Sonntag, 6. August 2017

Großmuth eines wilden Indianers

Ein wilder Indianer, welcher sich auf der Jagd verirrt hatte, wendete sich zu einem englischen Kolonisten, den er vor seiner Hausthüre antraf. Er bath den Kolonisten zuerst um ein Stück Brod, und da er dieses von ihm nicht erhalten konnte, ersuchte er ihn um einen Trunk Bier oder Wasser. Allein der gesittete Kolonist schlug ihm beydes ab, und schalt ihn noch dazu einen indianischen Hund mit dem Zusatz: was er sich unterstehe, einen Mann wie er wäre, zu beunruhigen? – Einige Monate darnach kam der Kolonist in eben denselben Fall, worin der Indianer vorher gewesen war, da er mit seinen Freunden auf die Jagd ging, und sich verirrte. Er sah sich also genöthigt, einen Wilden, welchem er begegnete, um Beystand anzuflehen und zu bitten, ihm den Weg nach seinem Hause zu zeigen. Der Wilde sagte ihm: es sey zu spät, dahin zurückzukehren, und lud ihn ein, mit ihm nach seiner Hütte zu kommen. Der Kolonist nahm die Einladung an, und als er in der Hütte des Wilden angekommen war, setzte ihm dieser sogleich Wildpret und einige Erfrischungen vor, und bereitete ihm eine Haut, um darauf zu schlafen. Beym Anbruch des Tages unterließ der Indianer nicht, seinen Gast nach Hause zu begleiten. Als er ihn nun nach Haus gebracht, fragte er den Kolonisten: ob er sich nicht erinnern könne, ihn schon einmal gesehen zu haben? – Der Kolonist betrachtete auf diese Frage den Wilden etwas genauer, und erkannte in demselben eben den Indianer, dem er vor einiger Zeit Brod und Wasser abgeschlagen hatte. Mit großer Beschämung erkannte und bekannte er aber auch sein damaliges schlechtes Betragen. – Der Indianer machte ihm aber weiter keine Vorwürfe deßwegen, sondern wünschtr ihm alles Wohlergehen, und ging weg.

Gold und Silber
dargebracht in kleinen
Erzählungen, Anekdoten, Gedichten und Fabeln
für Knaben und Mädchen
von guter Erziehung
Herausgegeben von J. Ch. Birnbach
Wien, 1824