Dienstag, 17. Dezember 2019

Die Wanze

Es war einmal ein großer Dichter, der ging, wie das berühmter Leute Art ist, viel auf Reisen. Eines Nachts schlief er in einem Hotelbett, und eine Wanze – frech wie eine Wanze – saugte sich an dem Dichter fest und delektierte sich an ihm.

Als die Mitwanzen das am Morgen hörten, sammelten sie sich aufgeregt, begeistert um die freche Wanze und fragten stürmisch:

Nun, wie finden Sie ihn?

Du lieber Gott – sagte die Wanze satt und nicht ohne Anerkennung: Als Dichter, na, da ist er nicht nach meinem Geschmack, aber als Mensch – und sie leckte nachgenießerisch ihr Freßwerkzeug – als Mensch: vorzüglich.


Robert Weiß
Innsbrucker Nachrichten, 25.7.1925, S. 4

Donnerstag, 7. November 2019

Das Elwetrtischle

Elfetritschle bei Großheubach am Main.

(auch Elwedritsch oder Elfetritsch) ist ein Fabelwesen, das in Südwestdeutschland vor allem in der Pfalz, aber auch in angrenzenden Gebieten (zum Beispiel Mainfranken) anzutreffen ist. Es soll von Kobolden, Enten und Gänsen abstammen, macht aber eher den Eindruck eines hühnerähnlichen Wesens. Es ist üblich, diese Wesen in Neumondnächten zu jagen, wobei es dafür unterschiedliche Vorschriften gibt. Einmal müssen die Jäger, um vor Angriffen geschützt zu sein, vor und während der Jagd reichlich Alkohol zu sich nehmen. Vermutlich dient dieser Vorschrift aber eher dazu, ahnungslosen Neulingen zu einer durchfrorenen Nacht zu verhelfen, denn nicht selten finden sie sich plötzlich allein im unbekannten Wald, von allen »Freuden« verlassen wieder. Echte Elwetritschle-Jäger leben schon einige Tage vor der Jagdnacht abstinent um konzentriert und zur rechten Zeit den Sack, in den das Elwetrtischle hineingelockt werden soll, zu schließen.

Montag, 30. September 2019

Der Dank der Seele

Eine Legende

Als sie aus einem Menschenleibe ging,
Geschah es, daß sie dreimal wiederkam
Und von dem Leibe süßen Abschied nahm,
Indem er dreimal ihren Kuß empfing.

Sankt Patriz, der das seltne Schauspiel sah,
Erfragte sich vom Heiland den Bescheid:
»Weil er sie hielt in Glanz und Lauterkeit,
Darum wars, daß ihm dieser Dank geschah!«

Max Hayek
(1882 - Mai 1944 im KZ Ausschwitz Birkenau)

Samstag, 21. September 2019

Parabel

Der Vater mit dem Sohn ist über Feld gegangen,
Sie können nachtverirrt die Heimat nicht erlangen.

Nach jedem Felsen blickt der Sohn, nach jedem Baum,
Wegweiser ihm zu sein im weglos dunklen Raum.

Der Vater aber blickt indessen nach den Sternen,
Als ob der Erde Weg er woll’ am Himmel lernen.

Die Felsen blieben Stumm, die Bäume sagten nichts,
Die Sterne deuteten mit einem Streifen Lichts.

zur Heimat deuten sie. Wohl dem, der traut den Sternen:
Den Weg der Erde kann man nur am Himmel lernen.

Friedrich Rückert

Mittwoch, 3. Juli 2019

Der überlistete Löwe

Der Löwe grollte dem Schakal, weil er ihm einen Streich gespielt hatte. Der Schakal wich daher vorsätzlich dem Löwen aus. Der Löwe aber überraschte ihn eines Tages am Fuße eines Felsen, wo an kein Entwichen zu denken war. Pfeilschnell jedoch sprang der Schakal an den Felsen heran, stellte ich mit dem Vorderfüßen gegen denselben und schrie aus vollem Halse den Löwen um Hilfe an. »Was gibt’s?«, fragte der Löwe. »Gibt’s!«, erwiderte der Schakal, »siehst Du denn nicht, daß der Felsen im Einsturz begriffen ist? Komme her, stelle Dich gegen ihn und halte ihn, bis ich einen Stock geholt habe, um ihn damit zu stützen.« Der Löwe that, wie geheißen und so entkam ihm der Schakal.

Erstes Buch
Reineke Fuchs in Südafrika
oder
Hottentottische Fabeln, Sagen und Märchen
Meist nach Originalhandschriften der Rheinischen Missionare
G. Krönlien und J. Rath

Samstag, 29. Juni 2019

Die Löwenzüchter

Im Rate der Paviane predigt’ ein Mandrill:
»Wir brauchen wieder Löwen, kost’ es was es will!
Dem allgemeinen Widerkäuen zu entflieh’n,
Gibt’s einen einz’gen Ausweg: Leuen müßt ihr zieh’n!«

Flugs gingen sie mit einem Komitee zu Werke
Und schrieben eine Prämie aus als Preis der Stärke.
Die einzige Bedingung war zu Kokurrenz:
Vor jedem Hundskopf leisten eine Reverenz,
Durch Grunzen seine Leueneigenschaft beweisen
Und hinten eine blaue Affenschwiele weisen.
Und als nun niemals blaue Löwen grunzten her,
Beschlossen sie: »Die Welt hat keine Leuen mehr.«
Bekümmert aber meinte der Mandrill: »Was nun?
Was soll man schließlich mit dem Ehrenpreise tun?«
Kein andres Mittel zeigte leider sich einstweilen,
Als unter sich die Prämie billig zu verteilen.
Die ganze Affengilde kam hierbei zu Ehren.
Was will man mehr von einem Löwenpreis begehren

Carl Spitteler
aus: Literarische Gleichnisse
2. Auflage 1908

Samstag, 22. Juni 2019

Der Mond und die Affen


Lange nach der Erschaffung der Welt, aber noch viel länger zurück, von heute aus gesehen, lebte eine Affenherde in einem Wald, in dem es auf einer Lichtung einen tiefen Teich gab. Eines Nachts bemerkte der größte und stärkste Affe, dass der Mond inmitten des kleinen Teichs leuchtete. Er erschrak und rief alle seine Affenbrüder zusammen. Seht, rief er, der Mond ist in den Teich gefallen. Er wird versinken, wenn wir ihn nicht herausholen. Sie liefen aufgeregt am Ufer auf und ab oder schauten aus den Ästen der Bäume herunter auf den Mond im Teich, aber kein Arm war in der Lage, ihn zu erreichen. Lange sann der große und starke Affe, bis er eine Idee hatte. Wo ein Arm nicht langt, müssen es eben viele Arme sein, doch nicht nebeneinander, sondern in einer langen Reihe. So rief er alle Affen zu sich auf den Baum, fasste den Ast fest und ließ sich herunterhängen. Der nächste Affe kletterte an ihm herab, fasste den herunterhängenden Arm und ließ sich ebenfalls hängen. Wieder ein Affe folgte, und noch einer, und noch viele. Immer näher kam man der Wasseroberfläche und dem Mond, immer mehr aber bog sich auch der Ast und als der letzte Affe begann, an der langen Reihe seiner Brüder herunterzuklettern, konnte der Ast das Gewicht nicht mehr tragen, brach und alle Affen fielen in den Teich. Nicht wenige ertranken – unter ihnen auch der größte und stärkste Affe. Die wenigen Affen, die sich naß und klamm ans Ufer retten konnten sahen zu, wie sich die aufgewühlte Oberfläche des Teichs nach und nach glättete und der Mond sich wieder in der Oberfläche spiegelte.

Ein Fuchs, der alles beobachtet hatte, sagte: Wenn die Narren dem größten Narren folgen, ist Ihnen der Untergang gewiss.

Altibetische Fabel
Nacherzählt von Horst-Dieter Radke

Donnerstag, 30. Mai 2019

Die Fabel in der Fotografie

Dass die Fabelwelt auch fotografisch dargestellt werden kann, zeigte eine Ausstelung im Pariser Musée de la Chasse et de la Nature im Jahr 2008.

Montag, 20. Mai 2019

Der Hund

Viele Bewohner des Kriegsfeldes pflegen ihre Hunde bei der Flucht von sich zu jagen, zumal wenn sie die Eisenbahnen benützen. Der es nicht gesehen hat, macht sich keine Vorstellung von der Zerstörung, die solcher Verrat in der Psyche des Hundes anrichtet. Ich aber habe manche Hundedramen erlebt.
Einmal war ich in ein kleines Haus gestürmt, das vollkommen ausgeplündert, einem solch verlassenen Tiere Zuflucht bot. Mein Wesen sofort erkennend, verschwand es vor meinen Blicken und kroch in den tiefen, geräumigen Backofen. ich wußte nicht, welcher Regung folgend: ich hatte den unbezwinglichen Willen, den Hund endlich – einen dieser hunderte wilden, endlich zu meinen Füßen liegen zu haben. Weiter nichts, glaube ich: ich bin ein Mensch.
Ich lockte, bat, bettelte, drohte, fluchte – lange. Als die Reihe wieder am Locken war, antwortete der Hund. »Jene peitschten mich von sich, weil sie feig waren vor dir. – Des Einen von Euch Herz ist feig, des anderen Sklave seines eigenen Willens. – Darum ist’s, daß ich auch zu dir nicht gehe.«
ich beteuerte, einer jener wenigen Menschen zu sein, welche weder Feigheit, noch Sklaverei kennen; daß ich aber in meiner Sendung nötigenfalls eine ganze Magazinladung meiner Pistole in das Loch hinein verpfeffere oder er komme heraus. Und ich bat, bettelte, fluchte, lockte.
– Da sagte er: »Nun, auch dir will ich es beweisen.« Und kam. Ein prachtvoller, nußbrauner Wachtelhund. Ich strich und kraulte und koste seinen Scheitel und seine Ohren, schenkte ihm einen Gutteil meines Mundvorrates und gab ihm tausend Liebesnamen. Dann sagte ich: »Komm!« Und wir gingen zusammen den anderen nach.
Das war ein Aufsehen. Der Hund wurde bejubelt, gelobt, geliebt und auf seinen Geldwert geschätzt. Ich hörte Bewertungsziffern, wie sie auf dreijährigen Halbblutstuten liegen. Aber er war auch klassisch schön, charaktervoll und gesund; er brachte von seinen Jagedausflügen Leckerbissen fürs ganze Bataillon. Eines Nachts an meiner Brust ruhend, sagte er mir ins Ohr: »Für diesen schönen Krieg an meiner Seite und dein ganzes Leben, mein Alter, bewahre dir das wilde, freie Herz deiner Vorderen. und lasse dich nie auf den Alltag ein!« – Mittags verschacherte ich meinem Freund an den Regimentsarzt Dr. Kohn, der das Meiste geboten. Er führte ihn an der Leine nach dem Divisionslazarett.
Für uns war ein Angriff angesetzt. Und als ich abends, kurz vor dem Sturme, noch einmal in einer Mulde lag, drängte sich inmitten eines heillosen Feuerwirbels plötzlich zwischen mich und den Fähnrich der schweißnasse, weitherjagende Hund, verschnaufte und keuchte: »Da bin ich und will dir melden, ich weiß, was du selbst heute aus deinem Herzen machtest, weil du, der Mensch, hiezu fähig bist.«
Ich schrie dem Fähnrich, er möge etwas abrücken, dann jagte ich dem Deserteur seine Kugel in den Kopf und warf ihn auf die niedere Wehr vorne. Er wand sich, mit der sterbeheißen Zunge an meiner Stirne zu lecken und flüsterte verlöschend: »Ich verzeihe dir aber, denn ich habe gesehen, in deinem Leben darf keine Stunde der anderen gleichen, keine jener in der Hütte, da du ein wahrer Mensch bist."

Michel Philipp
Aus meinem neuen Fabelbuch
Innsbrucker Nachrichten vom 14.10.1917

Freitag, 17. Mai 2019

Die Katze

Unserer entwichenen alten Katze begegnete ich neulich in den abgeheimsten Feldern, fern von Haus und Ställen, wo sie nun, um weiter zu bestehen vor ihrem Katzenhimmel, Feldmäuse vernichtete und Spatzen fraß.

Ich fragte mit verstellter Stimme (ich hasse die Katzen), was sie aus unserem freundlichen Hause vertrieben habe?

Sie antwortete: »Paßt mir, die Abrechnung: Ihr vereinbartet doch, mich zu ertränken, meiner Hautkrankheit wegen mich zu töten, nachdem ich Euch neun Jahre um Euer ganzes Gut wie eine bezahlte Magd gedient. Ihr selber aber, du und deine Söhne – Ihr wohl – findet nicht genug Häuser und Frauen darein, diees Gut zu vergeuden, um eben dieselbe Krankheit so recht ausgiebig in den Betten zu haben. Ihr seid wohl tausendmal schäbiger als ich!«

Michel Philipp
Aus meinem neuen Fabelbuch
Innsbrucker Nachrichten vom 14.10.1917

Montag, 13. Mai 2019

Die Kuh

In meinem Stalle standen vier Kühe. Drei warfen in einer Woche ihre Kälber, die vierte, bereits übers Jahr galt, hoch im Alter, aber fein gemästet, sollte nächster Tage geschlagen werden. Die drei – wie es geht – waren vom Melker schlecht betreut, bekamen nacheinander Euterentzündung grober Art, und mußten gesondert werden. Und die Kälber bogen sich täppisch und indolent unter die fette Tante, sogen an ihr, daß wir verwundert lachten, sogen eins nach dem anderen und zu zweien und alle gleichzeitig. So etwas war meinem dummen Melker nie untergekommen und noch weniger mir. Sie, die früher jedem Kalbe altjüngferlich abwerhrte, war wieder jung, ließ überreichlich Milch, täglich mehr, beleckte die Waisen der Reihe nach und muhte und greinte nach ihnen und diese nach ihr. Die ganze Familie gedieh prächtig, jedes walzenrund.

Als die Kälber in der siebenten Woche standen und bereits ihr Gräschen naschten im Pferche, und plärrend ihre kälbigste Jugend vertollten, fiel eines morgens nebenan auf der Schlachtbrücke die brave Amme nach dem zweiten Beilhiebe auf den Rücken, trat mit den Hinterbeinen in die Luft, als wolle sie den Kot ihrer Hufe nach meiner Brust schleudern. Und als sie gar den langen Metzgerstich in der Lunge fühlte, da quoll ihre Zunge aus dem Halse und mit einem Blick sagte sie mir noch etwas ins Gesicht, das ich bei der seinerzeitigen Beweisführung für mein Menschentum wohl zu verschweigen habe.

Michel Philipp
Innsbrucker Nachrichten, 14.10.1917

Sonntag, 12. Mai 2019

Der Wolf und der Schäfer

 
Ein Schäfer hatte durch eine grausame Seuche seine ganze Herde verloren. Das erfuhr der Wolf und kam, seine Kondolenz abzustatten.
Schäfer, sprach er, ist es wahr, daß dich ein so grausames Unglück betroffen? Du bist um deine ganze Herde gekommen? Die liebe, fromme, fette Herde! Du dauerst mich, und ich möchte blutige Tränen weinen.
Habe Dank, Meister Isegrim, versetzte der Schäfer. Ich sehe, du hast ein sehr mitleidiges Herz.
Das hat er auch wirklich, fügte des Schäfers Hylax hinzu, sooft er unter dem Unglücke seines Nächsten selbst leidet.

Gotthold Ephraim Lessing

Samstag, 11. Mai 2019

Besitz

Mit ihrem Hause eine Schnecke
Fand eine andre auf der Strecke,
Die ohn Haus war, und begann:
»Ob man noch Schnecke nennen kann
So was, wie du bist weiß ich nicht:
Wer auf die Welt nicht gleich sein Haus
Sich mitbringt, ist für mich ein Wicht!«
»Ich bin auf jedes Gut nicht aus«,
Entgegnete das nackte Tier –;
»Zerbricht dein Haus, ist’s aus mit dir, –
auch klebst du daran – fast fürchte ich:
Du hast das Haus nicht – es hat dich."
 
Alois Wohlmut (1849-19309
österreichischer Schauspieler und Autor
INNSBRUCKER NACHRICHTEN, 2.9.1917

Donnerstag, 9. Mai 2019

Der große Unterschied

Es mußte sich mit seiner Fuhr’
Ein Pferd durch eine Pfütze plagen,
In der des Dorfes Säue lagen.
»Ei, schaut doch nur, ei, seht doch nur!«
Begann sogleich ein großes Schwein,
»Das stolze Pferd, das Adelstier –
Im Schlamm und Kot – genau wie wir.
Das Pferd: »Genau wie du? O nein:
Ich  ziehe gegen meinen Sinn
Hier durch den Mist, du wälzt dich drin:
Ich steh’ im Dreck, weil ich muß –
Dir ist er Element, Genuß.«
 
Alois Wohlmut
Innsbrucker Nachrichten
2.9.1917

Dienstag, 7. Mai 2019

Die Steine

Tolstoi (Quelle: Wikimedia commons)

Zwei Frauen kamen zu einem Greise, um sich von ihm belehren zu lassen. Die eine kennzeichnete sich selbst als eine große Sünderin. In der Jugend hatte sie ihren Gatten betrogen, und die Erinnerung daran quälte sie das ganze Leben lang.
Die andere Frau hatte sich niemals gegen die Gesetze vergangen, sie fühlte sich vollkommen schuldlos und war mit sich stets zufrieden.
Der Greis fragte beide nach ihrem Leben aus. Die eine berichtete unter hellen Tränen, was sie einst verbrochen hatte. Sie war von der Wucht ihres Frevels so erdrückt, daß sie gar keine Vergebung erwarten konnte.
Hingegen sagte die andere, daß sie sich durchaus keiner Schuld bewußt sei. Der Alte wandte sich zuerst an die Sünderin und sprach:
„Du, Magd Gottes, zieh hinaus vors Tor der Stadt und suche den größten Stein, den du aufheben kannst und bring ihn her! Und du!“, sagte er zur anderen Frau, schaffe auch Steine her, so viel du kannst, aber lauter kleine.“
Die beiden Frauen zogen aus, um dem Befehl des Greises zu willfahren. Die eine brachte einen großen, schweren Stein, die andere einen Sack voll kleiner Steine. Der Alte betrachtete die Steine und sprach:
„Jetzt will ich euch noch einen Auftrag geben. Traget die Steine zurück und legt sie wieder an dieselben Stellen, von wo ihr sie geholt habt, und dann kehrt zu mir zurück.“
Und die Frauen taten, wie ihnen geheißen wurde. Die eine fand sehr leicht den Platz, wo sie den mächtigen Stein gefunden hatte, und legte ihn dort wieder hin. Die andere konnte sich unmöglich entsinnen, auf welchen einzelnen Stellen sie die winzigen Steine aufgelesen hatte. Es war ihr nicht möglich, der Weisung des würdigen Greises zu folgen und sie kam zu ihm mit dem gefüllten Sack zurück.
„Gerade so,“ sagte er zu den beiden Frauen, „geht es mit den Sünden! Du hast ohne Schwierigkeit den großen und schweren Stein an seinen früheren Ort legen können, weil du genau wußtest, von wo er genommen war. Und du warst nicht imstande es zu tun, weil es dir entfallen war, wo du all die kleinen Steine aufgehoben hattest. Wer sich Gewissensbisse wegen seiner Sünden machte, hat sich mit den Menschen und mit sich selbst zu versöhnen gesucht und darum von den Folgen der Sünde befreit.
Wer sich aber nur kleiner Vergehen schuldig machte, entsinnt sich ihrer oft kaum, bereut sie gar nicht mehr, gewöhnt sich dagegen an ein sündhafte Leben und verurteilt nur um so strenger die Sünden der anderen.
Wir sind alle Sünder - und wir müssen zugrunde gehen, wenn wir dessen nicht eingedenk sind und Reue empfinden.“



Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi
Innsbrucker Nachrichten,  8.7.1917

Montag, 29. April 2019

Der Hahn

Der Hahn, so sagt man, wurde einst vom Schakal beschlichen und gepackt. Da sprach der Hahn: »Willst Du nicht erst beten, ehe Du mich tödtest, wie der weiße Mann thut?« Der Schakal erwiderte: »Wie macht er es denn, wenn er betet? Nun?«
»Er faltet die Hände«, sagte der Hahn. Da faltete der Schakal die Hände und betete. Der Hahn sprach wiederum: »Du guckst ja umher; mach’ doch die Augen zu!« Das that der Schakal, der Hahn aber flog auf und schalt ihn, indem er rief: »Du Schelm! Betest Du auch?«
Da saß der Schakal sprachlos, weil er überlistet war.

Dr. W. H. I. Beleg
Reineke Fuchs in Afrika
Fabeln und Märchen der Eingeborenen

Donnerstag, 11. April 2019

Der Fuchs als Hirte

Es war einmal eine Frau, die ging aus und wollte sich einen Hirten miethen. Da begegnete ihr der Bär. »Wo willst Du hin?« fragte der Bär sie. »O, ich wollte mir nur einen Hirten miethen«, antwortete die Frau. »Willst Du mich zum Hirten haben?« fragte der Bär. »Ja, wenn Du bloß hübsch locken kannst«, sagte die Frau. »Hö–i!« sagte der Bär. »Nein, Dich will ich nicht haben«, sagte die Frau, als sie das hörte, und ging weiter.

Da begegnete ihr der Wolf. »Wo willst Du hin?« fragte der Wolf. »O, ich wollte mir nur einen Hirten miethen«, antwortete die Frau. »Willst Du mich zum Hirten haben?« fragte der Wolf. »Ja, kannst Du auch hübsch locken?« sagte die Frau. »Uh–uh!« sagte der Wolf. »Nein, Dich will ich nicht haben«, sagte die Frau.

Ein Ende weiter hin begegnete ihr der Fuchs. »Wo willst Du hin?« fragte der Fuchs. »O, ich wollte mir nur einen Hirten miethen«, antwortete die Frau. »Willst Du mich zum Hirten haben?« fragte der Fuchs. »Ja, wenn Du bloß hübsch locken kannst«, sagte die Frau. »Dil–dal–holom!« sagte der Fuchs noch so hübsch und artig. »Ja, Dich will ich haben«, sagte die Frau und nahm den Fuchs zum Hirten bei ihrem Vieh an.

Am ersten Tage, wie der Fuchs das Vieh auf die Weide trieb, fraß er alle Ziegen auf, den zweiten Tag ließ er sich die Schafe schmecken, und den dritten Tag mußten die Kühe daran. Als er darauf am Abend nach Hause kam, fragte die Frau ihn, wo er das Vieh gelassen hätte. »Der Kopf ist im Bach, und der Rumpf im Busch«, sagte der Fuchs. Die Frau stand eben bei ihrem Butterfaß und butterte; aber sie wollte doch selbst zusehen; während sie nun zusah, steckte der Fuchs den Kopf ins Butterfaß und fraß allen Rahm auf. Als die Frau zurückkam und das gewahr ward, da wurde sie so erbittert, daß sie einen Rahmklumpen nahm, der noch im Butterfaß saß, und damit nach dem Fuchs warf, so daß er einen Klatsch am Schwanz bekam. Davon kommt es, daß der Fuchs einen weißen Schwanzzipfel hat.

Asbjørnsen, P./Moe, J.
Norwegische Volksmärchen
Berlin, 1908

Donnerstag, 4. April 2019

Die Hyäne und die Schlange

Ein Holländer, der allein seines Wegs ging, sah eine Schlange unter einem großen Steine liegen. Die Schlange bat ihn um Hilfe, aber als er sie befreit hatte, sagte sie: »Nun will ich Dich fressen!« Der Mann antwortete: »Das ist aber nicht recht! Laß uns erst zum Hasen gehen!«
Als dieser die Geschichte gehört hatte, sagte er: »Das ist ganz recht!« »Nein!« sagte der Mann, »laß uns die Hyäne fragen!« Die Hyäne sagte dasselbe: »Das ist ganz recht!« »Nun laß uns noch den Schakal fragen!« schrie der Mann in seiner Verzweiflung.
Der Schakal schüttelte bedächtig sein Haupt, zog die ganze Geschichte in Zweifel und verlangte erst den Ort zu sehen, um beurteilen zu können, ob der Mann wirklich im Stande sei, den Stein zu heben. Die Schlange legte sich dann nieder, und zum Beweise der Wahrheit legte der Mann den Stein wieder auf sie. Als sie nun wieder fest lag, sagte der Schakal: »Nun laß sie nur liegen!«

Reineke Fuchs in Südafrika
oder
Hottentottische Fabeln, Sagen und Märchen
Meist nach Originalhandschriften der Rheinischen Missionare
G. Krönlien und J. Rath

Donnerstag, 28. März 2019

Der Dichter und der Fuchs

Herr Dichter, sprach ein Fuchs, der an der Kette lag,
Ich bitte, laßt mich los! ich will ein Stückchen machen,
Ihr sollt darüber lachen;
Nur heut' auf einen Tag!

Auf einen Augenblick
Dürft es nur sein, du Schalk! so lachtest du der Kette.
Ja! wer von dir nicht schon so manches Schelmenstück
Gehöret und gelesen hätte!
Du bist so schlau, so schlau! so listig, daß man dich
Fest hält, wenn man dich hat; die Kunst ist, dich zu kriegen!
Darum, du Vogel, du! wer klug ist, tröstet sich
An seiner Kette selbst, und bleibt geduldig liegen.

Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Ausgewählte Werke, Leipzig 1885, S. 111.

Dienstag, 26. März 2019

Einsicht

Eine schneeweiße Pfauentaube saß mit dem Tauber auf dem Dach. Sie glänzten in der Sonne und schnäbelten sich zärtlich.
»Das ist stark«, sagte das Truthuhn, das seinen Kopf ganz schief halten mußte und dazu blinzeln um hinaufzusehen. Es wollte weiter reden; aber da ging der Truthahn vorbei, kollerte und blähte sich, und das Truthuhn warf sich platt auf die Erde, verliebte und demütig. Es sah mit seinen blöden Augen zu dem stattlichen Tier empor, das mit Rasseln und trommeln dafür dankte und sich aufblies wie ein Luftballon.
»Daß man einen Tauber anbeten kann!«, kreischte das Truthuhn.
»Einen kleinen, unbedeutenden, farblosen Vogel, der keinem Geschöpf Respekt einzuflößen imstande ist.« Es lag nun flach da, wie ein breiter, bräunlicher Eierkuchen. Dem Truthahn schwoll der rote Zierrat an Kopf und Hals. Er wurde purpurrot.
»Daß er die Zärtlichkeit der Taube überhaupt für voll nimmt«, kollerte er. »Daß er so wenig Einsicht hat und glaubt, was die Kleine da oben girrt.« Er schüttelte isch. Das Truthuhn vor ihm wurde noch flacher.
»Er ist ein Tauber«, sagte es verächtlich. »Kein Herrscher, kein König unter seinesgleichen, kein …« Es konnte nicht weiter, und schnappte nach Luft. Sein bläuliches Köpflein bewegte sich vorwärts und rückwärts. Es schloß die Augen und wartete, ob der Truthahn seine Ergebenheit belohnen werde. Aber er rauscht weiter. Wie dunkles Gold glänzte sein Gefieder. Er wußte, daß er der Stolz des Hühnerhofes war.
Der große, weiße Hahn hatte dem Zwiegespräch zugehört. Er schwieg. Stolz drehte er den gebogenen Hals, und gravitätisch ging er seinen Hühnern voran durch den großen Hof. Eine der Hennen sagte, daß sie sich wundere, daß der Truthahn sich mit der dummen Dinde abgeben möge, die Verehrung und Zärtlichkeit heuchle. »Und er glaubt das alles«, sagte ein braungesprenkeltes Huhn, und trippelte zum Hahn. Der hob sich, schüttelte sich und krähte. Alle Hühner sahen sich an.
»So wie du, kräht keiner«, sagte eines.
»Wer hat dien stolzes Auge?«, fragte ein anderes, und gab der Nachbarin einen Hieb, denn sie hatte ihm eine Mücke vor dem Schnabel weggeschnappt.
»Wessen Schwanzfedern wölben sich wie die deinen?«
»Wer ist so weiß wie du?«
»Wer könnte uns beschützen, wie du es tust?« Der Hahn schwieg. Er war klug. Aber er stolzierte durch den Hof, schlug mit den Flügeln und krähte, daß alle Hähne der Nachbarschaft antworteten.
Der Enterich, de am Zaun in der Sonne lag, hatte mit seinen beerenschwarzen ›Augen dem allem zugesehen. Er war aber zu faul, um zu sagen, was er dachte. Er wippte nur mit dem Schwänzlein und schnatterte ganz leise. Seine beiden Enten konnten sich nicht genug wundern, daß der Hahn solche grobe Schmeicheleien glaube. Sie sahen hinüber zum Hahn und schnatterten empört und verächtlich. Dann begannen sie gleichzeitig den Enterich zärtlich zu lausen. Er ließ es sich gefallen.
Warum auch nicht?

Lisa Wenger
Amoralische Fabeln
Zürich, 1920

Sonntag, 17. März 2019

Apfel und Birne

„So rot und prächtig möchtest du wohl auch einmal aussehen“ sagte der Apfel stolz zur Birne. „Schau einmal, wie ich glänze und alle anlache, die mir entgegen treten. Dagegen hängst du unproportioniert und mit dickem Bauch am Baum und hast allenfalls eine verschämte Röte zu zeigen.“
„Aber so saftig und süß innen drinnen wie ich wirst du wohl nie sein. Vorher frisst dich die Fäulnis auf!“ konnte die Birne gerade noch antworten, bevor eine Kinderhand sie vom Baume riss und an den bereits geöffneten, erwartungsvollen Mund hob.
Horst-Dieter Radke

Freitag, 8. März 2019

Der böse Basilisk

Der böse Basilisk aus hellem Spiegel seuget
Zu eigenm Untergang selbst seiner Augen Gifft.
Wer Bosheit anzuthun dem Nechsten ist geneiget,
Ist billig daß ihn selbst sein Mörder-Anschlag trifft.

Eduard Mörike

Donnerstag, 7. März 2019

Fabeln über Paradiesvögel

Bildquelle: Wikipedia


Die merkwürdigsten sind die Paradiesvögel (Paradisea) von denen man mehrere Arten kennt, welche hier zum Theil ausschließend einheimisch sind. Nicht bloß der Pracht ihrer Federn und Farben wegen, sondern auch durch wunderliche Mährchen, die von ihnen erzählt und geglaubt wurden, sind diese Vögel bei den Naturforschern und Sammlern berühmt worden. Dahin gehört die Fabel, daß sie ohne Beine geboren würden, nie die Erde berührten, ihr ganzes Leben hindurch in der Luft schwebten, und als ächte Kinder des Paradieses bloß vom Thaue des Himmels lebten. Man findet in den Schriften der älteren Naturforscher erbauliche Betrachtungen, über den Endzweck des Schöpfers bei dem Bau dieser erhabenen übersinnlichen Vögel. Die Fabel hat eine einfache Veranlassung. Bei dem Zuge der Vögel bringt bisweilen ein heftiger Windwechsel ihre langen Schulterfedern in Unordnung; dies hindert sie im Fliegen, und sie sollen entweder ins Meer, oder auf den Erdboden, wo sie nicht sogleich wieder auffliegen können, weil sie, bei dem eigenen Bau ihrer Federn, sich hierzu auf einem Baume oder sonst auf einem erhabenen Gegenstande befinden müssen. Die Einwohner fangen sie nun leicht, schneiden ihnen die Füße ab und tragen sie als Zierathen auf ihren Turbans. Einige wurden den Holländern auf den Gewürzinseln verkauft, welche entweder selbst glaubten, daß die abgeschnittenen Füße von der Geburt an fehlten, oder welche in ihrem ehrlichen Speculationsgeiste es einträglicher fanden, in Europa solche Wundervögel zu verkaufen.

Eine andere Fabel erzählt von den Königsvögeln (Paradise regia Lin.) daß sie ihrem Könige oder Anführer mit eben dem Gehorsam und der Ehefurcht gehorchen, wie ein Unterthan seinem Monarchen. Wenn eine Schaar zum Wasser oder an einen Platz kommt, wo sich Nahrung findet, so soll kein Vogel eher das Wasser oder Futter anrühren, bis der König getrunken oder gefressen hat. Dieses, in Indien als unläugbare Wahrheit geglaubte Märchen hat keinen anderen Grund, als daß diese Vögel bei ihren Zügen einem folgen, der vorausfliegt, was auch andere Zugvögel zu thun pflegen.

Neueste Länder- und Völkerkunde.
Ein geographisches Lesebuch
Sechszehnter Band. Australien.
von Dr. L. Lindner
Weimar, 1814

Mittwoch, 20. Februar 2019

Über Garuda

Vishnu auf Garuda reitend
(Wikimedia commons)


In der indischen Mythologie ist Garuda ein Wesen, halb menschlich, halb Vogel, das Schlangen sucht, tötet und frisst. Er dient dem Gott Vishnu als Reittier. Auch in anderen asiatischen Ländern hat er eine Bedeutung. In Thailand ist er das persönliche Emblem des thailändischen Königs, in Tibet gilt er als eine der vier »Würden«. Das sind Symboltiere, die den vier Himmelsrichtungen zugeordnet sind. Über seine Entstehung erzählt man sich in Indien folgendes:

Der alte Schildkröten-Mann, der Schöpfergott, hatte zwei Ehefrauen: Vinata, den Himmel, und Kadru, die Erde. Während Kadru viele Eier legte, aus denen Nagas (Schlangenwesen) schlüpften, legte Vinata nur drei Eier. Wütend über Kadru und ihre Nachkommen zerbrach Vinata das erste Ei. Zu früh geboren fehlte dem Nachkommen die Gestalt und es entstand der Blitz. Auch das zweite Ei wurde von Vinata zerstört. heraus kam ein schöner Jüngling, dem aber die Beine fehlte. Wütend auf seine Mutter verfluchte er sie und wurde Aruna, die Morgendämmerung. Der Fluch aber machte Vinata zur Sklavin von Kadru. Aus dem dritten Ei aber, das Vinata vollständig ausbrütete, schlüpfte ein mächtiger Dämon: Garuda. Um seine Mutter vom Sklavendasein zu befreien, musste er für Kadru von den Göttern Amrita, das Unsterblichkeits-Elixir, stehlen.

Seither hasst Garuda die Schlangen und stellt ihnen, wo er kann, nach, um sie zu töten und zu fressen.

Samstag, 16. Februar 2019

Die Schlange und die Dirne


Aus Furcht vor dem Vogel Garuda hatte sich eine Schlange in das Haus einer Dirne geflüchtet und dort menschliche Gestalt angenommen. Die Dirne nahm als Geschenk fünfhundert Elefanten, und der Schlangendämon gab ihr auch täglich diesen Lohn kraft seiner Zaubermacht. »Woher nimmt der Herr nur täglich so viele Elefanten, und wer ist der Herr?« Mit diesen Fragen quälte ihn das hübsche Dirnlein, bis endlich der verliebte Dämon plauderte: »Sag es aber niemand! Aus Furcht vor dem Garuda halte ich mich hier verborgen; denn ich bin ein Schlangendämon.« Und von der Buhlerin erfuhr es, als Geheimnis, die Kupplerin.

Nun kam auch dahin der Vogel Garuda, der die Welt nach Schlangen durchsuchte; er war in Menschengestalt. Er ging zur Kupplerin und sagte: »Madame, ich möchte heute im Hause ihrer Tochter bleiben. Was nimmt sie als Geschenk dafür?« Sie sprach; »Ein Schlangendämon ist hier, der gibt täglich fünfhundert Elefanten; wir haben es nicht nötig, uns für einen Tag was schenken zu lassen.« Nun wußte Garuda, daß ein Schlangendämon da sei, und betrat als Gestalt die Wohnung der Buhlerin. Da erblickte er auf dem Söller des Hauses die Schlange, offenbarte sich in seiner wahren Gestalt, flog auf, tötete und fraß die Schlange auf.

Deshalb wird ein kluger Mann nie vor Frauen ein Geheimnis ausplaudern.

Indische Erzählungen
Aus dem Sanskrit zum erstenmal ins Deutsche übertragen
von Dr. Hans Schacht
Edwin Frankfurter Verlag
Lausanne und Leipzig
1918