Montag, 20. Juni 2016

Parabel

Es ereigneten sich einst allerlei seltsame Erscheinungen, worüber die Menschen in Sorge und Angst gerieten, weil nur eine schlimme Vorbedeutung darin erkannt werden konnte. Feurige Drachen stiegen aus der Erde, und einer verschlang den andern; Todtensärge schwebten in den Lüften, und drüber her lagen weiße Knochen und blanken Schwerter; Gräber öffneten sich, und bleiche, grinzende Larven gingen daraus hervor, mit drohender Bewegung.

Die Leute standen da, fast starr vor Schrecken, und seufzten über diese Zeichen. Unter der Menge befand sich aber auch ein Mann, der lachte höhnisch und sprach: die Umstehenden möchten wohl bethört seyn, ja vielleicht wahnsinnig, denn Er sehe von alle dem nichts, der Himmel sey vielmehr ungewöhnlich klar, und der Boden habe noch nie so viele Blumen und Kräuter getragen.

Die ihm zunächst standen, blickten den Mann mit Erstaunen an, aber bald merkten sie, daß er die Augen hinten am Kopfe habe, und unverrückt nach der Seite hinstarre, wo auch in der That von den furchtbaren Erscheinungen nichts wahrgenommen werden konnte. Sie wollten ihn darüber belehren, der Mann aber hieß sie dummes Gesindel, vom lieben Gott mit Blindheit geschlagen. Er allein sey sehend, und wolle alsbald nach Haus gehen, und es ausrufen und auch drucken lassen, daß sie den Verstand verloren hätten.

Aloys Schreiber

Sonntag, 19. Juni 2016

Parabel

Es ging ein Mann im Syrerland,
Führt' ein Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
Urplötzlich anfing, scheu zu werden,
Und tat so ganz entsetzlich schnaufen,
Der Führer vor ihm mußt' entlaufen.
Er lief und einen Brunnen sah
Von ungefähr am Wege da.
Das Tier hört er im Rücken schnauben,
Das mußt' ihm die Besinnung rauben.
Er in den Schacht des Brunnens kroch,
Er stürzte nicht, er schwebte noch.
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
Aus des geborstnen Brunnens Bauch;
Daran der Mann sich fest tat klammern,
Und seinen Zustand drauf bejammern.
Er blickte in die Höh', und sah
Dort das Kamelhaupt furchtbar nah,
Das ihn wollt oben fassen wieder.
Dann blickt er in den Brunnen nieder;
Da sah am Grund er einen Drachen
Aufgähnen mit entsperrten Rachen,
Der drunten ihn verschlingen wollte,
Wenn er hinunterfallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte
Da sah der Arme noch das Dritte.
Wo in die Mauerspalte ging
Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,
Da sah er still ein Mäusepaar,
Schwarz eine, weiß die andere war.
Er sah die schwarze mit der weißen
Abwechselnd an der Wurzel beißen.
Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
Die Erd' ab von der Wurzel spülten;
Und wie sie rieselnd niederrann,
Der Drach im Grund aufblickte dann,
Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
Der Strauch entwurzelt fallen würde.
Der Mann in Angst und Furcht und Not,
Umstellt, umlagert und umdroht,
Im Stand des jammerhaften Schwebens,
Sah sich nach Rettung um vergebens.
Und, da er also um sich blickte,
Sah er ein Zweiglein, welches nickte
Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;
Da konnt' er doch der Lust nicht wehren.
Er sah nicht des Kameles Wut,
Und nicht den Drachen in der Flut,
Und nicht der Mäuse Tückespiel,
Als ihm die Beer' ins Auge fiel.
Er ließ das Tier von oben rauschen,
Und unter sich den Drachen lauschen,
Und neben sich die Mäuse nagen,
Griff nach den Beerlein mit Behagen,
Sie däuchten ihm zu essen gut,
Aß Beer auf Beerlein wohlgemut,
Und durch die Süßigkeit im Essen
War alle seine Furcht vergessen.

Du fragst: Wer ist der töricht Mann,
Der so die Furcht vergessen kann?
So wiß, o Freund, der Mann bist du;
Vernimm die Deutung auch dazu.
Es ist der Drach im Brunnengrund
Des Todes aufgesperrter Schlund;
Und das Kamel, das oben droht,
Es ist des Lebens Angst und Not.
Du bist's, der zwischen Tod und Leben
Am grünen Strauch der Welt muß schweben.
Die beiden, so die Wurzel nagen,
Dich samt den Zweigen, die dich tragen,
Zu liefern in des Todes Macht,
Die Mäuse heißen Tag und Nacht.
Es nagt die schwarze wohl verborgen
Vom Abend heimlich bis zum Morgen,
Es nagt vom Morgen bis zum Abend
Die weiße, wurzeluntergrabend.
Und zwischen diesem Graus und Wust
Lockt dich der Beere Sinnenlust,
Daß du Kamel die Lebensnot
Daß du im Grund den Drachen Tod,
Daß du die Mäuse Tag und Nacht
Vergissest, und auf Nichts hast acht,
Als daß du recht viel Beerlein haschest
Aus Grabes Brunnenritzen naschest.

Friedrich Rückert