Donnerstag, 30. April 2015

1. Nathan

Nathan, ein Prophet und weiser Lehrer zu Salem, saß unter seinen Jüngern und die Worte der Weisheit flossen wie Honig von seinen Lippen.
Da sprach einer seiner Jünger: Gamaliel: Meister, wie kommt es, daß wir so gern deine Lehren empfangen, und alle horchen der Rede deines Mundes?
Da lächelte der bescheidene Lehrer, und sprach; Heißet mein Name nicht Geben? Der Mensch nimmt ja gerne, wenn man nur zu geben weiß!
Wie giebst du denn? fragte Hillel, ein anderer von denen, die zu seinen Füßen saßen.
Und Nathan antwortete: Ich reiche euch den goldenen Apfel in silberner Schaale. Die Schaale empfanget ihr, – aber ihr findet den Apfel.
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Ein andermal fragte Gamaliel den weisen Nathan und sprach: Meister, warum lehrest du uns in Gleichnissen?
Nathan antwortete und sprach: Siehe, mein Sohn, als ich ein Mann ward, vernahm ich das Wort des Herrn in meinem Herzen, daß ich ein Lehrer des Volkes würde, und der Wahrheit Zeugniß gäbe, und der Geist Gottes kam über mich. Da ließ ich meinen Bart wachsen, und kleidete mich in grob hären Tuch, und ging hinaus unter das Volk und strafte es mit harten gewaltigen Worten. – Aber die Menschen flohen vor mir, und nahmen meine Worte nicht zu Herzen, oder sie deuteten sie auf Andere.
Da ergrimmte ich in meinem Geist, und floh hinaus in die Nacht auf das Gebirge Hermon, und sprach in meinem Herzen: Wollen sie das Licht nicht, so mögen sie in Nacht und Dunkel wandeln, und in der Finsterniß verderben! – So rief ich und wandelte zürnend in der finstern Nacht.
Siehe! Da kam die Dämmerung, und die Morgenröthe stieg am Himmel empor, und der Thau des Morgens troff hernieder auf das Gebirge Hermon. Da entwich die Nacht, und Hermon duftete. Denn der Schimmer des Morgenroths war sanft und lieblich, und die Nebelwolken schwebten um die Gipfel der Berge und leuchteten das Erdreich. Die Menschen aber wandelten fröhlich und schauten zur Morgenröthe empor. Da stieg der Tag vom Himmel hernieder, und die Sonne kam aus den Armen des Morgenroths und bestrahlte die bethaueten Pflanzen.
Und ich stand und schauete, und es ward mir sonderlich im Herzen. Da erhob sich säuselnd der Morgenwind, und ich vernahm im Gesäusel die Stimme des Herrn, die redete zu mir und sprach: Siehe, Nathan, so sendet der Himmel dem Sohn der Erde seine köstlichste und zarteste Gabe, das süße Tageslicht!

Als ich nun vom Gebirge herniederstieg – fuhr der Prophet fort – da führte mich der Geist des Herrn unter einen Granatbaum. Der Baum aber war schön und schattig, und er trug zu gleicher Zeit Blüthen und Früchte.
Und ich stand in seinem Schatten und schauete seine Blüthe an und sprach: O wie ist sie so schön und röthlich, gleich dem zarten Hauch der Unschuld auf den blühenden Wangen der Töchter Israels! –
Und als ich mich näher hinzu neigete, fand ich auch die herrliche Frucht, verborgen in dem Schatten der Blätter.
Da geschah zu mir das Wort des Herrn aus dem Granatbaum und sprach: Siehe, Nathan, so verheisset die Natur in der einfachen Blüthe die köstliche Frucht und reichet sie, ihre Hand verbergend, im Schatten des Laubes!
Und nun – fuhr der weise Nathan fort – kehrt’ ich frohen Muthes nach Salem zurück; ich that mein rauhes Gewand von mir, salbete mein Haupt und lehret die Wahrheit in fröhlicher Weise und in Gleichnissen.
Denn die Wahrheit ist ernst und hat wenig Freunde. Darum erscheinet sie gern in einfach fröhlichem Gewande, menschlich unter den Menschen, ob sie möchte Freunde und Jünger gewinnen.

Friedrich Adolph Krummacher (1767 - 1845)
Parabeln
Essen, 1829

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