Mittwoch, 30. Juli 2008

Fabelaue



Eine Fabelaue ist eine (Fluss-)Aue, die in einer Fabel erwähnt wird oder auf andere Art berühmt (fabelberühmt) ist:

Schön ists, von Aetnas Haupt des Meeres Plan,
Voll grüner Eiland', und die Fabelauen
Siziliens und Strombolis Volkan
Beglänzt von Phöbus erstem Stral zu schauen:

Doch schöner, wenn der Sommertag sich neigt,
Den Zaubersee, hoch von der Dole Rücken,
Wie Lunas Silberhörner sanft gebeugt,
Umragt von Riesengipfeln, zu erblicken.

Friedrich von Matthisson (aus dem Gedicht: Der Genfersee)

Gleichermaßen ist dann jede Aue für den Betrachter eine Fabelaue, wenn er in ihr etwas Schönes und Wunderbares erblicken kann. Fabelhaft ist diese Art der Sicht, die das Gewöhnliche zum Besonderen erhebt.

Horst-Dieter Radke

Der Bauer und sein Esel


Foto: ⓒ Jeremias Radke

»Geschwind! Zu den Waffen!« ruft ein Bauer seinem Esel zu, als die Feinde im Anrücken waren. »Zu den Waffen?« antwortete dieser. »Ich sehe nicht ein, warum. Mir kann es gleichgültig sein, wem ich gehöre. Ich muß einmal Lasten tragen; gleichviel, wer sie mir auflegt.«
So sprach er und erwartete die Ankunft der Feinde, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Aufruf zur Verteidigung des Vaterlandes! - das heißt: des fürstlichen Interesse!

Dienstag, 29. Juli 2008

Ameisen im Haus



Zuerst bekämpfte sie die Ameisen, die in geordneten Reihen durch Küche und Flur zogen, mit Backpulverbarrieren, dann durch Auswaschen der vermeintlichen Nester mit Essigessenz und endlich, als alle Hausmittel ausprobiert und die Ameisen trotzdem nicht an ihrer Eroberung gehindert hatten, durch Ausbringen eines hochwirksamen Giftes. Daran musste sie denken, als sie im Krankenwagen mit ihrer jüngsten Tochter saß; diese hatte das Gift gefunden und gegessen.

Horst-Dieter Radke

Sonntag, 27. Juli 2008

Prolog

Esopus en wis Greke was
und wonde to Athenas.
van sinne, witten he was klok:
des schref he mannich künstich bok.
bispele he to lesten schref,
de velen lüden noch sin lef,
wo dere, böme, sunne und man
sproken hebbet und vele dan,
dat en doch nicht egen enis;
dat dichte heft doch lere wis.
wal dat de fabel nicht war ensi,
doch is dar schöne lere bi,
de gode spröke geven kan.
mester Esopus düs heft an.

Gerhard von Minden


Samstag, 26. Juli 2008

Der glückliche Dichter



Ein Dichter, der bei Hofe war--
Bei Hofe? Was? Bei Hofe gar?
Wie kam er denn zu dieser Ehre?
Ich wüßte nicht, was ein Poet,
Ein Mensch, der nichts vom Recht und Staat versteht,
Was der bei Hofe nötig wäre?

Was ein Poet bei Hofe nötig ist?
Ja, Freund, du hast wohl recht zu fragen.
Mich ärgerts, daß August zween Dichter gern vertragen,
Die man doch itzt kaum in den Schulen liest.
Was ists denn nun mit zehn Racinen
Und Molièren? Nichts! Gar nichts! Der eine macht,
Daß man bei Hofe weint, der andre, daß man lacht.
Das heißt dem Staate trefflich dienen,
Dadurch wird ja kein Groschen eingebracht.

Doch auf die Sache selbst zu kommen.
Ein Dichter, den der Hof in seine Gunst genommen,
Schlief einst bei Tag im Louvre ein.--
Wieso? War er berauscht? Das kann wohl möglich sein.
Man hat in Frankreich guten Wein.
Und Dichter sollen insgemein
Von Wahrheit, Liebe, Witz und Wein
Sehr gute Freund und Kenner sein.
Ich mag die Welt nicht Lügen strafen,
Drum sag ich weder ja noch nein.

Gnug, der Poet war eingeschlafen,
Und war nicht schön, das man wohl merken muß;
Doch gab die Königin, den Schlaf ihm zu versüßen,
Ihm im Vorbeigehn einen Kuß.
»Was«, rief ein Prinz, »den blassen Mund zu küssen?«
»Blaß«, sprach die Königin, »blaß ist er, das ist wahr;
Doch sagt der Mann mit seinem blassen Munde
Mehr Schönes oft in einer Stunde
Als Sie, mein Prinz, durchs ganze Jahr.«

Christian Fürchtegott Gellert

Freitag, 25. Juli 2008

Der Bauer und die Schlange

Ein Bauer hatte einst eine Schlange, halb von Frost erstarrt, hinter einer Hecke gefunden, und da der Zustand des Thieres ihm Mitleid einflößte, so nahm er sie mit sich nach Hause, und legte sie in die Nähe seines Feuers, damit sie sich erwärmen möchte. – Kaum hatte sich diese indessen von ihrer Erstarrung erholt, als sie auch schon darauf ausging, dem Retter ihres Lebens Schaden zuzufügen und ihn zu verwunden. - »Elende!« - rief der Bauer entrüstet - »selbst denen, welche dir Gutes erzeigt haben, willst du deine dir angeborne Falschheit und Bosheit fühlen lassen!« Mit diesen Worten tödtete er sie.
Äsop (aus einem Buch a.d.19. Jh,
Übersetzer unbekannt)

Donnerstag, 24. Juli 2008

Fabelreich

Das Fabelreich, das territorium fabulae, ist eine Welt, die nicht so ohne weiteres betreten werden kann. Es sind Vermittler nötig, die Dichter, die dieses Reich sehen und beschreiben können.

Im innern Theil des Fabelreiches,
wohin, kraft ewigen Vergleiches,
nur Dichteraugen sich erstrecken,
liegt eine trefflich große Stadt,
die Käfer zu Besitzern hat.
(Lichtwer)

Andere (etwa Hagedorn) sagen auch, dass der Wein den Blick freigibt in dieses Reich. Aber was hilft dies, denn in der Trunkenheit ist es den wenigsten gegeben, den Blick auch für die anderen zu öffnen.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 22. Juli 2008

Die Nachbarn



Ein Mann hatt’ einen Baum, der goldne Früchte trug,
Sein Nachbar hieb aus Neid bei Nachte
Viel Aeste von dem Baum; allein er war nicht klug,
Weil er daß Jahr darauf dreifache Früchte brachte.

So nützlich ist uns oft ein Feind:
Er dient, wenn er zu schaden meint.

Magnus Gottfried Lichtwer

Montag, 21. Juli 2008

Der Nussbaum



Der Nussbaum, über eine Straße hin Vorübergehenden den Reichtum seiner Früchte zeigend, wurde von jedermann gesteinigt.

Leonardo da Vinci

Sonntag, 20. Juli 2008

Die Bären



Den Bären glückt' es nun schon seit geraumer Zeit,
Mit Brummen, plumpem Ernst und stolzer Frömmigkeit
Das Sittenrichteramt bei allen schwächern Tieren
Aus angemaßter Macht, gleich Wütrichen, zu führen.
Ein jedes furchte sich, und keines war so kühn,
Sich um die saure Pflicht nebst ihnen zu bemühn;
Bis endlich noch im Fuchs der Patriot erwachte,
Und hier und da ein Fuchs auf Sittensprüche dachte.
Nun sah man beide stets auf gleiche Zwecke sehn;
Und beide sah man doch verschiedne Wege gehn.
Die Bären wollten nur durch strenge heilig machen;
Die Füchse straften auch, doch straften sie mit Lachen.
Dort brauchte man nur Fluch, hier brauchte man nur Scherz;
Dort bessert man den Schein, hier bessert man das Herz;
Dort sieht man Düsternheit, hier sieht man Licht und Leben;
Dort nach der Heuchelei, hier nachder Tugend streben.
Du, der du weiter denkst, fragst du mich nicht geschwind,
Ob beide Teile wohl auch gute Freunde sind?
O wären sie's! Welch Glück für Tugend, Witz und Sitten!
Doch nein, der arme Fuchs wird von dem Bär bestritten
Und, trotz des guten zwecks, von ihm in Bann gethan.
Warum? Der Fuchs greift selbst die Bären tadelnd an.
*
Ich kann mich diesmal nicht bei der Moral verweilen;
Die fünfte Stunde schlägt; ich muß zum Schauplatz eilen.
Freund, leg' die Predigt weg! Willst du nicht mit mir gehn?
»Was spielt man?« Den Tartüff. »Dies Schandstück sollt' ich sehn?«

Gotthold Ephraim Lessing

Die Eintagsfliege

Foto: ⓒ Jeremias Radke

Müde und einsam saß die Eintagsfliege am Abend auf einem Blütenblatt und schaute auf ein langes Leben zurück. Sie dachte an den Freund, der viel zu früh am Vormittag hatte aus dem Leben scheiden müssen und an die Lebensgefährtin, die am Nachmittag von einem Vogel aus der Zweisamkeit gerissen wurde.

»Hätte es mich doch erwischt«, dachte die Fliege, »dann hätte ich nicht den langen Abend allein verbringen müssen«.

Horst-Dieter Radke

Samstag, 19. Juli 2008

Der alte Dichter und der junge Kritikus

Ein Jüngling stritt mit einem Alten
Sehr lebhaft über ein Gedicht.
Der alte hielt's für schön, der Jüngling aber nicht
Und hatte Recht, es nicht für schön zu halten.
Er wies dem Alten Schritt für Schritt
Hier bald das Matte, dort das Leere,
Und dachte nicht, daß der, mit dem er stritt,
Der Autor des Gedichtes wäre.

Wie, sprach der Autor ganz erhitzt,
Sie tadeln Ausdruck und Gedanken?
Mein Herr, Sie sind zu jung, mit einem Mann zu zanken,
Den Fleiß, Geschmack und Alter schützt.
Da man Sie noch im Arm getragen,
hab' ich der Kunst schon nachgedacht;
Und kurz, was würden Sie wol sagen,
Wenn ich die Verse selbst gemacht?

Ich, sprach er, würde, weil Sie fragen,
Ich würde ganz gelassen sagen,
daß man, Geschmack und Dichtkunst zu entweihn,
Oft nichts mehr braucht, als alt und stolz zu sein.

Christian Fürchtegott Gellert

Freitag, 18. Juli 2008

Die Fabel vom philosophischen Storch



Ein Storch grübelte viel über die im Reiche der Vögel bestehende Ungleichheit. Ihn ärgerten die Enten, die im schmutzigen Tümpel unter ihm lebten, die Adler, die auf den wilden Felsen horsteten, und die Nachtigallen, die im Gebüsch ihre Nester bauten. Endlich kam er zu dem Schluß, daß die Erziehung allein die Ursache dieser Mißstände sei. So flog er denn umher und bat sich von der Ente, dem Adler und der Nachtigall je ein Ei aus, um wie er sagte, einen für die Vogelwelt wichtigen Versuch zu machen, durch den die Gleichheit aller fliegenden Geschöpfe gesichert würde.

Dann brütete er seine Pflegebefohlenen sorgfältig aus. Und siehe: das kleine Entchen war kaum flügge, so flog es davon, stürzte sich kopfüber in den Tümpel und begann lustig zu schwimmen, der kleine Adler flog hinauf in die Felsen und kam nicht wieder, die Nachtigall aber starb, denn sie konnte die Storchnahrung nicht vertragen.

Der Storch klapperte nun in tiefen Gedanken. Daß er sich geirrt haben könne, gab er nicht zu, war er doch ein weiser Mann, und so sagte er, unbelehrt durch den Mißerfolg seiner genialen Probe: »Das Prinzip ist dennoch richtig, ich muß nur nach einer neuen Methode suchen. Ehe nicht alle Vögel Störche sind, ist ein Fortschritt im Vogelreich unmöglich.«

So sinnt der Philosoph heute noch auf die neue Methode.

E.T.

Fabelbuch

lat. fabularum liber. Einfach nur ein Buch mit Fabeln? Warum lässt Goethe Mephisto im »Faust« sagen: Er (der Satan) ist schon lang ins Fabelbuch geschrieben. Das Fabelbuch ist also etwas mehr als nur ein Buch. Alles was drin steht, hat eine Bedeutung über das Vordergründige hinaus. Insofern ist der Satan nur eine Allegorie, keineswegs fabelhaft, aber eine Fabel allemal.

Horst-Dieter Radke

Donnerstag, 17. Juli 2008

Schlange und Frosch

„Drei Minuten bleiben dir noch“ zischte die Schlange, nachdem sie den Frosch gebissen hatte.
„Danke für den Hinweis, Schwester“ sagte der Frosch und blieb still im Grase sitzen. „Dann kann ich noch drei Minuten an all diejenigen denken, die mich in meinem Froschleben lieb gehabt haben. An wen wirst du den Rest deines langen Schlangenlebens denken können?“

Horst-Dieter Radke

Mittwoch, 16. Juli 2008

Der Adler



Man fragte den Adler: »Warum erziehst du deine Jungen so hoch in der Luft?«
Der Adler antwortete: »Würden sie sich, erwachsen, so nahe zur Sonne wagen, wenn ich sie tief an der Erde erzöge?«

Gotthold Ephraim Lessing

Alegorische und Esopische Art der Fabel

Die erste und vornehmste Quelle desselben, die von dem Wahrscheinlichen am weitesten entfernet ist, findet sich bey derjenigen Art der Erdichtung, da der Poet die Natur nicht bloß in dem, was würcklich ist, und nach den eingeführten Gesetzen in einer andern Einrichtung der Welt möglich wäre, nachahmet, sondern durch die Kraft seiner Phantasie gantz neue Wesen erschaffet, und entweder solche Dinge, die keine Wesen sind, als würckliche Personen aufführet, denselben Leib und Seele mittheilet, und sie geschickt machet, allerley vernünftige Handlungen und Meinungen anzunehmen; oder diejenigen Wesen, die schon würcklich sind, zu der Würde einer höhern Natur erhebet, indem er den leblosen Geschöpfen Meinungen und Gedanken leihet, wenn er Wäldern, Flüssen, Landschaften und allen andern unbelebten Wesen Gedancken und Reden zuschreibet; oder den Thieren mehr Witz und Vernunft lehnet, als sie in ihrer Sphär haben, und ihnen auch die articulierte Stimme, die ihnen mangelt, mittheilet. Aus jenem ist die allegorische, aus diesem die esopische Art der Fabel entstanden.

Johann Jakob Breitinger

Dienstag, 15. Juli 2008

Bussard und Maus



»Wer ruft?« fragte die Maus und kam aus dem Kornfeld heraus. Der Bussard sparte sich die Antwort und nahm sie mit auf eine kurze Reise durch die Luft.

Horst-Dieter Radke

Montag, 14. Juli 2008

Die Ente



Die Ente schwamm auf einer Pfütze
Und sah am Rande Gänse gehn
Und konnt' aus angebornem Witze
Der Spötterei unmöglich widerstehn.
Sie hob den Hals empor und lachte dreimal laut
Und sah um sich, so wie ein Witzling um sich schaut,
Der einen Einfall hat und mit Geschrei und Lachen
So glücklich ist, ihm Luft zu machen.

Die Ente lachte noch, und eine Gans blieb steh'n.
Was, sprach sie, hast du uns zu sagen?
»Ach nichts! Ich hab' euch zugesehn,
Ihr könnt vortrefflich auswärts gehn.
wie lange tanzt ihr schon? Das wollt' ich euch nur fragen.«
Das, sprach die Gans, will ich dir gerne sagen;
Allein du mußt mit mir spazieren gehn.

Ihr Kleinen, die ihr stets so gern auf Größre schmähet,
An ihnen tausend Fehler sehet,
Die ihr an euch doch nie entdeckt, –
Glaubt, daß an euch der Sumpf, in dem ihr euch so blähet,
Dieselben Fehler auch versteckt;
Und sollen sie der Welt, wie euch, unsichtbar bleiben,
So laßt euch nichts daraus vertreiben!

Christian Fürchtegott Gellert

Sonntag, 13. Juli 2008

Klima und Wandel

»Das Klima ist wieder stabil. Kein ZeOhZwei wird jetzt mehr für eine Verwandlung unserer Welt in ein Treibhaus sorgen«, sagte lächelnd der Vertreter der Energiekonzerne in die Kamera. Überall auf der Welt konnten die Menschen diese erfreuliche Nachricht empfangen und sehen. Während sie danach in Ihren Strahlenschutzanzügen ihren Geschäften nachgingen, strahlten Kraftwerke und Endlager lustig vor sich hin. Die Manager der Energie- und Ölkonzerne lagen derweil auf den Seychellen und den Fidschi-Inseln in der Sonne und unterhielten sich besorgt darüber, ob der Lichtschutzfaktor ihrer Sonnencreme ausreichend sei.

Horst-Dieter Radke

Samstag, 12. Juli 2008

Der Weise und der Alchymist

Gesund und fröhlich, ohne Geld,
Lebt’ einst ein Weiser in der Welt.

Ein Fremder kam zu ihm, und sprach: auf meinen Reisen
Hört’ ich von deiner Redlichkeit,
Du bist ein Phönix uns’rer Zeit.
Nichts fehlt dir, als der Stein der Weisen.

Ich bin der Trismegist, vor dem sich die Natur
Stets ohne Schleier zeigt, ich habe den Merkur,
Dadurch wir schlechtes Blei in feines Gold verkehren,
Und diese Kunst will ich dir lehren.

O dreimal größter Trismegist!
Versetzt der Philosoph, du magst nur weiter reisen,
Der ist kein Weiser nicht, dem Gold so schätzbart ist.
Vergüngt seyn, ohne Gold, das ist der Stein der Weisen.

Magnus Gottfried Lichtwer

Freitag, 11. Juli 2008

Kind und Biene




Kind:
»Biene, du böse dort,
Gehe gleich von mir fort,
Willst mich wohl gar noch stechen?«

Biene:
»Laß doch nur mit dir sprechen!
Bist du noch immer böse mir,
Und ich gebe doch Honig dir?«

Als sich das Kind noch besser bedachte,
Ließ es die Biene und ging ganz sachte,
Sah, wie sie auf die Blumen flog,
Drinnen sich regte und Honig sog;
Freute an ihrem Fleiße sich sehr,
Fürchtete nicht ihren Stachel mehr.
Wilhelm Hey

Donnerstag, 10. Juli 2008

wesen der thierfabel

Die thierfabel hat dem zufolge zwei wesentliche merkmale. Einmal sie muss die thiere darstellen als seien sie begabt mit menschlicher vernunft und in alle gewohnheiten und zustände unseres lebens eingeweiht, so daß ihre aufführung gar nichts befremdliches hat. … Dann aber müssen daneben die eigenheiten der besonderen thierischen natur ins spiel gebracht und geltend werden.

Jacob Grimm

Sonne und Wind

Einst stritten sich die Sonne und der Wind, wer von ihnen beiden der Stärkere sei, und man ward einig, derjenige solle dafür gelten, der einen Wanderer, den sie eben vor sich sahen, am ersten nötigen würde, seinen Mantel abzulegen.

Sogleich begann der Wind zu stürmen; Regen und Hagelschauer unterstützten ihn. Der arme Wanderer jammerte und zagte; aber immer fester wickelte er sich in seinen Mantel ein und setzte seinen Weg fort, so gut er konnte.

Jetzt kam die Reihe an die Sonne. Mit milder und sanfter Glut ließ sie ihre Strahlen herabfallen. Himmel und Erde wurden heiter; die Lüfte erwärmten sich. Der Wanderer vermochte den Mantel nicht länger auf seinen Schultern zu erdulden. Er warf ihn ab und erquickte sich im Schatten eines Baumes, während sich die Sonne ihres Sieges freute.

Johann Gottfried Herder
(nach Äsop)

Mittwoch, 9. Juli 2008

Dies Fabelchen …

Dies Fabelchen führt Gold im Munde:
'Weicht aus dem Recensentenhunde!'
Gottfried August Bürger

Flamme und Wind



»Ich werde euch vernichten, verbrennen, zu Asche machen«, rief die Flamme, als das angeriebene Streichholz sie zum Aufflackern gebracht hatte. »Und der Wind wird mich hinaustragen und verbreiten, bis die ganz Welt in Flammen steht«.

Ein leichter Luftzug wischte über das Streichholz und brachte die Flamme zum Erlöschen.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 8. Juli 2008

Was eine Fabel sey …

1. §. Was eine Fabel überhaupt sey […]: Sie ist eine erdichtete Begebenheit, welche erfunden worden, eine gewisse Sittenlehre darunter zu verbergen, oder vielmehr durch sie desto sinnlicher zu machen. Wir haben auch schon gewiesen, daß sie zweyerley sey; nachdem man entweder Pflanzen und Thiere, oder vernünftige Wesen darinn redend oder handelnd einführet. Hier aber muß ich noch die dritte Art hinzusetzen, darinnen man allegorische Personen dichtet, oder solchen Dingen ein Wesen und Leben giebt, die entweder ganz leblos sind, oder doch nur den Gedanken der Menschen ihr Daseyn zu danken haben: wie sichs hernach deutlicher zeigen wird. Diese Gattung nebst der ersten von Thieren, kann man eigentliche Fabeln oder Mährlein nennen; diejenigen aber, worinn lauter vernünftige Wesen, denkend, redend, und wirkend aufgeführet werden, pflegt man auch wohl Erzählungen zu heißen. Sie ändern aber darum ihre Natur nicht, und bleiben allemal erdichtete Begebenheiten, die ihre Sittenlehre bey sich führen. Menget man aber Thiere und Menschen, oder leblose und allegorische Personen, mit Geistern oder wirklich denkenden Wesen zusammen: so entstehen daraus vermischte Fabeln.

Johann Christoph Gottsched
Versuch einer critischen Dichtkunst, Des I. Abschnitts II. Hauptstück

Fabelzucker

Glaubt nicht, als ob der Zweck nur die Vergnügung wäre,
der Fabelzucker deckt oft eine bittre Lehre.

Magnus Gottfried Lichtwer

Fablerei

Den Unmut abzuthun, die Weile zu verzehren
hört mancher was ihr sagt, sagt was ihr gerne hört,
bis dasz er dann ist sat, ihr aber seid bethört.
dann merkt und nimmt man ab, dasz eure Fablerei
ein Wiederhall, vielleicht noch weniger was sei.

Friedrich von Logau

Montag, 7. Juli 2008

Phöbus und sein Sohn



Der Mond trat zwischen Sonn’ und Erden
Sein Schatten deckte Höh’ und Grund,
Und auch die trifft, wo bei der Herde
Ein Hirt und Sohn des Phöbus stund.

Der Hirte rief voll Furcht und Zagen:
Mein Vater, du verlierst den Schein,
Wie kann der heitern Gottheit Wagen
Des Lichtes Quell und dunkel seyn?

Du irrst, sprach Phöbus, deine Hürden
Sind bloß der Ort, der dunkel ist,
Du suchst mir Fehler aufzubürden,
Womit du selbst umnebelt bist.

***

Zwischen Gott und unsern Sinnen
Seht die Menschheit mitten innen,
Und verbirgt vor uns sein Licht:
Wir sind dunkel, und Gott nicht.

Christian Fürchtegott Gellert

Sonntag, 6. Juli 2008

Die Wölfe und die Schaafe



Die Schaafe waren einst mit den Wölfen im Kriege begriffen, und da sie die Hunde zu ihrem Beistand hatten, gelang es ihnen, ihren Feinden zu widerstehen. Die Wölfe schickten nun Abgesandte an sie und boten ihnen den Frieden an. Beide Partheien kamen endlich überein, und es wurde beschlossen, daß die Schaafe den Wölfen die Hunde als Geißeln übergeben sollten; die Wölfe wollten dagegen, als Gewährleistung, den Schaafen ihre Jungen ausliefern. Diese Uebereinkunft wurde vollzogen; die Schaafe nahmen die jungen Wölfe in ihrem Stalle auf; als aber noch einiger Zeit diese herangewachsen waren, fielen sie über die Schaafe her, die jetzt keinen Beistand von den Hunden hatten, und erwürgten sie.
Äsop
Buchausgabe: 1830, Übersetzer unbekannt

Samstag, 5. Juli 2008

Die Geschichte vom übereifrigen Affen

Nahe der Stadt, an einem Platz, der von einer Baumgruppe bestanden war, wurde mit dem Bau eines Göttertempels begonnen. Mittags gingen die Werkleute wie alle anderen zum Essen in die Stadt. Da kam eine Affenherde herbei, die in der Nähe hauste. Auf dem Boden lag ein halb gespaltener Balken aus Andschanaholz, in dem ein Keil aus Khadiraholz steckte. Während die anderen Affen nach Herzenslust auf den Wipfeln der Bäume und in dem noch unfertigen Tempel herumsprangen, setzte sich ein Affe, dem ein baldiger Tod beschieden war, auf den gespaltenen Balken und sprach: »Da hat einer einen Keil an der falschen Stelle eingetrieben!«. Er ergriff ihn mit beiden Händen und zog ihn heraus. Es waren aber seine Hoden in den Spalt des Balkens geraten, und sobald er den Keil herausgezogen hatte, geschah ihm, was ich dir schon vorhin sagte: es ereilte ihn ein überaus schmerzhafter, früher Tod.

Indische Fabel aus dem Pantschatantra, nacherzählt auf Basis der Übersetzung aus dem Sanskrit von Theodor Benfey (1859) von Horst-Dieter Radke

Freitag, 4. Juli 2008

Das Gespenst



Ein Hauswirt, wie man mir erzählt,
Ward lange Zeit durch ein Gespenst gequält.
Er ließ, des Geists sich zu erwehren,
Sich heimlich das Verbannen lehren;
Doch kraftlos blieb der Zauberspruch.
Der Geist entsetzte sich vor keinen Charakteren,
Und gab, in einem weißen Tuch,
Ihm alle Nächte den Besuch.

Ein Dichter zog in dieses Haus.
Der Wirt, der bei der Nacht nicht gern allein gewesen,
Bat sich des Dichters Zuspruch aus,
Und ließ sich seine Verse lesen.
Der Dichter las ein frostig Trauerspiel,
Das, wo nicht seinem Wirt, doch ihm sehr wohl gefiel.

Der Geist, den nur der Wirt, doch nicht der Dichter sah,
Erschien, und hörte zu; es fing ihn an zu schauern;
Er konnt es länger nicht, als einen Auftritt, dauern:
Denn, eh der andre kam, so war er nicht mehr da.
Der Wirt, von Hoffnung eingenommen,
Ließ gleich die andre Nacht den Dichter wiederkommen.
Der Dichter las, der Geist erschien;
Doch ohne lange zu verziehn.
Gut! sprach der Wirt bei sich, dich will ich bald verjagen;
Kannst du die Verse nicht vertragen?

Die dritte Nacht blieb unser Wirt allein.
Sobald es zwölfe schlug, ließ das Gespenst sich blicken.
Johann! fing drauf der Wirt gewaltig an zu schrein,
Der Dichter (lauft geschwind!) soll von der Güte sein,
Und mir sein Trauerspiel auf eine Stunde schicken.
Der Geist erschrak, und winkte mit der Hand,
Der Diener sollte ja nicht gehen.
Und kurz, der weiße Geist verschwand,
Und ließ sich niemals wieder sehen.

***

Ein jeder, der dies Wunder liest,
Zieh sich daraus die gute Lehre,
Daß kein Gedicht so elend ist,
Daß nicht zu etwas nützlich wäre.
Und wenn sich ein Gespenst vor schlechten Versen scheut!
So kann uns dies zum großen Troste dienen.
Gesetzt, daß sie zu unsrer Zeit
Auch legionenweis erschienen:
So wird, um sich von allen zu befrein,
An Versen doch kein Mangel sein.

Christian Fürchtegott Gellert

Donnerstag, 3. Juli 2008

Panzer und Aussteiger

Foto: ⓒ Bernd Diehl

Es war einmal ein Panzer im kleinen italienischen Dorf Brescello, das durch Don Camillo und Peppone berühmt und doch nicht größer geworden war. Der Panzer war ganz unglücklich mit seinem Dasein als ausgediente Filmrequisite. Da sagte er eines Tages zu einem vorbeiziehenden Aussteiger: »Du hast es so viel besser als ich, siehst etwas von der Welt und kannst mal hierhin, mal dahin wandern.«
Der Aussteiger, gewandet in eine abgeschnittene Tarnfleckhose, antwortete dem Panzer: »Ach, was hätte ich darum gegeben, so wie Du tagein tagaus in der italienischen Sonne zu baden, statt mit Deinesgleichen durch die Welt zu fahren, um angeblich für den Frieden einzutreten.«

Mittwoch, 2. Juli 2008

Die zwei alten Weiber

Die Uhr that in der Nacht eilf Schläge,
Da ging ein altes Weib in einem hohlen Wege,
Ein and’res altes Weib kam in dem Weg’ heran,
Die Thoren sahen sich für zwei Gespenster an,
Und standen starre da, als ob sie Säulen wären,

Sie standen bis der Morgen kam,
Da jede brummend Abschied nahm.

Wir hindern in der Welt einander mit Chimären.
Magnus Gottfried Lichtwer

Der unanständige Jupiter

Oder man sucht eine edlere Moral in die Fabel zu legen; denn es gibt unter den griechischen Fabeln verschiedene, die eine sehr nichtswürdige haben. Die Esel bitten den Jupiter, ihr Leben minder elend sein zu lassen. Jupiter antwortet: Sie würden dann befreit werden von allem Elend, wenn sie pissend einen Fluß gemacht hätten. Welch eine unanständige Antwort für eine Gottheit! Ich schmeichle mir, daß ich den Jupiter würdiger antworten lassen und überhaupt eine schönere Fabel daraus gemacht habe.
Gotthold Ephraim Lessing

Dienstag, 1. Juli 2008

Bürger und Finanzminister

»Die ständigen Steuerreformen machen einem das Leben nicht leicht. Kaum hat man sich an eine gewöhnt kommt die nächste. Außerdem kann von Reform nur in den allerseltensten Fällen die Rede sein. Meist wird alles nur komplizierter und was vordergründig eingespart wird, geht durch eine neue Hintertür wieder hinaus«, klagte der Bürger.
»Viel zu machen ist da nicht«, antwortete schuldbewußt der Finanzminister. »Am besten, sie gewöhnen sich daran wie an Regen und Schnee.«
»Wie Schnee wäre mir lieber«, sagte der Bürger nach einigem Nachdenken. »Der bleibt ja zunehmend aus.«
Horst-Dieter Radke

fabeln

Redet jemand von irgend etwas, was man nicht glauben mag, so sagt man leicht: »Was fabelst du da wieder?« Man meint, wenn man dieses Wort nutzt, das derjenige fantastische, nicht der Wirklichkeit entsprechende Geschichten erfindet, also Unwahres erzählt. Sagte doch Goethe auch von sich: »… so etwas freut mich alten fabler.« Im Deutschen Wörterbuch der Grimms findet sich jedoch die Bemerkung: »… aus den ältesten zeiten wo, wer etwas umständlicheres angibt, schon dadurch als fabler erscheint.« Der Bedeutungswandel des Verb »fabeln« hin zu einer negativen Aussage hat also erst in neuerer Zeit stattgefunden.
Horst-Dieter Radke