Dienstag, 7. Mai 2019

Die Steine

Tolstoi (Quelle: Wikimedia commons)

Zwei Frauen kamen zu einem Greise, um sich von ihm belehren zu lassen. Die eine kennzeichnete sich selbst als eine große Sünderin. In der Jugend hatte sie ihren Gatten betrogen, und die Erinnerung daran quälte sie das ganze Leben lang.
Die andere Frau hatte sich niemals gegen die Gesetze vergangen, sie fühlte sich vollkommen schuldlos und war mit sich stets zufrieden.
Der Greis fragte beide nach ihrem Leben aus. Die eine berichtete unter hellen Tränen, was sie einst verbrochen hatte. Sie war von der Wucht ihres Frevels so erdrückt, daß sie gar keine Vergebung erwarten konnte.
Hingegen sagte die andere, daß sie sich durchaus keiner Schuld bewußt sei. Der Alte wandte sich zuerst an die Sünderin und sprach:
„Du, Magd Gottes, zieh hinaus vors Tor der Stadt und suche den größten Stein, den du aufheben kannst und bring ihn her! Und du!“, sagte er zur anderen Frau, schaffe auch Steine her, so viel du kannst, aber lauter kleine.“
Die beiden Frauen zogen aus, um dem Befehl des Greises zu willfahren. Die eine brachte einen großen, schweren Stein, die andere einen Sack voll kleiner Steine. Der Alte betrachtete die Steine und sprach:
„Jetzt will ich euch noch einen Auftrag geben. Traget die Steine zurück und legt sie wieder an dieselben Stellen, von wo ihr sie geholt habt, und dann kehrt zu mir zurück.“
Und die Frauen taten, wie ihnen geheißen wurde. Die eine fand sehr leicht den Platz, wo sie den mächtigen Stein gefunden hatte, und legte ihn dort wieder hin. Die andere konnte sich unmöglich entsinnen, auf welchen einzelnen Stellen sie die winzigen Steine aufgelesen hatte. Es war ihr nicht möglich, der Weisung des würdigen Greises zu folgen und sie kam zu ihm mit dem gefüllten Sack zurück.
„Gerade so,“ sagte er zu den beiden Frauen, „geht es mit den Sünden! Du hast ohne Schwierigkeit den großen und schweren Stein an seinen früheren Ort legen können, weil du genau wußtest, von wo er genommen war. Und du warst nicht imstande es zu tun, weil es dir entfallen war, wo du all die kleinen Steine aufgehoben hattest. Wer sich Gewissensbisse wegen seiner Sünden machte, hat sich mit den Menschen und mit sich selbst zu versöhnen gesucht und darum von den Folgen der Sünde befreit.
Wer sich aber nur kleiner Vergehen schuldig machte, entsinnt sich ihrer oft kaum, bereut sie gar nicht mehr, gewöhnt sich dagegen an ein sündhafte Leben und verurteilt nur um so strenger die Sünden der anderen.
Wir sind alle Sünder - und wir müssen zugrunde gehen, wenn wir dessen nicht eingedenk sind und Reue empfinden.“



Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi
Innsbrucker Nachrichten,  8.7.1917

Keine Kommentare: