchs in Afrika
Fabeln und Märchen der Eingebornen
nach
Originalhandschriften der Grey’schen Bibliothek
in der Kap-Stadt und andern authentischen Quellen
Von: Dr. W. H. J. Bleek, Weimar, 1870