Samstag, 28. Februar 2009

Das Stinkthier und die Bisamratze

Foto: Jeremias Radke

Es fand auf einem Rasenplatze
Ein Stinkthier eine Bisamratze.
Sie hatten sich noch kaum erblickt,
So hielten sie sich um die Wette
Die Nase zu. Bist du verrückt?
Sprach endlich zu der armen Frette
Die Ratze voller Bitterkeit:
Du stinkst gleich einem alten Aase
Auf eine Viertelmeile weit;
Und doch verstopfst du dir die Nase
Vor mir, die selbst der Zimmetstrauch
Um ihren Duft beneiden möchte.
»Gut, sprach die Frette, doch ich dächte,
Wer zu wohl riecht, der stinket auch.«

Gottlieb Konrad Pfeffel

Freitag, 27. Februar 2009

Teufelglauben

In Reben umflattert ein Lumpen den Dorn
als schwarzer Teufel mit Schwanz und mit Horn,
und Füchse predigen überall:
die Diebe hole der Teufel all.
Das glauben die Vögel geraume Zeit,
und halten sich von den Trauben weit;
die Füchs’ aber stehlen ungescheut.
Da keinen der Schwarze beim Fell ergreift,
naht auch das lustige Volk und verpfeift,
was es einfältig so fest geglaubt.
Sie sitzen dem Teufel sogar aufs Haupt
und schnabelieren, was sie geraubt.

Abraham Emanuel Fröhlich

Donnerstag, 26. Februar 2009

Fuchs und Bock

»Herr Fuchs und Bock, was gilt's, Ihr springet Beide,
Ihr durst'gen Herrn, zu diesem Brunn hinab!«
Nun unten: »Kühler Trunk! sieh aber, welch ein Grab!
Wie nun hinauf?« »Dem kleinen Leide,«
Spricht Nachbar Fuchs, »hilft's bald sich ab.
Herr Bock, Er leiht mir Seinen Rücken
Und Hörner; ich spring' auf Ihm auf
Und zieh' Ihn nach. So kommt Er mit hinauf.«
Der Hörnerträger thut sich bücken;
Fuchs springt und läuft davon den schnellsten, besten Lauf.
»Herr Bock, wer hilft Ihm nun hinauf?«

Was haben Sie nun für Geduld und Müh,
Herr Hahnrei? Hörner haben Sie.
Sie standen da so wohlgemuth und blind
Und – sind noch, wo Sie sind.

Johann Gottfried Herder

Mittwoch, 25. Februar 2009

Die Eule unter den Vögeln


Als vor kurzem Jungfer Eule
Vor Verdruß und langer Weile
Unter and’re Vögel kam,
Wurde sie als ungeschliffen
Von den andern ausgepfiffen,
Bis sie endlich ihren Rückweg wiederum nach Hause nahm.
Ei, da schimpft sie auf die Zeit,
Lobt und rühmt die Einsamkeit.

Liebe zur Geselligkeit ist uns von Natur gegeben,
Wer mit Niemand Umgang hält,
Schilt auf die verdorbne Welt,
Sagt es doch nur deutsch heraus: Herrn! ihr wisset nicht zu leben.

Magnus Gottfried Lichtwer

Dienstag, 24. Februar 2009

Marie de France

Marie de France wurde um 1135 in der Region Île-de-France geboren und starb um 1200. Sie ist die erste bekannte Autorin der französischsprachigen Literatur. Sie hatte eine gute Bildung und schrieb im anglonormannischen Dialekt für den englischen Hof von Heinrich II. Ihr bekanntestes Werk sind die Lais eine Sammlung von zwölf Versnovellen, die um 1170 entstanden sind. Darin werden Märchenmotive und Sagenstoffe verarbeitet, u.a. auch der Tristan und Isolde-Stoff. Die Novelle Bisclavret handelt von einem Werwolf, der sich nicht mehr in einen Menschen zurückverwandeln kann, weil seine Frau die Kleidung versteckt hat. Letztendlich kann er sich doch noch aus dieser Lage befreien und entpuppt sich als der eigentlich Gute in dieser Novelle. Außerdem schrieb Marie de France 102 Fabeln, die nach ihrer eigenen Anmerkung auf eine altenglische Vorlage fußt, die allerdings eine lateinische Übersetzung der Fabelsammlung des Aesops gewesen sein soll.

Horst-Dieter Radke

XXIV.
De cervo ad fontem

Issi avint qu’uns cers beveit
a une ewe, kar sei aveit,
Guarda dedenz, ses eornes vit.
A sei meismes a dune dit
que nule beste nel valeit
ne si beles cornes n’avelt.
Tant entendi a sei loër
e a ses cornes esguarder,
que il vit venir ehiens eurant
e lur mestre, ki vient eornant;
aprés lui viement, sil quereient,
pur eco que prendre le voleient.
El bois se met tuz esmaiez.
par ses eornes est atachiez,
en un buissun est retenuz.
Dune sunt li chien a lui venuz.
Quant il les vit si aprismier,
si se emenee a desraisnier.
‘Veirs est’, fet il, ‘que li huem dit
e par essample e par respit:
li plusur vuelent eco loër
qu’il deverient suvent blasmer,
e ico laissent qu’il devreient
forment loër, se il savelent.’

Montag, 23. Februar 2009

Der Physiologus

Ir sult an disen stunden.
von wises mannes munde.
eine rede suochen.
an disem buoche.
phisiologus ist ez genennet.
von der tiere nature
ez uns zellet.
Ist ez nu iwer wille.
So swiget uil stille.

Der Physiologus ist eine Zusammenstellung von Beschreibungen realer (z.B. Löwe, Pelikan) und fabelhafter (Einhorn, Phönix) Tiere. Verbunden sind die Tierbeschreibungen mit Analogien zur christlichen Heilsgeschichte. Entstanden ist die griechische Urfassung vermutlich im 2. Jahrhundert in Alexandria. Später gab es eine erweiterte byzantinische Fassung. Ab 400 entstanden lateinische Übertragungen, meist gekürzt und daraus gab es im 11. Jahrhundert erste Übersetzungen ins Deutsche. Das Werk hatte eine große Verbreitung und war sehr beliebt. Spuren lassen sich noch in der Literatur des Barock finden (z.B. im Don Quixote von Cervantes) und letztendlich profitiert auch der moderne Harry Potter noch davon, denn die mitteralterlichen Bestiarien, aus denen viel »Personal« von der Autorin übernommen wurde, fußen nicht unwesentlich auf dem Physiologus.

Horst-Dieter Radke

Sonntag, 22. Februar 2009

Georg Rollenhagen


Abbildung: Wikipedia

Georg Rollenhagen am 22.4.1542 als Sohn eines Tuchmachers in Bernau bei Berlin geboren. Er besucht die Gymnasien in Prenzlau und Magdeburg und studiert anschließend von 1560-67 hauptsächlich humanistische Fächer. 1567 schließt er mit dem Magister in Theologie ab. Er war anschließend an der Magdeburger Stadtschule tätig. 1575 wird er Rektor am Magedburger Gymnasium. Bereits seit 1569 verfasste Rollenhagen Stücke für die Schulbühne sowie anonyme Flugschriften. Bekannt wird er mit dem 1595 erschienenen Froschmeuseler, einer Tierdichtung, die sich satirisch gegen den Krieg wendet. Dieses Buch wird wegen seines moralischen Gehalts schnell zu »dem Kinderbuch« des protestantischen Bürgertums und zahlreiche, allerdings gekürzte Auflagen erscheinen bis ins 19. Jahrhundert. Eine vollständige kritische Auflage liegt erst wieder sei 1989 (Dietmar Peil) vor. Rollenhagen stirbt am 20. Mai 1609 in Magdeburg.

Horst-Dieter Radke

Samstag, 21. Februar 2009

The Fox and the Grapes


A Fox, seeing some sour grapes hanging within an inch of his nose, and being unwilling to admit that there was anything he would not eat, solemnly declared that they were out of his reach.

Äsop

Freitag, 20. Februar 2009

Der Bär


Eine Tscheremissenfrau brachte zur Mahlzeit Nudelsuppe auf das Erntefeld, und da ist ihr ein Bär entgegengekommen. Er streckt seine Tatze vor und kommt brummend auf die Frau los. Die Frau sieht auf die Tatze des Bären: ein grosser Ast ist in die Tatze gegangen. Die Frau zieht den Ast heraus, und der Bär ist gar erfreut, nimmt der Frau den Suppeneimer und giesst die Suppe heraus, geht aber mit dem Suppeneimer in den Wald. Da bleibt die Frau verwundert stehen. Einige Zeit vergeht, und der Bär kommt zurück. Den Eimer hat er mit Honig gefüllt und bringt und gibt den Honig der Frau.
Wichmann, Yrjö
Volksdichtung und Volksbräuche der Tscheremissen
Helsinki, 1931

The All-Dog

A Lion seeing a Poodle fell into laughter at the
ridiculous spectacle.

»Who ever saw so small a beast?« he said.
»It is very true,« said the Poodle, with austere
dignity, »that I am small; but, sir, I beg to
observe that I am all dog.«

Ambroce Bierce (1842-1914)

Mittwoch, 18. Februar 2009

Der Wolf will sich einen Wintervorrat anlegen


Im Spätherbst kommt der Wolf zum Fuchs und fragt ihn, ob er nicht Rat wisse, wie man zu einem Fleischvorrat für den Winter kommen könne.

»För de starke Wulf, is 't ja man 'n Bigahn, an 'n fette Oss to raken«, höhnt der Fuchs, »'man för mi hollt dat wat sturder.' Wenn ich deine Stärke besäße, würde ich mich nicht 'bi dit kolle natte Weer' auf dem Felde herumtreiben, sondern mich längst in meine Höhle zurückgezogen haben 'un an mien Fettpoten sugen.' Heute morgen, auf einer kleinen Jagdpartie habe ich auf den Meeden nicht weniger als sieben krepierte Pferde angetroffen, und wenn man die bei der Höhle hätte, so könnte man im nächsten Frühjahr den Schmerbauch lüften. Hier hinter dem Wall, zum Beispiel, liegt auch so 'n alter Gaul.«

Der Wolf springt mit einem Satz auf den Wall und sieht die Angabe des Fuchses bestätigt. »Bevor du aber 'bi 't Anslepen geihst'«, bemerkte der Fuchs, »will ich dir noch einen guten Rat geben, wie du den Fleischklumpen am bequemsten fortschaffen kannst: du bindest deinen Schwanz an den Schweif des Pferdes und ziehst es dann so langsam fort.«

Der Wolf geht auf den Vorschlag ein, und der Fuchs schlingt aus beiden Schwänzen einen kunstgerechten Knoten. Der Gaul aber hat nur geruht, und als der Wolf den ersten Zug tut, springt er plötzlich auf und zieht den armen Sünder im Galopp mit sich fort. Der Fuchs, der natürlich wußte, wie es um das Pferd bestellt war, steht auf dem Wall und ruft dem Wolf zu: »Oll! Oll! slaa Klauen in d' Grund!«

»De Düvel mag Klauen in d' Grund slaan«, brüllt der Wolf verzweifelt, »wenn 'n neet Himmel noch Eer mehr sehn kann!«

(Ostfriesische Volksüberlieferung)

Sundermann, Friedrich
Der Upstalsboom
Aurich 1922

Dienstag, 17. Februar 2009

Der Kormoran und der Eidervogel


Der Kormoran und der Eidervogel wollten beide Dunen (Daunen) haben; es war einem von ihnen angeboten, sie zu bekommen, und sie sollten sich selbst darüber einigen, wer von ihnen der sein sollte, der sie bekäme. Aber das war eine schwierige Sache, sich darüber zu verständigen, denn keiner wollte dem anderen nachgeben – beide wollten gleich gern Dunen haben. Damit nun dieser Streit zwischen ihnen ein Ende nehmen möchte und sie nicht beide die Dunen verlieren sollten, so dass sie keinem von ihnen zum Nutzen gereichten, kamen sie über den Beschluss überein, dass derjenige von ihnen, welcher am nächsten Morgen früher erwache und dem andern anzeige, wenn die Sonne über dem Meeresrand auftauche, der solle die Dunen haben, um sich damit zu wärmen. Beide, Kormoran und Eidervogel, setzten sich da an den steinigen Strand, einer neben dem andern, als der Abend dämmerte. Der Kormoran wusste wohl, dass er hart zu schlafen pflegte und schwer aufwachte, wenn er fest eingeschlafen war; aus Furcht davor, beim Sonnenaufgang nicht zu erwachen, gedachte er, die ganze Nacht nicht zu schlafen; dann, glaubte er, sei es zweifellos, dass er die Dunen erhielt, die wohl eine Nachtwache wert waren. Und nun setzte sich der Kormoran ganz stolz darüber, dass er, der sonst Schlafmütze hiess, die ganze Nacht nicht schlafen solle und den Eidervogel sah er in festem Schlafe neben sich sitzen. Den ersten Teil der Nacht ging es erträglich gut, aber als es länger dauerte, begann er schwer zu werden und musste mit dem Schlafe kämpfen, der ihn zu übermannen anfing. Doch sass er noch halbwach und natzte, als es vom Tage zu leuchten anfing; da rief er vor Freude über sich selbst: »Nun blaut es im Osten!« Über diesen Ruf erwachte der Eidervogel, der nun ausgeschlafen war; dagegen war der Kormoran so schläfrig, dass er die Augen nicht offen halten konnte und nun natzte, wo es am meisten darauf ankam, zu wachen. Als die Sonne aus dem Meer aufstieg, war der Eidervogel nicht faul, dem Kormoran anzusagen: »Tag im Meer! Tag im Meer!« So erhielt der Eidervogel die Dunen; der Kormoran musste noch mehr büßen; er verlor die Zunge, weil er nicht schweigen konnte, wo es galt zu schweigen, und das wendet man oft in der Rede an, wenn jemand plauderhaft ist, und fragt: »Warum ist der Kormoran ohne Zunge?«, damit er an seine eigene Zunge denken kann und in Bezug auf das, was nicht gesagt werden soll, ihr einen Riegel vorschiebt.


Jiriczek, Otto L.
Færöerische Märchen und Sagen
In: Zeitschrift für Volkskunde 2
(1892), Berlin

Montag, 16. Februar 2009

Der Fuchs und der Krebs

Ein Fuchs und ein Krebs schlössen Gemeinschaft mit einander. Ihre Gemeinschaft bezog sich aufs Pflügen. Wenn sie ans Pflügen gingen, befahl der Fuchs dem Krebs und sprach: »Nimm du den Krümmel und das Joch.« Da fragte ihn der Krebs: »Was wirst du denn tragen?« »Ich werde«, antwortete der Fuchs, »den Jochstift tragen und den Stift und den Stift vom Stift.« Das ist alles ein und dasselbe. So liess der Fuchs durch seine Verschlagenheit in allen Fällen die Dinge als viele erscheinen. Der Krebs war mit dieser Abmachung einverstanden, und es verstrich die Zeit bis zur Zeit der Tenne. Da droschen sie ihr Getreide und worfelten es. Das Stroh kam auf die eine Seite und das Getreide auf die andere. Da sagte der Fuchs zum Krebs: »Auf welche Weise willst du, dass wir teilen sollen.« »Wie du willst«, antwortete der Krebs. »Dann wollen wir«, meinte der Fuchs, »das Getreide auf die eine Seite thun und das Stroh auf die andere, dann auf die Seite der Tenne treten und zum Getreide und Stroh hinlaufen. Das, zu dem ein jeder gelangt, gehört ihm.« »Du hast gut gesprochen«, sagte der Krebs. Der Fuchs sah den Krebs an und dachte sich: »Der ist blind; bevor er sich rührt, bin ich bereits am Getreidehaufen angekommen.« Dann sprach er: »Lauf, lass uns laufen.« Der Fuchs lief hin, der Krebs aber hängte sich an seinen Schwanz an, ohne dass der Fuchs es sah oder merkte. Als nun der Fuchs noch fern vom Getreide war, warf sich der Krebs auf den Haufen und rief auf kurdisch: »Dieser Fünfzehnte gehört dir, dem Berg dieser Sechzehnte.« Der Fuchs sah sich um, aber der Krebs war nicht da. Da sprach er: »Wann merktest du dieses damals?« Der Fuchs erschrak und ging nach Hause, indem er sich darüber grämte, dass er besiegt wurde. Der Krebs nahm dann das Getreide und ging nach Hause, und der Fuchs nahm das Stroh und ging nach Hause. So wurde der Fuchs, so schlau er auch war, übers Ohr gehauen.

Lidzbarski, Mark (Hg.)
Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften
Weimar, 1896

Sonntag, 15. Februar 2009

Die Ratte und der Schmetterling


Eine Ratte und ein Schmetterling bauten sich einmal ein Boot; sie verzierten es mit schönen Schnitzereien und hingen Kauri-Muscheln daran. Dann stiegen sie ein, und als sie im Meer über tiefes Wasser fuhren, ließ die Ratte einen Wind streichen. »Wenn du das noch einmal tust,« sagte der Schmetterling, »machst du unser Boot entzwei.« Nun ließ der Schmetterling einen Wind streichen. »Was schiltst du mich denn aus?« sagte die Ratte, »du wirst noch ein Loch in unser Boot machen!«

»Das macht mir nichts aus,« sagte der Schmetterling, »ich kann fliegen.« – »Und ich muß schwimmen,« antwortete die Ratte.

So ging es weiter; bald ließ der eine, bald der andere einen Wind streichen; schließlich machte die Ratte es so kräftig, daß der Schiffsboden entzweibarst, und das Boot sich mit Wasser füllte und sank.

Die Ratte schwamm, und der Schmetterling flog vornweg. »Verlaß mich nicht,« rief die Ratte hinter ihm her, »komm zurück, wir wollen zusammenhalten.«

Doch der Schmetterling kam erst wieder, als er müde ward; da setzte er sich auf den Kopf seines Freundes. »Geh' 'runter! wir sinken sonst,« sagte die Ratte. »Du hast ja das Boot entzwei gemacht,« sagte der Schmetterling, »ich bleibe auf deinem Kopfe, und du mußt an Land schwimmen.« Und so schwamm die Ratte, während der Schmetterling auf ihrem Kopf sitzen blieb.

Schließlich kamen sie in seichtes Wasser und wateten ans Land; die Ratte war so müde, daß sie nicht einmal das Wasser vom Fell abschüttelte, sondern sich zum Schlafen hinlegte, während ihr Freund, der Schmetterling, auf Nahrungssuche ging. Der Schmetterling flog in einen Bananengarten und sog den Saft ein, der aus den reifen Bananen herausfließt; endlich begab sich auch die Ratte in ein Zuckerrohrfeld, kletterte auf einen saftigen Stengel und fing an zu knabbern. Sie knabberte und nagte, bis plötzlich der Stengel abbrach, über die Ratte hinwegfiel und sie einklemmte. »Ki, ki, ki!« schrie sie da; und als der Schmetterling seinem Freunde helfen wollte, da war er schon tot. Er hüllte ihn in eine Matte und rief seine Gefährten herbei.

Viele Schmetterlinge stellten sich ein; und sie trugen die Ratte in das schon vorbereitete Grab. Eine Weihe sah den Zug und sagte: »Freunde, was für einen Braten habt ihr denn da?« Doch sie sagten es ihm nicht. Der Adler fragte: »Kerle, was für Fleisch habt ihr da eingewickelt?« Doch sie sagten es ihm nicht. Auch die anderen Aasvögel erkundigten sich bei den Schmetterlingen; doch die trugen die Ratte fort und bestatteten sie so, daß niemand zu ihr gelangen konnte.

Hambruch, Paul
Südseemärchen
Jena, 1916


Freitag, 13. Februar 2009

Der Narr und der Baumwollspinner


In früheren Zeiten hatte ein Narr einem Baumwollenspinner befohlen, eine sehr feine und schöne Baumwolle zu spinnen. Der Spinner that, was ihm befohlen, und machte einen Faden so fein wie ein Stäubchen. Der Narr beklagte sich jedoch trotzdem, dass der Faden zu grob sei. Entrüstet zeigte der Spinner darauf in die Luft und sagte: »Da hast du einen feinen Faden!« »Weshalb sehe ich ihn nicht?« fragte der Narr, worauf der Meister antwortete: »Diese Baumwolle ist zu fein; sogar meine besten Arbeiter können sie nicht sehn; wieviel weniger also ein anderer.«

Der Narr war drob sehr erfreut und gab die Baumwolle einem Weber. Der Weber machte es auch so, und alle erhielten grosse Belohnungen, obgleich thatsächlich nichts geleistet war.

(Fabel aus China)

Seidel, A. (Hg.)
Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur
Weimar, 1898


Donnerstag, 12. Februar 2009

Die Ziege und die Ameise

Ein Bauer hatte eine Ziege, die er über alles liebte. Da sprach er eines Tages zu seinem Sohne Karl: »Hoalt ma di Goaß owa guat, sunst wird da da Kopf ogschlagn.« Der Knabe that, was ihm befohlen war, ließ von der Ziege Wiesen abfressen, Wald abfressen, den Teich aussaufen u.s.w. und trieb dann frohen Muthes seine Ziege nach Hause. Daselbst angekommen, fragte der Bauer die Ziege: »No Goaß, hast di heit ongfressn?« Die Ziege antwortete: »Hoab a Lawabladl (Laubblatt) gfressn, hoab a Trinkerl Wassa than, hoab me am hoaten Stoan (einen harten Stein) g'setzt. Me.« Der Bauer erzürnte sich ob dieser Antwort so sehr, daß er seine Drohung in Erfüllung gehen ließ. Nun schickte er seinen andern Sohn. Wenn auch dieser der Ziege alles Mögliche that, so antwortete sie doch auf die Frage des Bauern: »Hoab a Lawablattl gfressn, hoab a Trinkerl Wassa than, hoab me am hoaten Stoan g'setzt. Me.« Der Bauer hieb ihm ebenfalls den Kopf ab und warf ihn in den Keller. Diesem Kopfe des Knaben folgte bald der seiner Schwester und dann der seiner Mutter nach; denn auch diese konnten die Ziege nicht befriedigen und erlagen der Drohung des Bauern: »Hoalts ma mein Goaß owa guat, sunst wird eng der Kopf ogschlagn; i kann eng nacha net helfa.« Nun trieb der Bauer seine Ziege selbst aus. Er ließ ihr »Bama ofressn, Wiesen ofressn, Deichterl aussaufn« und alle möglichen Freiheiten.

Als er nun zu Hause ankam, antwortete die Ziege wie gewöhnlich auf die Frage des Bauern: »Hoab a Lawabladl gfressn« u.s.w. Kaum hatte dieß der Bauer gehört, als er voll Wuth und Zorn außer sich rief: »So, jetzt host mi um meine drei Kina (Kinder) und mein bravs Wei bracht, jetzt gehts dar a aso.« Nach diesen Worten schürte er ein Feuer an, stellte einen Topf mit Erbsen auf dasselbe und schickte sich an, die Ziege zu schlachten. Er steckte ihr ein Messer in den Hals und schor die Haut. Da fühlte er einen eigentümlichen Geruch, »denn seine Orwaß ham sie anbrennt ghobt« (die Erbsen hatten sich angebrannt) Er eilte nun zu seinem Topfe, um die Erbsen zu retten. Diese Gelegenheit benützte die Ziege und lief, theilweise geschoren und das Messer im Halse zur Thür hinaus und dann in ein Fuchsloch, aus dem sich der Fuchs so eben entfernt hatte, verhielt sich daselbst ruhig, bis der Fuchs nach Hause kam, und sie freute sich über den glücklichen Ausgang. Als der Fuchs nun erschien, roch er, daß etwas in seiner Höhle sein müsse, und fragte daher, indem er vor dem Eingange der Höhle stehen blieb: »Was is in meina Lucka?« Die Ziege antwortete mit kläglicher Stimme: »A n'oame Goaß, de von da Welt nix woas, halb gschundn, halb gschabn, a Messa in Krogn, kummst ma h'rein, stich i da's h'nein.«

Bei diesen Worten wurde dem Fuchse bänglich zu Muthe und er entfernte sich traurig. Da stieß er auf eine Kuh, welche ihn fragte, was ihm fehle. Der Fuchs erzählte ihr nun, was ihm widerfahren war, worauf sich die Kuh anbot, ihn zurückzubegleiten. Allein auch sie fuhr erschrocken zurück. So gingen nun beide jammernd weiter, als eine Ameise sie mit den Worten anredete: »Was weint ihr denn, ihr seid doch beide groß und stark?« – Nun erfuhr auch die Ameise die grause Geschichte und der Fuchs sprach noch besonders die Worte: »Sol ma si da net fiachten, schreits allaweil: Kummst ma h'rein, stich i da's h'nein.« Nun ging die Ameise mit beiden zum Fuchsloch, hörte die Ziege an, ging aber dann muthig in die Höhle, setzte sich auf den Rücken der Ziege und kitzelte sie, so viel sie konnte. Um sich dieser Plage zu entledigen, sah die Geiß kein anderes Mittel, als sich aus der Höhle zu entfernen. Das that sie denn auch »und is auf und davon g'rennt.«

Vernaleken, Theodor:
Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt
3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896


Mittwoch, 11. Februar 2009

Krähe und Drongo wetten


Die Krähe und der Drongo (kaputu bênâ) waren Onkel und Neffe, und sie wetteten, wer mit einem Gewicht be lastet am höchsten fliegen könne. Der Gewinnende sollte dem Verlierenden auf den Kopf schlagen. Die Krähe wählte Baumwolle und ihr Neffe einen Sack Salz, da er sah, daß die Wolken regenschwer waren. Beim Fluge aufwärts kam ein Regenguß, machte die Last der Krähe schwerer und hemmte ihren Flug, aber die Last des anderen verminderte er, daß er den Sieg gewann.

(aus Ceylon)


Dähnhardt, Oskar: Natursagen
Eine Sammlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden
4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912

Dienstag, 10. Februar 2009

Der Kaulbarsch und der Lachs


Man sagt, daß einmal der Kaulbarsch und der Lachs unterhalb eines Wasserfalles eine Wette eingingen, wer von ihnen den Wasserfall hinaufschwimmen könne. Der Kaulbarsch verfiel auf den schlauen Gedanken, seinen Schwanz mit einem Haar an den Lachs festzubinden. Als nun der Lachs oben war, schaute er sich nach dem Kaulbarsch um. Ja, da steckte dieser hinter dem Schwänze des Lachses, schwamm schnell nach vorn und rief: »Ei, hier bin ich schon.« Und da hatte er die Wette gewonnen.

Löwis of Menar, August von
Finnische und estnische Volksmärchen

Jena, 1922

Montag, 9. Februar 2009

Vorrede zum zweiten Buche

O Königs Alexanders Sohn, die Thierfabel
Ist alte Erfindung, die vom Syrervolk herrührt.
Aus jener Zeit wo Bel und Ninos dort herrschten.
Bei Griechenkindern hat zuerst Aesop solche
Erzählt, so sagt man: vom Kybisses her stammen
Die libyschen Fabeln., und zu neuer Versdichtung
Gestalt’ ich sie, und zäum’ in goldne Kinnketten
Den Fabeljambos, gleich ‘nem Roß in Kriegsrüstung.
Nachdem ich einmal aufgethan das Thor hatte,
Sind viele eingedrungen, welche gleich Räthseln
Fein ausgedachte Musen-Schöpfung aushecken,
Und außer Unverständniß nichts gelernt haben.
Doch ich erzähl’ in blanker Sprache aufrichtig,
Und will der Jamben Zähne gar nicht scharf wetzen,
Im Feuer prüfen, und den Stachel abbrechen,
Und so im zweiten Gang dir dieses Buch singen.

Babrios
Ü: Johann Adam Hartung
Leipzig 1858

Sonntag, 8. Februar 2009

Isegrim


Der Wolf als Fabelwesen symbolisiert Bosheit und Rücksichtslosigkeit, aber auch Kraft und Tölpelhaftigkeit. Der verschlagene Fuchs ist dem Wolf in den Fabelerzählungen immer überlegen. Die Bezeichnung Isegrim kommt aus dem mittelhochdeutschen (Îsengrîn) – îsen = Eisen, grînen = knurren). Die Wölfin wird als Gieremund bezeichnet.
Das mittelalterliche Tierepos Ysengrimus – Verfasser vermutlich Nivardus aus Gent, um 1148? – weist erstmalig diesen Namen aus. Die Auseinandersetzung zwischen Fuchs und Wolf stehen im Mittelpunkt dieses Epos. Am Ende steht der Untergang des Wolfs (Isengrimes nôt) durch Wildschweine.

Horst-Dieter Radke

Samstag, 7. Februar 2009

Der Rab mit dem toten fuchsen


Das buch natürlicher weisheit
das saget uns, wie auf ein zeit
in eim höl lag ein alter fuchs,
in dem der hunger groß aufwuchs.
in solchem begab sich hernach,
der fuchs ein raben fliegen sach,
der inbrünstig hungriger weis
begeret zu suchen sein speis,
wo etwan leg ein totes as.
als nun der fuchs vermerket das,
war er mit listen gar nit treg,
legt sich gestrecket an den weg,
mit eingfallen kinbacken als
und mit lang ausgestrecktem hals,
mit stil diebischem atem ganz,
mit ganz aufgeflattertem schwanz,
mit allen viern gestreckt on spot,
als ob er da leg und wer tot,
den hungring raben zu betriegen,
ob er herab auf in wolt fliegen
und im seine augen aushacken,
ob ern möcht bei dem hals erzwacken
und möcht ein nachtmal an im haben.
als aber der fuchs von dem raben
also sam tötlich wart gesehen,
da wolt er vor dem grunt nachspehen,
wan er war fürsichtig und klug,
nahet ob dem fuchsen hinflug;
da sach er gewiss an der stet,
wie der fuchs atem holen tet
und zog den heimlich aus und ein.
dardurch erkent die liste sein
der rab und flog von im, allein
nam in schnabel ein kiselstein
und flog auf in den luft mit schallen,
ließ den stein auf den fuchsen fallen.
der fuchs erstunt balt auf vom tot,
da sprach zu im der rab im spot:
fuchs, meinst, das nit das rebisch aug
so scharpf und wol zu listen taug
als dein füchsisch aug vol arglist?
derhalb ich auch zu mancher frist
eim so liegenden fuchs geschicket
sein aug mit meim schnabel auspicket,
ließ im denn den spot zu dem schaden.
der fuchs sprach: ich hab mit ungnaden
auch oft ein raben in den tagen
also ertappt und gen walt tragen
und den gerupfet und gefreßen,
darumb sei nicht also vermeßen,
dem weisen oft in diser zeit
widerfert nit ein klein torheit,
voraus wo in des hungers fraß
darzu übet on unterlaß.
der geizhunger an manchem ent
das herz verdunkelt, augen blent;
wo der aufsperret seinen rachen,
zu füllen sich und feist zu machen,
und er als waget hin auf glück,
schlegt alle erbarkeit zurück
oft wider billichkeit und recht,
das er oft mit dem hals behecht,
umb leib, er, gut und leben kum.
im antwort der rab widerumb:
wiß, das ein fürsichtiger man
sich weislichen fürsehen kan
vor der arglisting trüglichkeit,
wenn er vertraut zu keiner zeit
und sich gar wol umbschauen muß,
e er setzt nider seinen fuß,
das er nicht alle augenblick
gefangen werd und sich verstrick
mit der welt unzeligen netzen,
die in bescheding und verletzen;
und wil er in der welt beleiben,
muß er oft list mit list vertreiben
und muß die fuchslistigen fliehen,
von ir gemeinschaft sich abziehen
und sich nur zu den frommen halten.
der fuchs sprach: des muß als glück walten,
mein rab, wo müst ein man hinkommen,
das er beisamen fünt die frommen,
dieweil ir ist auf ert so wenig?
der listing ist ein große menig,
die all schauen auf iren nutz
und nemen ir arglist zu schutz,
darmit iren geizhunger neren,
es sei mit er oder uneren,
mit gutem schein die leut betriegen,
übervorteilen und beliegen
mit süßen, schmeichelhafting worten
und können auch an allen orten
den schalk gar meisterlich verbergen,
als ob im herzen sie herbergen
nichtes denn lieb, treu unde gunst;
das ist denn aller heuchler kunst,
darmit sie die einfelting fangen,
die darnach in irm netz behangen;
derhalb, mein rab, wilt sicher sein,
so schick dich nur fürsichtig drein.
nach den worten sie beidesander
schiden mit friden von einander.

Der beschluß
Aus der fabel der weisen alten
sol ein mensch in gdechtnus behalten,
das er allzeit fürfichtig sei,
weil untreu ist so mancherlei
auf erden gar in allen stenden,
geistlich und weltlich regimenten,
und ist in aller welt gemein,
verdecket doch mit gutem schein,
als sei nichts da denn lieb und treu.
ist doch Judas kus teglich neu!
lach mich an unde gib mich hin,
das ist fast aller welte sin.
des nem ein man die ler allein:
wo er wil unbetrogen sein,
da tu er nicht zu weit vertrauen,
sonder tu mit fleiß für sich schauen,
auf das er nicht betrogen wer;
wan wo zu weit vertrauet er,
so wirt gewislich er betrogen
und mit der nasen umbher zogen,
dardurch im denn nachreu erwachs,
mit spot zum schaden, spricht Hans Sachs.

Anno salutis 1559, am 11. tage Februarij.

Hans Sachs
Dichtungen. Zweiter Theil:
Geistliche und weltliche Lieder
Leipzig 1870

Freitag, 6. Februar 2009

Storch und Frosch

Foto: Jeremias Radke

»Schau«, sagte der Storch zum Frosch, »es ist ja nur etwas mehr als ein halbes Jahr, dass ich deinesgleichen belästige. Im Herbst gehen wir auf Reisen und im Winter sind wir in Ländern, die euch gar nicht gefallen würden.«
»Was haben wir davon?«, jammerte der Frosch. »Im Winter liegen wir starr und steif im Schlamm, erwarten das Frühjahr und fürchten eure Rückkehr.«
»Dafür kann ich nichts!«, sagte der Storch. »Außerdem seid ihr uns zahlenmäßig überlegen.« Er schnappte den Frosch mit dem Schnabel, schlang ihn herunter und stapfte auf seinen langen Beinen weiter durch die Wiese, auf der Suche nach einem neuen Gesprächspartner.

Horst-Dieter Radke

Donnerstag, 5. Februar 2009

Der Marner

Bildquelle: Wikipedia

Der Marner wurde ein urkundlich nicht bezeugter fahrender Lied- und Spruchdichter und Berufssänger aus Schwaben genannt, von dessen Werken Beispiele aus der Zeit zwischen 1230 und 1267 erhalten sind. Er soll bürgerlicher Herkunft gewesen sein, hatte wahrscheinlich eine gute Schulbildung genossen und hochgestellte geistliche Herren als Mäzene. 1287 soll er als blinder alter Mann ermordet worden sein. Von den Meistersingern wird er zu den »Zwölf Alten Meistern« gezählt und ihm der Vorname Konrad hinzugefügt. Auch Ludwig oder Hans Ludwig wird ihm als Vorname zugewiesen. Von seinem Werk sind fünf lateinische Gedichte und sieben Minnelieder unterschiedlicher Thematik erhalten. Auch Spruchdichtung (so genannte gnomische Dichtungen) sind von ihm bekannt. Der Inhalt seiner Sangspruchlyrik ist breit gestreut: Religion, Kosmologie, Politik und Morallehre, biblische und antike Motive und Aussagen zur Kunsttheorie. Die Fabel von den »Fröschen und der Kröte« ist ebenfalls bei Marner zu finden. Sein Werk war von großer Wirkung.

Horst-Dieter Radke

Mittwoch, 4. Februar 2009

Die alten Fabeldichter

Denn ich glaube nicht, daß die alten Fabeldichter bey ihren Fabeln, die sie in den Versammlungen und Gesellschaften erzählet, eine ausdrückliche Anwendung derselben gemacht haben. Es war schicklicher, die Anwendung der Fabel, welche auf einen jedermann bekannten Gegenstand gieng, von dem Volke machen zu lassen, welches durch das Zutrauen einer Geschicklichkeit, das der Poet hierdurch in dasselbe zu setzen schien, bewogen ward, dasjenige, worauf die Fabel zielte, zum Zeichen der Dankbarkeit zu beobachten.

Christian Fürchtegott Gellert
Von denen Fabeln und deren Verfassern

Dienstag, 3. Februar 2009

Hund und Herr


Das Hündchen stand, indem der Herr wollt’ ausgehen.
Der sprach: »Was gaffst du? mache dich nur ganz fertig,
Mit mir zu geh’n.« Da hob der Hund den Schweif höher,
und sprach: »Ich bin schon fertig: aber du zögerst.«

Babrios
Ü: Johann Adam Hartung (1858)

Montag, 2. Februar 2009

Aesopus Latinus Romulus

Aesopus Latinus Romulus, oft auch einfach mit Romulus bezeichnet, ist eine antike Fabelsammlung in schlechter lateinischer Prosa aus dem 5. Jh. Die Fabeln entstammen den Versen des Phaedrus, der Name rührt von dem Einleitungstext (in Briefform) her, die mit Romulus unterzeichnet ist. Ein abschließender Brief ist dem Gattungsstifter Äsop unterlegt. Diese Sammlung ist die wichtigste Quelle für die Übermittlung äsopischer Fabeln im Mittelalter.

Horst-Dieter Radke

Sonntag, 1. Februar 2009

Der Fuchs und die Trauben


Hungrig schlich der Fuchs ins Freie

Futter für den leeren Magen

Auf der Wiese zu ersphän.

Endlich hoch am Rebenzweige

Winket ihm die schönste Traube,

Welche je sein Mund begehrt

Springend sucht er zu erreichen,

Was das Auge lüstern reizet;

Doch umsonst ist all sein Mühen,

Denn die Traube

Hängt zu hoch für Meister Fuchs.

Mürrisch spricht er: „ach, sie schmecket

Bitter noch und bittre Trauben

Freß ich, glaubt's mir, niemals gern.“

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Solche trifft der Mund der Fabel,

Die mit Worten frech verhöhnen,

Was zu groß für ihre Kraft.

Theodor Storm
(handschriftlich), 1835
Storm war damals 17 Jahre alt