Dienstag, 25. August 2009

Alice und der Greif

Quelle: Wikisourse

Sie kamen bald zu einem Greifen, der in der Sonne lag und schlief. (Wenn ihr nicht wißt, was ein Greif ist, seht euch das Bild an.) »Auf, du Faulpelz,« sagte die Königin, »und bringe dies kleine Fräulein zu der falschen Schildkröte, sie möchte gern ihre Geschichte hören. Ich muß zurück und nach einigen Hinrichtungen sehen, die ich angeordnet habe;« damit ging sie fort und ließ Alice mit dem Greifen allein. Der Anblick des Thieres gefiel Alice nicht recht; aber im Ganzen genommen, dachte sie, würde es eben so sicher sein, bei ihm zu bleiben, als dieser grausamen Königin zu folgen, sie wartete also.

Der Greif richtete sich auf und rieb sich die Augen: darauf sah er der Königin nach, bis sie verschwunden war; dann schüttelte er sich. »Ein köstlicher Spaß!« sagte der Greif, halb zu sich selbst, halb zu Alice.

»Was ist ein Spaß?« frage Alice.

»Sie,« sagte der Greif. »Es ist Alles ihre Einbildung, das: Niemand wird niemals nicht hingerichtet. Komm schnell.«

Lewis Carroll
Alice’s Abenteuer im Wunderland
Übersetzt von:
Antonie Zimmermann (1869)

Sonntag, 23. August 2009

Der Greif



Es war einmal ein Mann, der wohnte in der Wildnis mit seinen zwei Kindern, einem Knaben und einem Mädchen. Als seine Kinder kaum etwas herangewachsen waren, ging der Vater eines Tages an die Küste. In der Nacht erhob sich ein starkes Geräusch; denn ein Greif kam geflogen, setzte sich auf das Dach des Hauses, in dem die Kinder allein waren und machte sie furchtsam, indem er sprach:
»So, ihr Kinder, nun ist mein Essen bereit! Wohin ist euer Vater gegangen?«
Sie antworteten:
»An die Küste.«
Der Greif sagte:
»Gut! So will ich mein Essen haben.«
Da fürchteten sich die Kinder und zeigten ihm die Hühner ihres Vaters. Die verzehrte der Vogel und machte sich davon.
In der zweiten Nacht schlief der Vater an der Küste. Der Greif kam wieder auf das Dach geflogen und sprach zu den Kindern die gleichen Worte wie am Tage vorher. Da waren die Kinder sehr ängstlich und zeigten ihm die Ziegen ihres Vaters, die verspeiste er und flog fort.
In der dritten Nacht war der Mann nicht mehr sehr weit von seinem Hause entfernt. Der Greif kam wieder auf das Haus geflogen und sprach, wie er vordem gesprochen hatte. Die Kinder fürchteten sich und zeigten ihm die Hunde. Die fraß er auf und flog davon.
Am folgenden Morgen kehrte der Vater heim. Er begrüßte seine Kinder, fand sie aber krank und abgemagert. Deshalb fragte er sie:
»Warum seid ihr so mager geworden, meine Kinder?«
Da berichteten sie, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Der Vater hörte schweigend zu und überlegte, wie er wohl am besten des Greifes habhaft werden könne. Er hatte an der Küste starke Pfeile gekauft und hoffte, mit ihnen den bösen Vogel zu erlegen. Als die Sonne untergegangen war, begab er sich mit seinen Kindern ins Haus, schloß die Türe zu und machte eine Luke in das Grasdach. Es dauerte gar nicht lange, bis der Vogel kam und sich gerade vor der Luke auf dem Dache niederließ.
Er rief die Kinder und fragte:
»Wohin ist euer Vater gegangen?«
Der Vater aber hatte den Kindern befohlen, den Greif wütend zu machen; deshalb antworteten sie:
»Du Taugenichts und Bösewicht, warum läßt du uns nicht in Frieden? Du hast unsere Hühner, Ziegen und Hunde gefressen, heute bekommst du nichts!«
Da wurde der Vogel sehr zornig und rief:
»Wie kommt es, daß ihr mich heute beschimpft? Ich werde kommen und euch selber fressen.«
Mit diesen Worten versuchte er, in das Haus einzudringen; aber der Vater nahm geschwind seinen Bogen und seine Pfeile und schoß. Da fiel der Greif blutend zu Boden, und ein zweiter Schuß tötete ihn. Der Vater ging nun mit seinen Kindern vor die Tür des Hauses, wo der tote Vogel lag; sie rupften ihn und bereiteten ihn zu, daß er gebraten werden konnte. Darauf legten sie das Fleisch an das Feuer, und der Vater sprach zu den Kindern:
»Ich gehe jetzt auf das Feld. Gebt wohl acht, daß das Fleisch gut gebraten ist, wenn ich wiederkomme, und eßt nicht davon, denn ich will es allein essen.«
Der Knabe aber spürte Lust, von dem Gericht zu kosten, trat herzu, hob den Deckel von dem Topf auf, in dem das Fleisch war, und wollte eben zulangen, als er eine Stimme hörte, die rief:
»Iß mich nicht, iß mich nicht!«
Da lief der Knabe davon. Bald aber kehrte er zurück, ergriff schnell ein Stück des Fleisches und aß. Da erscholl die Stimme des Fleisches wiederum laut und deutlich, so daß die Schwester des Knaben sie hörte, herzulief und fragte:
»Warum hast du von dem Fleisch gegessen?«
Ihr Bruder wurde darauf sehr böse und schalt sie und gab ihr allerlei Namen. Da lief das Mädchen auf das Feld zu dem Vater und erzählte ihm alles. Als beide bald darauf nach Hause zurückkehrten, fanden sie den Knaben in einen Büffel verwandelt. Der Vater rief ihm zu:
»Wenn du Säbelantilopen siehst, so folge ihnen nicht; wenn du Elefanten siehst, folge ihnen nicht; wenn du eine Herde Büffel siehst, so folge ihnen!«
Da rannte der Büffel davon und verschwand in dem Walde; der Vater blieb mit der Tochter allein zurück.
T.Heid
afrikanisches Märchen, 1904

Samstag, 22. August 2009

Kennen Sie kein fabelhaftes Thier ...

E. Kenne Sie kein fabelhaftes Thier, das auf den Bergen der ältesten Welt, eben in der Gegend, wohin unsre Sage das Paradies setzet, wohnt, und Schätze der Vorzeit bewachet?
A. Jene Drachen, jener Greif, der Gold oder güldene Aepfel bewahret?
E. Das war die Tradition späterer oder nordischer Völlker. Die Morgenländer haben ein geflügeltes Thier, das auf dem Berge Kaf wohnt, und mit den Riesen der Urwelt viel Krieg gehabt hat. Es hat, sagen sie, Vernunft und Religion, spricht alle Sprachen der Welt, hat die Weisheit der Sphinxe, die List der Greife, und bewahrt den Weg zu den Schätzen des Paradieses; eine Wundergestalt der Werke Gottes, weder mit List zu hintergehen, noch mit Gewalt zu überwinden.

Johann Gottfried von Herder

Freitag, 21. August 2009

Von Heinrich dem Löwen


Herzog Heinrich, der Herr der Braunschweiger Lande, fuhr über Meer; ein Sturm erfaßte sein Schiff und verschlug ihn und sein Schiffsvolk in unbekannte Meere; alle Speise ging ihnen aus, und der Hunger quälte sie über die Maßen. Da mußte einer nach dem andern sein Leben opfern für der andern Sättigung, und bestimmte das Los den, welcher sich mußte töten lassen. So fristeten sie eine Zeit ihr Leben, und immer fügte es Gott, daß das Los des Herzogs nicht gezogen wurde. Endlich war nur noch der Herzog und ein einziger Diener auf dem Schiffe, und der Hunger nahm kein Ende. So losen wir nun zum letztenmal, sprach traurig der Fürst, und wen das Los trifft, der sterbe. – Nein, lieber tötet mich, o Herr! sprach der treue Knecht. – Nein, wir losen, antwortete der Herzog. Und da warfen sie das Los, und es traf Heinrich. Aber der Diener sprach: Nimmer werde ich meinen liebwerten Herrn töten, ich habe noch einen Rat, ich will Euch in eine Ochsenhaut einnähen und Euer Schwert dazu, vielleicht sendet der Himmel Euch eine Rettung. Das war der Herzog zufrieden, und als es geschehen war, so kam ein Vogel Greif geflogen, der faßte die Haut in seine Krallen, glaubte ein Tier zu rauben und trug die Beute weit übers Meer in sein Nest, dann flog er wieder hinweg, und Heinrich durchschnitt mit dem Schwerte die Haut, und da die jungen hungrigen Greifen ihn anfielen, schlug er ihnen mit dem Schwert die Köpfe ab, dann nahm er sich eine Klaue mit und stieg von dem hohen Baume, darauf das Greifennest war, in den Wald hinab …

Ludwig Bechstein
aus: Deutsches Sagenbuch

Donnerstag, 20. August 2009

Greif

Bildquelle: Wikipedia

Ein Fabelthier, welches in die Kategorie der Drachen, Lindwürmer, Basilisken, Vogel Ruck und ähnlicher Gebilde der Phantasie gehört. Er wird abgebildet mit dem Körper und Schweif eines Löwen, dem Kopf eines großen Adlers oder Geiers, und an den Füßen mehrentheils Löwen- oder Geierklauen. Gewöhnlich sind auch die Vorderfüße gefiedert, und ein mächtiges Flügelpaar befähigt dieß Ungeheuer, sich augenblicklich in die Luft zu schwingen. Der Greif gehört mehr der romantischen, als der klassischen Fabelwelt an, er spielt oft eine Rolle in den Feenmährchen und Ritterromanen. Wie die der Drachen, so ist in der Maschinerie dieser Erzählungen auch die Funktion der Greise: Burgen, verzauberte Schlösser, Feenpaläste, gefangene Prinzessinnen und tief verborgene Schätze zu bewachen. Auf Greifen reiten Feen und Zauberer, Greife rauben Kinder, Greife tragen Gefangene aus ihren Kerkern durch die Lüfte fort. Vom Mährchen der persischen Sultanide bis zum deutschen Kindermährchen herab spielt der Vogel Greif eine Rolle. Seine Gestalt benutzte eine schöpferische Architektonik vielfach zu Ornamenten, und auf hundertfältige Weise bürgerte er sich als Wappen oder deren Schildhalter, in unzählige Fürstenhäuser und Ritterfamilien ein. Der Greif ist zugleich ein Symbol der Stärke, des Muthes, der Macht, der Klugheit und der Wachsamkeit, lauter Eigenschaften, die ihn als ritterliches Stammzeichen oft erwählen ließen.

Damen Conversations Lexikon
Band 5., 1835, S. 5-6.

Dienstag, 18. August 2009

Die Maus und die Schnecke


»Da dank’ ich schön für die Ehre, mein eigenes Haus herumschleppen und durch dessen Schwere so schleichen zu müssen!« - rief eine Maus der Schnecke zu: »Sieh mal, wie schnell ich in einer einzigen Minute, den Raum überfliege, zu dessen Durchkriechung du ganzer Tage bedarfst.«

»Es ist wahr, liebe Maus,« gab jene zur Antwort, »du bist schnell. Aber Schade nur, daß diese Schnelligkeit die Natur dir nicht ausschlußweise, sondern auch deiner Todfeindin, der Katze mitheilte. Wenn du oft ängstlich vor ihr von Winkel zu Winkel fliehst, und dich überall nach einem Schlupfloch umschaust! nicht wahr, dann wünschest du dir auch ein eigenes Haus? Dann würdest du gern ein kleine Unbequemlichkeit, des größern Nutzens halber, ertragen?«

Fabeln nach
Daniel Holzmann
weiland Bürger und Meistersänger zu Augspurg
herausgegeben von A.G.Meißner
Carlsruhe, bey Christian Gottlieb Schwieder
1783

Montag, 17. August 2009

Der Schmetterling und die Schnecke


Ein und zwanzigste Fabel

»Elende!« sagte ein glänzender Schmetterling zu einer Schnecke: »Wie kannst du es wagen, mir unter die Augen zu kommen«.
»Stolzer Wicht!« antwortete die Schnecke: »Vor einer Stunde warest du noch ein unförmlicher Klumpen. Ich habe mein Haus, ich lebe in meinem Eigenthum, ich bin mit wenigem zufrieden. Du hast weder Heimath noch Obdach, du lebst durch die Gnade der Blumen, um ihnen zu schaden.«

Elende Parvenus die ihr verächtlich auf den fleißigen Bürger, auf den arbeitsamen Landmann herabseht; die Fabel ist für euch!

Christian August Fischer
Politische Fabeln
Königsberg 1796

Sonntag, 16. August 2009

Adler und Schnecke


FIEKCHEN
Da sehen sies, Mama. Ich nehme nicht so vielerley vor, als jener, und sie sprechen immer, ich trödelte gar. Aber ich weis gewiß, ich wäre lange hin, wenn ich hingehen sollte. Fortunat malt immer, Mama. Seyn sie doch so gut, und bitten sie einmal für mich, er soll mir die Fabel vom Adler und der Schnecke malen.


SYLVESTERINN
Was ist denn das für eine Fabel?


FIEKCHEN
Ich habe sie einmal gelernt. Sehn sie nur, Mamachen. Es hat ein Adler mit einer Schnecke gewettet, wer am ersten an den und den Ort kommen würde. Der Adler denkt, ich komme schon noch zu rechte, und fliegt indessen weit weit weg. Die Schnecke schleicht gerade zu; so gut sie kann, und kömmt doch eher.


Johann Elias Schlegel
1719-1749
aus: Der geschäftige Müßiggänger
3. Akt, 2. Auftritt

Samstag, 15. August 2009

Die Schnecke



Eine Schnecke, die an einem Bahndamm wohnte, ärgerte sich alle Tage über einen Schnellzug, der vorbeisauste und sie durch sein ungeschlachtes Benehmen in ihrem behaglichen Geschäfte störte.
»Das will ich ihm austreiben!« sagte die Schnecke zu sich selbst, stellte sich zwischen den Gleisen auf und streckte drohend ihre Fühler aus, als sie den Zug in der Ferne auftauchen sah.
»Niederstoßen werd' ich ihn!« sagte sie voll grimmen Mutes.
Der Zug kam heran und brauste über die Feindin hinweg. Die Schnecke drehte sich um und sah dem Davoneilenden nach.
»Er hält nicht stand,« sagte sie verächtlich, »er reißt aus, er ist ein Feigling.«

Paul Keller
6.6.1873 - 20.8.1932

Freitag, 14. August 2009

Das Schneckenhaus


Kind:
Schnecke, Schnecke, komm heraus,
Bleib nicht immer nur im Haus,
Zeig mir deine Hörnlein schön,
Die möcht ich so gerne sehn.


Schnecke:
Kindlein, sieh, ich folge dir,
Denn du scheinst nicht böse mir,
Rührst so weich und sanft mich an,

Daß ich dich nicht fürchten kann.



Kind:
Keinem Thierchen thu ich weh,
Weil ich sie so gerne seh.
Schau mir frisch nur in’s Gesicht,
Schnecklein; denn ich plag dich nicht.

Wilhelm August Corrodi
Fünfzig Fabeln und Bilder aus der Jugendzeit
Zürich 1876

Donnerstag, 13. August 2009

Die Schnecke


Zur Mutter sprach die kleine Schnecke:
O Mütterlein, vergönne mir,
Daß ich von jener Buchenhecke
Nur einmal stille die Begier,
Zu schaun ins bunte Weltgewimmel,
Es ist so schön der Morgenhimmel,
So rein die Luft, so still der See1
Gelt, Mütterlien, ich darf? - So geh,
-
Sprach Mütterlein, ich will mich freuen,
wenn munter du zurücke kehrst.
Wohl dir, wird es dich nicht gereuen,
Was täglich du so oft begehrst.
Viele Glück, mein Töchterlein, zur Reise!
Sey fein vorsichtiglich und weise.
Ruh auf dem langen wEg auch aus,
und bring viel Neues mit nach Haus.
-
Und ohne viele Fährlichkeiten
kriecht nun mein Schnecklein frisch empor,
hört tollen Lärm von allen Seiten,
und spitzt darob sein kleines Ohr.
Was wars? – Sieh, dort in grüner Laube
Erwürgt der Habicht eine Taube,
zerreißt der Wolf ein junges Lamm,
Das eben von der Mutter kam.
-
Mit Bückling’ und mit Servitöre
Naht sich der Fuchs dem Hünerstall.
Ein Reiger hascht die munteren Störe
Dort unten an dem Wasserfall.
Der Hund sieht jenen weißen Hasen
Ganz unbesorgt am Hügel grasen,
Wünscht guten Morgen, Heil und Glück,
Und – beißt ihn rücklings ins Genick.
-
Der Löwe lechzt aus dürrer Kehle
nach einem königlichen Schmaus,
Und seine Katze lockt zur Höle
Mit Schmeicheley den Dachs heraus.
Kaum zeigt er sich, so spreitzt die Katze,
Voll innern Grimms die Krallentaze,
Giebt ihm den Fang, legt – weil sie muß –
Den Dachsen vor des Löwen Fuß.
-
Zufrieden wallt die schmalen Stege
ein unbefangner Wandersmann.
Doch dort, aus jenem dunkeln Wege,
Sieh! – schlägt ein Mörder auf ihn an.
Puff! – sinkt der Arme blutig nieder!
Nun zeigt der Schelm sich plötzlich wieder,
Zieht ihn aufs Freye wild heraus,
Und plündert seine Taschen aus.
-
Oh weh! Was sieht man nicht auf Reisen!
Rief Schnecklein mit bethräntem Blick.
Laß uns zurück zur mutter kreisen,
Eh uns noch trift ein gleich Geschick.
»Nun will ich gern im Häuslein bleiben,
Und mir darin die Zeit vertreiben.
In meinem Häuslein ist mir wohl,
Die Welt ist aller Falschheit voll.” *)

*) Die letzten vier Zeilen las der Verfasser schon in seiner frühen Jugend unter einem Gemälde , das eine Schnecke im verschlossenen Haus darstellte. Die Welt hat sich nun seit damals leider so wenig geändert, daß dem Biedermann ein verschlossenes Schneckenhaus mit diesen treuherzigen Reimen noch immer ein bedeutungsvolles Symbol seyn muß.

Mittwoch, 12. August 2009

Die Elster und die Schnecke


Eine Elster saß hoch auf einem Baume, wohin sie ihr Nest gebaut hatte. Eine Schnecke blickte sehnsuchtsvoll zu ihr hinauf. »Du möchtest gerne bey mir seyn,« sagte die Elster: »du hast aber keine Flügel.« Die Schnecke schwieg, und ehe sichs die Elster versah, war die Schnecke oben am Neste. »Wie bist du heraufgekommen?« fragte die Elster erstaunungsvoll: »du kannst ja nicht fliegen.« - »Ich kroch:« - war die Antwort.

Minister und Generäle, Räthe und Beamte steigen oft schneckenartig in die Höhe

Joseph Krause
aus: Fabeln für unsre Zeiten und Sitten
Erstes Bändchen
Straßburg und Mainz, 1801

Dienstag, 11. August 2009

Löwe und Mücke


Eine Mücke forderte mit den übermütigsten Worten einen Löwen zum Zweikampf heraus: »Ich fürchte dich nicht, du großes Ungeheuer«, rief sie ihm zu, »weil du gar keine Vorzüge vor mir hast; oder nenne sie mir, wenn du solche zu haben glaubst; etwa die, dass du deinen Raub mit Krallen zerreißest und mit Zähnen zermalmest? Jedes andere feige Tier, wenn es mit einem Tapfern kämpft, tut dasselbe, es beißt und kratzt. Du sollst aber empfinden, dass ich stärker bin als du!« Mit diesen Worten flog sie in eines seiner Nasenlöcher und stach ihn so sehr, dass er sich vor Schmerz selbst zerfleischte und sich für überwunden erklärte. Stolz auf diesen Sieg flog die Mücke davon, um ihn aller Welt auszuposaunen, übersah aber das Gewebe einer Spinne und verfing sich in demselben. Gierig umarmte die Spinne sie und sog ihr das Heldenblut aus. Sterbend empfand die Mücke ihre Nichtigkeit, indem sie, die Besiegerin des Löwen, einem so verächtlichen Tiere, einer Spinne, erliegen musste.
Äsop

Montag, 10. August 2009

Der Seidenwurm und die Spinne


Der Raupen edelste, die Weberinn der Seide,
Spann sich ihr Grab zu eines Fürsten Kleide;
Nicht weit von ihr hing an der schwarzen Wand
Die Künstlerin, die Pallas überwand.
Noch war von ihr nicht ganz der alte Stolz entwichen,
Sie hatte sich Minerven einst verglichen,
So hielt sie unter sich jetzt Raupen weit entfernt:
Wo hast du armer Wurm dein Spinnen wohl gelernt?
Dein Faden ist zu grob, und viel zu derb gewunden.
Bewundre meine Kunst, wie zart sie Fäden zieht;
Die Fliege findet sich gebunden,
Noch eh' sie das Gewebe sieht;
Mit minderm Stoff, als da dein Ey umhüllt,
Wird eine Wand von mir erfüllt;
Zwar du bist blind: mit so viel Kunst zu weben,
Sind von der Götter Huld acht Augen mir gegeben.
Den Vorzug, der dich ziert, hast du mir g'nug erklärt,
Doch wirst du, sprach der Wurm, die Antwort auch vergönnen:
Acht Augen, die nur Mücken kennen,
Sind wenig mehr, als meine Blindheit werth:
Und wenn sich mein Gespinnst auf Throne darf erheben,
So lern' ich wohl von dir nicht Fliegennetze weben.

Abstrakte Logiker, merkt euch den Unterricht,
Euklides lernt von euch des Denkens Regeln nicht.

Abraham Gotthelf Kästner

Sonntag, 9. August 2009

Die Spinne und die Mücke


Eine Spinne fing eine große FleischFliege, mit der sie lange Zeit nur tändelte. - Endlich ersah die Fliege ihren Vortheil, und entkam. Gleich darauf flog eine Mücke ins Gewebe, und blieb hangen.
»Du entfliehst mir nicht mehr«, sagte die Spinne.
»Warum«, fragte die Mücke, »muß denn ich, als ein so kleines Insekt, hangen, da du doch die große Fliege so gnädig entlassen hast?«
»Ist dir das SprüchWort nicht bekannt?« versetzte die Spinne: »Große Diebe läßt man laufen, und kleine müssen hangen.«
-
Wie leicht ist der Sinn dieser Fabel zu enthüllen!

Joseph Krause
Fabeln für unsre Zeiten und Sitten
Strasburg und Mainz, 1801

Freitag, 7. August 2009

Vogel Phönix


Aus einem alten Buche ohne Titel:

Phönix, der edle Vogel werth,
Hat seines Gleichen nicht auf Erd,
Um seinen Hals ist's goldgelb klar,
Sein Leib und Flügel Purpur gar;
Hat auf dem Haupte eine Kron,
Der höchste Baum sein hoher Thron.
Er wohnt und lebet lang allein,
Dann stellen sich viel Vögel ein.
Die Vögel sammeln für ihn frey
Den Weihrauch und die Specerey,
Von edlem Holz wohlriechend Aest,
Sie machen aus dem alln ein Nest.
Dann schwingt er drüber sein Gefieder
Am Sonnenglanze auf und nieder.
Wenn er das Rauchwerk so gezündt,
Die Flamme sich zur Höhe windt.
Dann läßt er sich herab zur Gluth,
Verbrennt sich willig wohlgemuth.
Alsdann in seiner Asche wird
Ein leuchtend Würmlein erst formirt,
Darnach ein Vogel rein und pur,
Dem vor'gen gleich in der Natur.
Christus, des Himmels Phönix rein,
Hat so gewohnt auf Erd' allein,
Ein Adler stark, der überwand
Höll, Teufel, Sünd und Todesband.
Sein Gottheit ist die güldne Farb,
Und sein Verdienst uns Heil erwarb.
Das Purpur-Kleid er hat auch an,
Auf seinem Haupt die Dornenkron.
Aus rechter Lieb inbrünstiglich
Er opfert darauf willig sich.
Und man begrub ihn ehrlich frey,
Mit köstlich edler Specerey.
Also des Himmels Phönix lag,
Im Grab, bis an den dritten Tag,
Alsdann er wieder lebend wurd'
Durch seine ew'ge Geistsgeburt.

Achim von Arnim und Clemens Brentano
aus: Des Knaben Wunderhorn

Donnerstag, 6. August 2009

Anna Louisa Karsch

Bildquelle: Wikipedia

Anna Louisa Karsch (auch Karschin genannt), war eine deutsche Dichterin des 18. Jahrhunderts (1.12.1722 - 12.10.1791). Sie wurde im Alter von 6 Jahre, nach dem Tode des Vaters, zu einem Verwandten abgeschoben, wo sie das Lesen und Schreiben und Grundkenntnis in Latein beigebracht bekam. Als sie 1732 alt genug war, um in der Gastwirtschaft zu helfen (10 Jahre), holte die Mutter die ungeliebte Tochter zurück. 1738 heiratete sie einen Tuchmacher, von dem sie vier Kinder bekam. Der Mann reichte allerdings 1748 die Scheidung ein, weil sie ihren Pflichten im Haushalt nicht nachgekommen sein soll. 1749 verheiratete die Mutter sie an einen Schneider, dem sie weitere drei Kinder gebar. War der erste Mann nur gewalttätig, so war der zweite außerdem noch ein Trinker.

Schon während der ersten Ehe entstanden Gedichte. Als der siebenjährige Krieg ausbrach, fanden Ihre Lobeshymnen auf Flugblättern im ganzen Land Verbreitung und gelangten auch nach Berlin. Befreundete Offiziere verhalfen Ihr zur Trennung von ihrem gewalttätigen Mann dadurch, dass dieser zum Heer einberufen wurde. 1761 kam sie nach Berlin und sorgte in den literarischen Salons für Aufregung. Sie fand Förderer in Lessing, Sulzer, Ramler und Moses Mendelssohn. Gleim erklärte sie gar zur deutschen Sappho. Zeitweise lebte sie in Halberstadt und Magdeburg und verkehrte auch am Hof der Königin von Preußen. Förderer verhalfen ihr in dieser Zeit zu einem annehmbaren Lebensunterhalt. Zurückgekehrt nach Berlin litt sie allerdings wieder Not und erst als Gleim die Veröffentlichung eines ersten Gedichtbandes veranlasste, gewann sie daraus ein kleines Einkommen. 1763 versprach ihr zwar Friedrich II. eine Pension, die wurde aber erst von Friedrich Wilhelm II. 1789, zwei Jahre vor ihrem Tod, realisiert, indem er ihr ein Haus in Berlin schenkte.

Horst-Dieter Radke

In Darmstadt wurde nun ein Buch dieser Dichterin zum Buch des Monats August 2009 gewählt. Ich danke Iris Kammerer für diesen Hinweis.

Auch in diesem Blog finden sich schon zwei Einträge zu dieser Autorin.

Mittwoch, 5. August 2009

Der Phönix


Es kommt ein Vogel geflogen aus Westen,
Er fliegt gen Osten,
Nach der östlichen Gartenheimat,
Wo Spezereien duften und wachsen,
Und Palmen rauschen und Brunnen kühlen –
Und fliegend singt der Wundervogel:
»Sie liebt ihn! sie liebt ihn!
Sie trägt sein Bildnis im kleinen Herzen,
Und trägt es süß und heimlich verborgen,
Und weiß es selbst nicht!
Aber im Traume steht er vor ihr,
Sie bittet und weint und küßt seine Hände,
Und ruft seinen Namen,
Und rufend erwacht sie und liegt erschrocken,
Und reibt sich verwundert die schönen Augen –
Sie liebt ihn, sie liebt ihn!«
An den Mastbaum gelehnt, auf dem hohen Verdeck,
Stand ich und hört ich des Vogels Gesang.
Wie schwarzgrüne Rosse mit silbernen Mähnen,
Sprangen die weißgekräuselten Wellen;
Wie Schwanenzüge schifften vorüber,
Mit schimmernden Segeln, die Helgolander,
Die kecken Nomaden der Nordsee;
Über mir, in dem ewigen Blau,
Flatterte weißes Gewölk
Und prangte die ewige Sonne,
Die Rose des Himmels, die feuerblühende,
Die freudvoll im Meer sich bespiegelte; –
Und Himmel und Meer und mein eigenes Herz
Ertönten im Nachhall:
»Sie liebt ihn! sie liebt ihn!«

Heinrich Heine

Dienstag, 4. August 2009

Bist du selber, o Mensch, der Phönix


Bist du selber, o Mensch, der Phönix, von welchem du träumtest,
Daß ihn die Flamme verjüngt? Innig beklag' ich dich dann,
Daß man aus feuchtem Holz den Scheiterhaufen dir thürmte
Und in regnigter Nacht gar in den Brand ihn gesteckt.
Anfangs zwar schürt Amor das Feuer, er hat es entzündet,
Lustig prasselt es auf, doch er versäumt es zu bald,
Nun erlischt es, du liegst auf todten Kohlen, die Winde
Sausen, der Regen tropft, und du erstarrst und erfrierst.

Friedrich Hebbel

Montag, 3. August 2009

Phönix, fabelhafter heiliger Vogel …

Phönix, fabelhafter heiliger Vogel der alten Ägypter, von adlerähnlicher Gestalt und purpur- und goldfarbigem Gefieder, über den im Altertum verschiedene Sagen umliefen, wovon die bekannteste folgende ist: er verbrannte sich alle 500 Jahre in seinem aus Gewürzen bereiteten Nest, ging aber verjüngt aus seiner Asche wieder hervor und trug, herangewachsen, die Reste seines alten Körpers, in Myrrhen eingeschlossen, nach Heliopolis in Ägypten. In der ägyptischen Darstellung glich der P. eher einem Reiher (der Ardea cinerea); er hieß Benu und galt als die Seele des verstorbenen Gottes Osiris, in die sich die Toten zu verwandeln wünschten. Später kam der P. als Symbol ewiger Verjüngung auch in den christlichen Sagenkreis und ward ein Emblem des byzantinischen Reiches. Bei den Alchimisten war P. eine der vielen Bezeichnungen für den Stein der Weisen. Vgl. Cassel, Der P. und seine Ära (Berl. 1879).

Meyers Großes Konversations-Lexikon
Band 15. Leipzig 1908, S. 809.

Samstag, 1. August 2009

Die 72. Fabel: Warum sich der Vogel Phönix fast niemals sehen läßt


Ein Rabe und eine Krähe unterredeten sich einsmals miteinander über verschiedene seltene Materien, unter andern auch vom Vogel Phönix, von seiner Gestalt, von seinen Eigenschaften, insbesondere aus welcher Ursache sich dieser Vogel so selten sehen liesse? Da sie bey dieser Materie waren, näherte sich ihnen ein Papagoy, von welchem, weil er in dem Lande geboren war, wo sich der Phönix aufhielte, sie glaubten, Licht zu erhalten, und diesfalls baten sie ihn: er mögte ihnen doch die Ursache sagen, warum dieser Vogel sich so selten sehen liesse? Der Papagoy antwortete: Davon kann man unterschiedene natürliche Ursachen anführen. Die erste ist, daß dieser Vogel nirgends vorhanden ist. Da sie dieses hörten: so baten sie ihn, er mögte nur die übrigen Ursachen vor sich behalten, sie hätten an der ersten bereits genung.

Diese Fabel lehret, daß die Menschen sich oft über eine Sache unterreden, und darüber streiten, bevor sie sich um die Wirklichkeit derselben bekümmert haben.

Ludvig Holberg