Sonntag, 31. Mai 2009

Ein Hund gesellet sich zû einem Wolff, aber nit lang.


Wir lesen von einem Burger, der het ein grosen Hund, den het er zû einem Spycher oder zû einem Erbsenarcker gelegt, des zû hüten, und schickt im zû essen uff das Feld. Und uff einmal het das Gesind des Hunds vergessen, und hetten im in etlichen Tagen nichtz zû essen geschickt, das er grosen Hunger leid. Da lieff er in den Wald und gesellt sich zû einer Wölffin, deren halff er rauben, und teilten es mit einander, und thetten eben, als hetten sie grose Trüw zûsammen. Uff einmal kam der Hund und die Wölffin uß dem Wald mit einander und wolten etwas rauben. Da ersahe des Hunds Her den Hund und riefft im; da kart sich der Hund wider den Wolff und zerreiß in.

Also ist die Früntschafft viler Menschen, die scheinen, sie seien gerecht; aber sobald das Widerspil kumpt, so ist es uß. Mit Got ist es auch also. Wir meinen, wir haben grose Früntschafft mit Got; sobald der Her der Sünden kumpt mit seiner Anfechtung, so strüssen wir unß wider Got und hangen dem forigen Herren an. Hüt du dich!

Johannes Pauli
aus: Schimpf und Ernst, 1522

Freitag, 29. Mai 2009

Der Schmetterling und die Biene


Wärs Wetter schön,
Sprach einst ein Sommervogel;
Wärs Wetter schön, ich wollte
Zur Rose buhlen gehn.
Und ich, versetzt die weise Biene,
Gieng an die Arbeit in das Grüne,
Wärs Wetter schön!

Nicolaus Götz
Stuttgart 1893


Donnerstag, 28. Mai 2009

Psyche (gr.; Seele)


Die Griechische Mythologie erzählt von einer Psyche folgende Fabel, die den alten und neuern Schriftstellern, besonders den Dichtern, Stoff zu vortrefflichen Fictionen gegeben hat. Psyche war eine Königstochter, die jüngste und schönste von drei Schwestern. Venus, eifersüchtig auf ihre Reitze, befahl dem Amor, sie in den häßlichsten Menschen verliebt zu machen; allein der Liebesgott gewann sie selbst lieb, ließ sie von dem Gipfel eines Berges durch angenehme Zephyre in ein herrliches Lustgefilde entführen, wo sie jede Vergnügung der Sinne genoß, und besuchte sie unerkannt alle Nächte. Sehnsucht nach ihren beiden Schwestern verleitete sie, ihren Liebhaber, den sie noch nie gesehen hatte, um die Herbeiführung derselben zu bitten; sie fand Gehör. Die Schwestern schilderten ihr den unbekannten Liebhaber als ein gräßliches Ungeheuer, und gaben ihr ein scharfes Messer, um ihn zu morden, und eine verborgne Lampe, um die That desto sicherer auszuführen. Sobald Amor in der nächsten Nacht neben ihr eingeschlafen war, zog sie das Messer und zugleich die Lampe hervor; allein aus plötzlichem Erstaunen über seine Schönheit ließ sie, da sie in ihm den Gott der Liebe erkannte, das Messer sinken. Ein Tropfen heißes Oehl fiel aus der Lampe auf Amors Schultern; er erwachte, sah das Messer, warf ihr ihre Untreue vor, und entfloh ihren Umarmungen Psyche suchte ihn überall, selbst im Tempel der Venus, die, voll von hämischer Freude, sie nun in ihrer Gewalt zu haben, ihr eine Menge schwerer Arbeiten und Plagen auflegte, und sie sogar in das Unterreich hinabzusteigen zwang. Durch Zauberei ihres noch immer getreuen Geliebten kam sie glücklich wieder herauf. Amor bat den Jupiter fußfällig um Endigung ihrer Leiden, und erhielt von ihm die Erlaubniß, daß sie unsterblich gemacht und im Himmel mit ihm vermählt werden sollte. Venus selbst ensagte ihrem Zorn, eröffnete in eigner Person den Hochzeittanz; und die Götter feierten ein prächtiges Fest der Freude. – Psyche wird als ein schönes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln gebildet. Uebrigens ist leicht zu bemerken, daß der dichterisch gedachte Begriff der Seele und der Unsterblichkeit, verbunden mit einer andern Bedeutung des Worts Psyche, in welcher es ein Schmetterling heißt, mit dieser Fabel in Verbindung stehe.

Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3.
Amsterdam 1809, S. 497-498.

Der Kuss des Einhorn

Eine Rezension

Auch die Fabel der Alten …


Auch die Fabel der Alten, das schöne Bild geistiger Verklärung, der Psyche-Schmetterling, genügte ihr nicht. Die Raupe ist geflügelt worden, hat ihre Farben gesteigert, ihre Formen entwickelt und hinterläßt die Larve, wie eine Blume ihre Knospenkapsel, aber des Menschen Leib verwelkt und bricht endlich ganz und gar zusammen, ihm entsteigt keine sichtbar veredelte und doch seiner Urform verwandte Gestalt. Ich glaube an die Fortdauer, eben darum graust mir vor den unlösbaren Räthseln des Todes.

Adele Schopenhauer
aus: Anna (Roman)
Theil 1–2, Band 2
Leipzig 1845.

Dienstag, 26. Mai 2009

Das Einhorn

Quelle: Zeno.org / Einhornjagd

Das Einhorn lebt von Ort zu Ort
nur noch als Wirtshaus fort.

Man geht hinein zur Abendstund
und sitzt den Stammtisch rund.

Wer weiß! Nach Jahr und Tag sind wir
auch ganz wie jenes Tier

Hotels nur noch, darin man speist –
(so völlig wurden wir zu Geist).

Im »Goldnen Menschen« sitzt man dann
und sagt sein Solo an ...

Christian Morgenstern

Montag, 25. Mai 2009

La Dame à la licorne


Quelle: Wikipedia / Rainer Maria Rilke

In seinem Buch »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« beschäftigt sich Rilke auch mit dem sechsteiligen Wandbehang »Die Dame mit dem Einhorn« (La Dame à la licorne). Diese Sonderausgabe in der Insel-Bücher mit der Nr. 1001 enthält die Reflektionen Rilkes zu den Wandteppichen und stellt diesen die Teppiche ganz oder in Ausschnitten gegenüber. Ein Nachwort von Egon Olesssak geht nicht nur auf Rilkes Deutung ein, sondern beschreibt auch in einer kurzen Zusammenfassung die Herkunft des Einhorns, die Entstehung der Teppiche, soweit bekannt und deren Geschichte bis zur heutigen Unterbringung im Musée de Cluny in Paris.


Ein nettes kleines Büchlein, das man schnell an einem Abend gelesen hat, mit dem man sich aber dank der hervorragenden Abbildungen öfters und länger beschäftigen kann.

Horst-Dieter Radke


Sonntag, 24. Mai 2009

… ich habe ihn in seiner Gotttiergestalt geschaut


Quelle: Wikipedia / Skoczylas, Wladyslaw (1883–1934)
1883)(1934)

Mein Bau ist nicht ferne von der alten Stätte des Tierreichs. Sinnend besuche ich sie bisweilen, denn Sinnen ist alles, was ich jetzt tun darf, um das göttliche Wirken in mir nicht zu stören, dessen Erfüllung mir nun gewiß ist, seit ich Postel dort an einem föhnigen Nachmittag noch einmal begegnet bin, wie er verheißen hat. Gesprochen wurde nichts, aber ich habe ihn in seiner Gotttiergestalt geschaut. Von weitem hörte ich zuerst ein Schäumen und Schnauben, wie Meeresbrandung und wie Marschmusik dröhnenden Hufschlag; dann brachen wie von einem Sturmwind die Zweige prasselnd auseinander und vorüber raste mit feurigem Götterblick ein schneeweißes bärtiges Einhorn.


Oscar Adolf Hermann Schmitz (1873 - 1931)

Sohn eines Eisenbahndirektors. Er studierte seit 1892 Jura, Ökonomie und Geisteswissenschaften, verkehrte in München mit dem Kreis um Stefan George und den Kosmikern Klages und Schuler. Auch mit Franziska zu Reventlow war er bekannt. In München wurde er ein enthusiastischer Teilnehmer des Treibens der Schwabinger Bohème. In späteren Jahren befasste er sich intensiv mit Themen aus Politik und Gesellschaft, insbesondere mit dem Werk von C. G. Jung.

Samstag, 23. Mai 2009

Maria

Quelle: Zeno.org / Hans Süß von Kulmbach

Ich weiß eine Magd, gar hehre,
Die trägt den höchsten Preis.
Wer ringt zu ihrer Ehre,
Der ist an Tugenden weis'.
Gen ihr sind andre Frauen
Nur Dörnlein auf der Auen
Bei einem Lilienreis.

Ihr rein weiblich Gebilde,

Ihr' Keuschheit ist so groß,
Daß sich ein Einhorn wilde
Gab hin in ihren Schooß,
Das war so stark an Kraft,
Daß seine Meisterschaft
Der Himmel nicht beschloß.
...

(Auszug)

Louise Hensel
aus: Lieder.
Paderborn 1879, S. 281-285

Freitag, 22. Mai 2009

Wärst du das Einhorn …

Wärst du das Einhorn, so würde dich Stolz und Grimm verderben, und in Ermanglung eines andern würdest du die Beute deiner eignen Wuth werden.

Shakespeare (Timon von Athen)



Donnerstag, 21. Mai 2009

Rätsel um das Einhorn gelöst

Ein junges Touristenpaar filmt zufällig in der Schweiz in den Bergen ein lebendes Einhorn. Ein breite Diskussion darüber wird entfacht, in Foren wird heiß diskutiert, ob es Einhörner wirklich gibt (wobei sich überraschend viele mit einem »pro«-Statement aus der Deckung wagen). Und dann kommt die wirkliche Aufdeckung.

Mittwoch, 20. Mai 2009

Pan und das Einhorn

Quelle: Zeno.org
Raffael: Porträt einer jungen Frau mit dem Einhorn

...
O Schreck, davor ihr fast das Herzblut stille stand!
Bei einem kurzen Rank um eine steile Wand
Kam ihr von unten, kletternd auf den Ziegenstegen,
Auf seinem Einhorn reitend, plötzlich Pan entgegen.
Rückwärts zu flüchten wars zu spät, und seitwärts glückte
Kein Ausschlupf zwischen Fels und Abgrund. Also drückte
Sie sich an einen Stamm, bis er vorüberzog.
»Schön guten Morgen! Prächtiges Wetter heute!« flog
Ihr Anruf: »Doch Verzeihung, Meister, eine Frage:
Ist dies der richtige Fußweg nach der Erde? Sage!«
Mit klugen Augen schaute Pan ihr ins Gesicht
Und blinzelte ein wenig. Antwort gab er nicht.
Indes das Einhorn, während es vorübertrappte,
Nach hinten schielte und mit beiden Ohren knappte.
Sie aber, um den Schreck ein wenig auszugleichen,
Verhöhnte hinterm Rücken Pan mit spöttischen Zeichen,
Schlug seinen unbequemen Blick sich aus dem Sinn
Und sprang erleichterten Gemüts des Wegs dahin,
Tralli, tralla, gemäß dem Takt der Melodie. ...

Carl Spitteler
aus: Olympischer Frühling

Dienstag, 19. Mai 2009

Das Einhorn

Quelle: Wikipedia / Wildweibchen mit Einhorn

Der Heilige hob das Haupt, und das Gebet
fiel wie ein Helm zurück von seinem Haupte:
denn lautlos nahte sich das niegeglaubte,
das weiße Tier, das wie eine geraubte
hülflose Hindin mit den Augen fleht.

Der Beine elfenbeinernes Gestell
bewegte sich in leichten Gleichgewichten,
ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell,
und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,
stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,
und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.

Das Maul mit seinem rosagrauen Flaum
war leicht gerafft, so daß ein wenig Weiß
(weißer als alles) von den Zähnen glänzte;
die Nüstern nahmen auf und lechzten leis.
Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte,
warfen sich Bilder in den Raum
und schlossen einen blauen Sagenkreis.

Rainer Maria Rilke

Montag, 18. Mai 2009

Einhorn, gegrabnes (Unicornu fossile)

Quelle: Zeno.org / Hans Baldung (Grien)

Einhorn, gegrabnes, (Unicornu fossile) Stücken von Elephanten- und Einhornnarwalzähnen, mit einer grauen oder schwarzen Rinde bedeckt, und von weißem, kalkartigem, blätterigem Bruche, welche man an verschiednen Orten in Deutschland, so wie in Sibirien und Nordamerika, aus der Erde zu graben pflegt.

Wie man diesen erdigsteinartigen Körper gegen den Bauchfluß in den Masern und Pocken, in Mutterblutstürzen u.s.w. innerlich hat rühmen können, läßt sich kaum denken.

Samuel Hahnemann
Apothekerlexikon 1. Abt., 1. Teil
Leipzig 1793, S. 243

Sonntag, 17. Mai 2009

Das Einhorn lässt sich mit Bäumen fangen

Quelle: Zeno.org / Französischer Tapisseur (15.Jh.)

Das Einhorn lasse sich mit Bäumen fangen,
Der Löw im Netz, der Elefant in Gruben,
Der Bär mit Spiegeln und der Mensch durch Schmeichler;

Shakespeare (Julius Cäsar)

Samstag, 16. Mai 2009

Wenn fern das Einhorn schreit


Quelle: www.zeno.org

Sein Leid ist wie ein Teppich, drauf die Schrift
Der Kabbalisten brennt durch Dunkelheit,
Ein Eiland, dem ‹vorbei› ein Segler schifft,
Wenn in den Bergen fern das Einhorn schreit.

(Auszug)
Georg Heym

Freitag, 15. Mai 2009

Das Einhorn im Märchen


Quelle: Wikipedia / La Licorne et le Loup (Galetoiles)

Auch in den von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen kommt das Einhorn vor. Das bekannteste Märchen mit Einhorn ist das vom tapferen Schneiderlein. Allerdings gibt es davon auch eine gekürzte Fassung, in welcher der Teil mit dem Einhorn fehlt. Das Motiv ist alt und findet sich ebenfalls bei Bechstein, Brentano und in anonymen Märchenaufzeichnungen und nicht immer ist es der Schneider, sondern mal auch ein Seiler oder anderer Handwerker, der das Einhorn erlegt.

Auszug:

... Das Schneiderlein verlangte von dem König die versprochene Belohnung; den aber reute sein Versprechen, und er sann aufs neue, wie er sich den Helden vom Halse schaffen könnte. »Ehe du meine Tochter und das halbe Reich erhältst«, sprach er zu ihm, »mußt du noch eine Heldentat vollbringen. In dem Walde läuft ein Einhorn, das großen Schaden anrichtet, das mußt du erst ein fangen.«

»Vor einem Einhorne fürchte ich mich noch weniger als vor zwei Riesen; siebene auf einen Streich, das ist meine Sache.« Es nahm sich einen Strick und eine Axt mit, ging hinaus in den Wald und hieß abermals die, welche ihm zugeordnet waren, außen warten. Es brauchte nicht lange zu suchen, das Einhorn kam bald daher und sprang geradezu auf den Schneider los, als wollte es ihn ohne Umstände aufspießen. »Sachte, sachte«, sprach er, »so geschwind geht das nicht«, blieb stehen und wartete, bis das Tier ganz nahe war, dann sprang er behendiglich hinter den Baum. Das Einhorn rannte mit aller Kraft gegen den Baum und spießte sein Horn so fest in den Stamm, daß es nicht Kraft genug hatte, es wieder herauszuziehen, und so war es gefangen. »Jetzt hab' ich das Vöglein«, sagte der Schneider, kam hinter dem Baum hervor, legte dem Einhorn den Strick erst um den Hals, dann hieb er mit der Axt das Horn aus dem Baum, und als alles in Ordnung war, führte er das Tier ab und brachte es dem König ...

aus: Das tapfere Schneiderlein
Brüder Grimm (1812)



Donnerstag, 14. Mai 2009

Das Einhorn sollen Jungfraun klagen ...

Quelle: Wikipedia

Das Einhorn sollten Jungfraun klagen:
Ihrer Reinheit halber wirds erschlagen.

aus: Parzival
Wolfram von Eschenbach

Mittwoch, 13. Mai 2009

Einhornpulver

Quelle: Wikipedia / Narwale

Das Horn des Einhorn hatte vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein eine nicht unerhebliche wirtschaftliche Bedeutung; es wurde als stark wirkendes Heilmittel verkauft. Zahlreiche Apotheken benannten sich nach diesem Fabelwesen (Einhorn-Apotheken gibt es heute noch zuhauf) und verkauften das Pulver des geriebenen Horns zu Preisen, die über dem Goldwert lagen. Neben der Heilwirkung wurde auch die Wirkung als Aphrodisiakum hoch gelobt. Das Horn, aus dem das Pulver gewonnen wurde, stammte aber nicht aus dem Horn eines realen Einhorns, sondern aus dem Zahn des Narwals und nicht selten auch aus fossilen Knochen. Die Einhorn-Höhle in Scharzfeld im Harz lieferte lange das benötigte Material. Auch Goethe war mehrfach dort und hat die Höhle untersucht. Tatsächlich stammen die Knochen aber von Höhlenbären ab, wie neuere Untersuchungen belegt haben.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 12. Mai 2009

Das Verschwinden des Einhorn


Quelle: Wikipedia / Unicorn in captivity

Es ranken sich viele Mythen und Sagen um das Verschwinden des Einhorns. Jäger haben sich die Sympathie des Fabelwesens zu unschuldigen jungen Frauen zu Nutze gemacht, ihm aufgelauert und es gefangen oder erlegt - sagen die Einen. Es sei einfach verblasst, weil die Menschen nicht mehr an Einhörner geglaubt haben - sagen die Anderen. Einhörner habe es nie gegeben, das sei eine Ausgeburt der menschlichen Fantasie gewesen von Anfang an - sagen die Zweifler und die Einhörner seien verkümmert und verhungert, weil durch die Vereinnahmung der Welt durch den Menschen kein Platz mehr für sie blieb - sagen die Pessimisten.

Tatsächlich könnte es sich aber so verhalten haben: Gegeben hat es immer nur ein Einhorn. Es ist durch die Jahrmillionen gewandert, die auch der Mensch gegangen ist von dem Zeitpunkt an vor zwei Millionen Jahren, als der erste Australopithecus sich erhob und aufrecht durch die Savanne ging. Es begleitete den Homo habilis, den Homo erectus und letztendlich den Homo sapiens so lange, bis dieser sich nicht nur von den Zwängen seiner Umgebung freigemacht sondern sogar begonnen hatte, diese unter seinen Zwang zu nehmen. Als die Pyramiden in den Himmel wuchsen, in Babylon die hängenden Gärten entstanden, der Koloss von Rhodos sein Licht weit über das mittlere Meer strahlte, die Menschen begannen, Gänge tief in die Berge zu schlagen, um Erz und Edelstein hervorzuholen, da zog es sich in die dunklen Wälder zurück, die noch unberührt von Menschenhand waren. Später kam es dann und wann noch einmal vor um seinen Kopf und das Horn in den Schoß einer vertrauensvollen Jungfrau zu legen, aber als der zunächst einstimmige Choral in den Stimmen immer mehr auseinanderstrebte und die Kathedralen immer höher in den Himmel zeigten, da verschwand es einfach von dieser Welt um auf einer anderen aufzutauchen, auf der gerade ein Wesen begann sich auf zwei Beinen aufzurichten und mit verwunderten Augen seine Umgebung aus einer neuen Perspektive zu betrachten.

Die Menschen hatten es nicht beachtet, als es da war. Seit es fort ist, sehnen sie sich nach ihm, malen von ihm Bilder, dichten Sonette und Geschichten, suchen das vermeintliche Horn, von dem man Wunderdinge glaubt – und haben dabei doch mehr vergessen, als sie je gewusst haben.

Horst-Dieter Radke

Montag, 11. Mai 2009

Mariae Verkündigung

Quelle: Wikipedia / Pisanello

Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn),
erschreckte sie. Sowenig andre, wenn
ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht
in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht,
auffahren –, pflegte sie an der Gestalt,
in der ein Engel ging, sich zu entrüsten;
sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt
mühsam für Engel ist. (O wenn wir wüßten,
wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht,
die, liegend, einmal sie im Wald eräugte,
sich so in sie versehn, daß sich in ihr,
ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte,
das Tier aus Licht, das reine Tier -,)
Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht,
der Engel, eines Jünglings Angesicht
so zu ihr neigte; daß sein Blick und der,
mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen
als wäre draußen plötzlich alles leer
und, was Millionen schauten, trieben, trugen,
hineingedrängt in sie: nur sie und er;
Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide
sonst nirgends als an dieser Stelle – : sieh,
dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.

Dann sang der Engel seine Melodie.

Rainer Maria Rilke

Sonntag, 10. Mai 2009

Das Einhorn und das Mädchen

Quelle: Wikipedia / Gustave Moreau: Les Licornes

In einem Garten unterhielten sich Jäger über das Einhorn. Sie konnten es sich nicht erklären und vermuteten bald ein Tier, einen Geist, einen Engel oder gar einen Boten der Unterwelt.

Ein Mädchen saß lächelnd unter einer Pergola und wußte es besser. Sobald die Jäger gegangen waren, kam das Einhorn aus einem Busch hervor, eilte zu dem Mädchen, ließ sich vor ihm nieder und schmiegte seinen Kopf auf ihr Knie. Das Einhorn liebte alle jungen, unschuldigen Mädchen und verlor in ihrer Nähe alle Scheu. Das wurde ihm zum Verhängnis. Als die Jäger diese Vorliebe des Einhorns herausbekamen, stellen sie ihm eine Falle und töteten es.

Horst-Dieter Radke
nach einer Fabel des Leonardo da Vinci

Samstag, 9. Mai 2009

Ein solches Thier ist in der Welt nicht zu finden

Quelle: Wikipedia / Peruartevalor

Reuter in seinem umschränckten Reich des Teuffels Part. I. Cap. 11. p.m. 145. schreibt: Es erzehlen so wohl alte als neue Scribenten von dem Einhorn /daß es mitten an der Stirn nur ein eintziges Horn habe, es ist aber nur eine blosse Fabel, und ein solches Thier ist in der Welt nicht zu finden. In der H. Schrifft werden diesem Thier 2. Hörner zugeschrieben, siehe Deut. 33. ℣. 17. Ps. 22. ℣. 22. … Vossius schreibt de orig. & Progress. lib. 3. c. 60. also: Man saget / das Einhorn liebe das weibliche Geschlecht gar sehr / und wann es eine blosse Jungfer sehe / würde es so eingenommen / daß es seinen Kopff in ihren Schooß lege / und also seine Wildheit ablegete / auch in derselben Schooß einschlaffe / und auf solche Art gefangen werde. Es erzehlt dieses Albertus M. und andere neue Scribenten, aber es wird davon so viel gehalten als von den Fabeln Æsopi. Und haben sie durch dieses Gedicht anzeigen wollen, es sey keine Stärcke so wilde, daß sie nicht solte durch die Liebe gebändiget werden.

Bräuner, Johann Jacob
Physicalisch= und Historisch= Erörterte Curiositaeten
Frankfurth am Mayn 1737, S. 581-606

Das Einhorn im Garten

Quelle: Wikipedia / Domenichino 1604/05

Eines Tages sieht ein Mann ein Einhorn im Garten. Er weckt seine Frau und erzählt ihr davon, doch diese sagt nur, das Einhörner Fabelwesen seien, dreht sich um und schläft weiter. Der Mann geht zurück in den Garten und trifft das Einhorn immer noch an. Er gibt ihm eine Lilie zu fressen und kehrt zu seiner Frau zurück, die auch jetzt noch nichts davon wissen will. Inzwischen ist das Einhorn aus dem Garten verschwunden. Der Mann legt sich dort zum Schlafen nieder.

Die Frau hat inzwischen einen Arzt und die Polizei gerufen und erklärt ihnen, dass ihr Mann ein Einhorn gesehen hat, worauf man sie in die Zwangsjacke steckt. Als der Mann aus dem Garten ins Haus kommt fragt ein Polizist ihn, ob er ein Einhorn gesehen habe. »Wie soll das möglich sein«, antwortete der Mann, »Einhörner sind Fabelwesen«. Daraufhin wird die Frau in die Anstalt geschleppt.

Nacherzählt nach einer Fabel von James Thurber
Horst-Dieter Radke

Das Original ist hier zu finden.

Donnerstag, 7. Mai 2009

Das Einhorn

Quelle: Wikipedia /Bildausschnitt: Hieronymus Bosch

Das Einhorn ist ein Fabelwesen in Pferdegestalt mit einem geraden Horn in der Stirnmitte. Es war im Mittelalter besonders durch den Physiologus - eine Art Tierkompendium - bekannt. Es galt in frühchristlicher Zeit als Sinnbild gewaltiger Kraft (nicht selten wurde diese auf Christus bezogen). Später galt es als Sinnbild der Keuschheit und wurde als Attribut der Jungfrau Maria benutzt. Entsprechend hegte man die Vorstellung, das Einhorn verliere seine Wildheit, wenn es sein Haupt einer Jungfrau in den Schoß lege.



Mittwoch, 6. Mai 2009

Kunst und Gunst

Zur Ulme fleht die Rebe:
»Reich mir die Hand, und hebe
mich auf zu Luft und Licht.
Was ich empor auch strebe:
Gedörn, so mich umflicht,
läßt mich gedeihen nicht.
Du bist so groß und mächtig;
ich mache dich noch prächtig:
ich will dein Haus umschlingen
rundum mit einem Kranz,
hinein dir Düfte bringen
und goldner Früchte Glanz.«

Die Ulme war gewogen,
hat sie empor gezogen,
und prangt vor andern weit.

Darnach als Sturm und Zeit
den Baum daniederbogen,
ward ihm die Reb’ ein Stab,
der lang noch Haltung gab.


Abraham Emanuel Fröhlich

Dienstag, 5. Mai 2009

Die Drossel und der Vogler


Wer so gern mit Schlingen spielt,
Bleibt wohl letztlich hangen.
Jüngferchen! auf euch gezielt,
Rosig süße Wangen!
Sah die Drossel in dem Busch
Vogler mit den Stangen,
Lachet sein und: »Ha, ha, ha!
Krieg mich im Verlangen!«
Flattert drum um husch und husch!
Bleibt der Flügel hangen.
Jauchzt der Vogler: »Ha, ha, ha!
Hab' ich dich gefangen!«

Friedrich Müller (Maler Müller)

Montag, 4. Mai 2009

Die Schildkröte und die beiden wilden Enten



Eine Schildkröte … lebte zufrieden in einem See mit einigen wilden Enten. Es kam ein Jahr der Dürre, so, daß kein Wasser in dem See blieb. Die Enten sahen sich genöthigt davon zu ziehen. Sie gingen daher zu der Schildkröte, ihr Lebewohl zu sagen. Diese machte ihnen den Vorwurf, daß sie sie zur Zeit des Unglücks verließen, und beschwur sie, sie mit sich zu nehmen.


Die Enten erwiederten: nicht ohne Bekümmerniß trennen wir uns von dir: aber wir sind dazu genöthigt. Was deinen Vorschlag anbetrifft, dich mit uns zu nehmen, so haben wir einen zu langen Zug zu machen, als daß du uns folgen könntest, da du nicht fliegen kannst. Versprichst du uns jedoch, kein Wort unter Wegs zu sprechen, so wollen wir dich tragen. Wir werden Leuten begegnen, die uns anreden. Du wirst ihnen antworten wollen, und dies wird die Ursach deines Unglücks seyn.

Nein, sagte die Schildkröte, ich will alles thun, was euch beliebt.

Nun ließen die Enten die Schildkröte einen kleinen Stock in der Mitte zwischen ihre Zähne nehmen, und baten sie, ihn fest zu halten. Zwei Enten faßten den Stock, jede an einem Ende, un flogen mit der Schildkröte in die Höhe. Wie sie über einer Stadt waren, erstaunten die Einwohner, welche dies sahen, über die Neuheit des Schauspiels, und riefen alle auf einmal. Dies unverständliche Geschrei hörte die Schildkröte mit Ungeduld. Endlich konnte sie das Stillschweigen nicht mehr ertragen. Die Worte schwebten ihr auf der Zunge: ihr Neider ärgert euch, uns nach dem glücklichen Lande fliegen zu sehen: aber, wie sie den Mund öffnete, fiel sie zur Erde und war selbst Ursach an ihrem Tode.


Dies Beispiel zeigt, daß man die Ermahnungen von Freunden nicht verachten muß.

Des Braminen Pilpai
Weisheit der Indier, in Fabeln

Bearbeitet von F.A.L. Matthaci

Pastor in Varlosen und Löwenhagen

Hannover, 1826

Russischer Aesop

Der vorzüglichste Fabeldichter, den Rußland bis jetzt hervorgebracht, ist Kriloff *), ein noch lebender Dichter, Aufseher der Kaiserlichen Bibliothek zu Petersburg. Sein Stoff ist fast immer originell, sein Vortrag zierlich und seine Wendungen geistreich. Seine Ideen und Bilder sind ganz Russisch und können daher als ein treues Gemälde seiner Landsleute dienen. Die Moral seiner Fabeln ist sinnig und gediegen, und dies ist kein kleiner Vorzug. Die Gräfin Orloff, die ihn durch ganz Europa bekannt zu machen wünschte, veranstaltete Uebersetzungen seiner Fabeln ins Französische und Italiänische. Sie erschienen 1825 in zwei Bänden zu Paris, mit dem Russischen Text und mit Beiträgen von den vorzüglichsten lebenden Dichtern. Herr Lemontey schrieb die Vorrede dazu, welche Nachrichten über den Verfasser enthält, der auch mehrere Lustspiele und andere dramatische Stücke geschrieben hat.

Magazin für die Literatur des Auslands
Nr. 61, 22. Mai 1833

*) Korrekt: Iwan Andrejewitsch Krylow, 1768 - 1844. 1842 Erschienen seine Fabeln auch in deutscher Sprache.

Sonntag, 3. Mai 2009

... die Ohren nach Fabeln jücken


So politisiert mir der Voigt gewöhnlich unterm Sternenhimmel noch eine Stunde vor, wo ich bei schönem Wetter auf der menschenleeren Terrasse mit ihm wandle; er sagt: »Hören Sie mir immer zu, Sie sind noch jung und haben mehr Energie im Judicium vor den andern allen oder vielmehr: wo ist's geblieben, könnte man die andern fragen, denen die Ohren nach Fabeln jücken, und die sich von der Wahrheit abwenden oder sie nach eignem Gelüst auslegen, daß sie ihnen zur Fabel wird.«

Bettina von Arnim
Aus: Die Günderode

Samstag, 2. Mai 2009

Die verliebten Kater

Zwei Kater liebten eine Katze
Und brauchten wüthend ihre Tatze,
Miauten furchtbar, bissen sich
Um die Geliebte ritterlich,
Und sprachen endlich, müd’ vom Streiten:
»Das Kätzlein selber soll entscheiden,
wen von uns beides es begehrt.«
Da sprach die Schöne: »Hochgeehrt
fühl’ ich durch euern Antrag mich,
Doch klüger war es sicherlich,
wenn vor dem Streit ihr mich gefragt,
Seit gestern bin ich schon versagt.«

Julius Sturm
Leipzig, 1881

Freitag, 1. Mai 2009

Aberglauben


Noch ist aus einer anderen, und zwar physischen Quelle eine große Menge Götter hervorgegangen, die, in menschliche Gestalt gekleidet, den Dichtern Fabeln lieferten, und das menschliche Leben mit allem Aberglauben erfüllten. Dieser Gegenstand ist zuerst von Zeno behandelt und hernach von Eleanthes und Chrysippus weitläufiger entwickelt worden.

M. Tullius Cicero
Von der Natur der Götter
aus dem Lateinischen übersetzt
von Joh. Friedrich von Meyer

Frankfurt, 1806