Samstag, 25. Dezember 2021

Buddha und der Weihnachtsmann


 Buddha und der Weihnachtsmann

Als der Erhabene wieder einmal im Winter durch die nasskalte Stadt wanderte, sah er am Rande eines Parks einen der zahlreichen Obdachlosen auf einer Bank kauern. Allerdings unterschied sich dieser Stadtstreicher von den anderen durch seinen roten Mantel und die gleichfarbige Zipfelmütze. Der ungepflegte Bart, die schmutzigen Schuhe und der alte Sack, in dem er wohl sein Hab und Gut verwahrte, wiesen ihn jedoch eindeutig als einen dieser Sandler aus. Buddha sah ihm in die müden Augen und fragte: »Kann ich dir irgendwie helfen, mein Freund?«
Der Alte sah nur flüchtig zu ihm hin. »Mir kann keiner helfen«, brummte er. »Die Welt ist aus den Fugen. Man ist laut und lärmend und übersieht alles Stille und Leise. In den Krankenhäusern sterben die Leute an gefährlichen Viren, doch viele laufen mit Schildern die Straße entlang und werfen Fensterscheiben ein. Alles sei eine große Verschwörung, behaupten die Querköpfe.«
»Das kommt einem ja vor, als glaubten die noch an den Weihnachtsmann«, bestätigte der Buddha mitfühlend.
»Dann wäre ja alles in bester Ordnung«, klagte der Alte. »Aber mich erkennt ja noch nicht einmal der Erhabene.«
Dieser aber lächelte. »Erkennen und kennen sind zwei Stiefel«, sagte er. »Ein Kostüm mag einen hohen Erkennungswert haben, aber was drinnen steckt, ist damit noch lange nicht im Blick.«
»Ich kenne mich ja kaum selber«, klagte der Weihnachtsmann.
»Siehst du«, antwortete Buddha. »Deshalb musst du auch wieder und wieder mit Sack und rotem Mantel durch die kalte Winterwelt stiefeln.«
»Und wie kann ich das ändern?«
»Ich fürchte, mein Freund, die Selbsterkenntnis allein genügt in deinem Fall nicht. Hinzu kommen muss noch, dass es in den Herzen der anderen wärmer wird. Dann schmelzen nicht nur die Eiswänden zwischen den Menschen, sondern auch die unsinnigen Verschwörungstheorien.«
»Und gibt es Hoffnung?«
»Die gibt es, aber nicht jeder will sie sehen. Ein wenig kannst du dabei aber helfen.«
Der Alte mit dem Zauselbart stand auf, schulterte den Sack und sagte: »Na dann …«, hob zum Gruß die Hand und schlurfte davon.
Der Erhabene blieb noch eine Weile sitzen und schaute zu, wie eine der wenigen Schneeflocken, die vom Himmel schwebten, auf seiner Nase landete und wenige Augenblicke später schmolz. Genau so verblasste er selbst und hinterließ nur einen kleinen trockenen Fleck auf der Bank, der eine halbe Stunde später auch nicht mehr zu sehen war.

Horst-Dieter Radke

 

Mittwoch, 22. Dezember 2021

Der Vogel und die Affen

Es lebte einmal in einem Walde eine Affenherde; einst an einem kalten Tage sahen die Affen einen Leuchtkäfer, den sie für ein Feuer hielten. Sie fingen ihn, legten Laub und dürres Gras darauf und hofften, damit ein Feuer anzuzünden; einer von ihnen blies noch mit vollen Backen den Leuchtkäfer an. Dies sah der Vogel Spitzschnabel und sprach zu ihm: »Das ist so kein Feuer, das ist ein Leuchtkäfer. Gib dir keine Mühe!« Der Affe kehrte sich nicht an diese Worte, sondern fuhr fort mit Blasen; da stieg der Vogel vom Baume, näherte sich ihm und wollte  ihn mit aller Gewalt von dem törichten Beginnen abhalten. Darob erzürnte sich schließlich der Affe und warf einen Stein nach Spitzschnabel, daß er zermalmt wurde.

aus: Hans Schacht: Indische Erzählungen
aus dem Sanskrit ins Deutsche übertragen
Lausanne und Leipzig, 1918

Montag, 18. Januar 2021

Spricht die Stufe.

 "Du Tor! du Tor! Weil du mich überschritten hast, verachtest du mich? Ständest du, wo du stehst, wenn ich nicht gewesen wäre?"

Marie von Ebner-Eschenbach