Mittwoch, 30. November 2011

Der ethische Werth der Sagen

Der ethische Werth der Sagen verdient die vollste Beachtung und Berücksichtigung; es ist nicht schwer, denselben in den Sagen selbst zu finden, obschon die Sage nie, wie die Fabel, die in ihr enthaltene Lehre gleichsam aufdringt und aufzwingt. Die Sage spricht und lehrt für sich, wie nach des frommen Sängers Lied die Saat und der Baum in seiner vollen Blühtenpracht. (S. 207)

Die Fabel, die ihren ethischen Werth meist selbst in Worten darlegt, fand in neuer Zeit häufig auch künstlerische Verklärung, und es genügt, die Namen Grandville und Otto Speckter zu nennen, … (S. 219)

Ludwig Bechstein
aus: Mythe, Sage, Märe und Fabel
im Leben und Bewußtsein des deutschen Volkes
Dritter Theil
Leipzig 1855

Sonntag, 27. November 2011

Eine Rezension

Brauns, H., Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen. München 1772. 8. 187 S.

Diesen Fabeln hat der Herr Verfasser für seine Landsleute eine kleine Theorie angehängt, weil, sagt er, nicht ohne Selbstgefälligkeit: „vielleicht etliche junge Leute sich hervortun, und ihm fabeln nachschreiben könnten, so wie gleich etliche Bändchen freundschaftlicher Briefe erschienen wären, seitdem Er einen Versuch in freundschaftlichen Briefen geschrieben hätte. Diesen jungen Leuten nun, meint er, wären die ächten Begriffe von der Fabel sehr nötig.“ – –
Nötig sind sie freilich, sowohl den bösen jungen Leuten, die Herrn B. Fabeln nachschreiben, als allen andern, die sich ohne Genie in dieses Feld wagen; aber durch Herrn B’s. Theorie werden sie eben nicht sehr erleuchtet werden. Er sagt: „die Fabel wäre ein kurze erdichtete, meistenteils thierische Handlung, worunter ein gewisser Satz aus der Sittenlehre verborgen liege.“ Unbestimmter kann man wohl nicht erklären. Uns dünkt überhaupt, man hat die Theorie von der Fabel noch nicht genug auseinander gesetzt. Wir glauben daß sie im Anfang nichts war, als eine Art von Induktion, welche in den glücklichen Zeiten, da man noch nichts von dem dito de Omi et nullo wußte, die einzige Weisheit war. Wollte man nämlich andere belehren oder überreden, so zeigte man ihnen den Ausgang verschiedener Unternehmungen in Beispielen. Wahre Beispiele waren nicht lange hinlänglich; man erdichtete also andere, und weil eine Erdichtung, die nicht mehr sagt als vor Augen sieht, immer abgeschmackt ist, so ging man aus der menschlichen Natur hinaus, und suchte in der übrigen belebten Schöpfung andere tätige Akteurs. Da  kam man auf die Thiede, und so fabulirte man fort, bis die Menschen mehr anfingen zu raisonniren, als zu leben. Nun erfand man Axiome, Grundsätze, Systeme u.d.gl. und mochte Induktion nicht mehr leiden; zugleich entstand das Unding der honneten Compagnie, zu welcher sich Dichte rund Philosophen schlugen. Diese wollten der Fabel, die mit der Induktion gefallen war, wieder aufhelfen. Sie schminkten sie also, puderten sie, behängten sie mit Bändern, und da kam das Mittelding zwischen Fabel und Erzählung heraus, wodurch man nun nicht mehr lehren, sondern amüsieren wollte. Endlich merkte man, wie weit man sich von der ersten Erfindung entfernt hatte. Man wollte zu ihr zurückkehren, und schnitt die Auswüchse ab; allein man konnte doch mit der Induktion nicht fortkommen, und behalf sich also mit dem bloßen Witz; da wurde Fabel Epigramm.
So würde die Geschichte der Theorie aussehn, die wir von der Fabel schreiben würden. Beispiele von der letzten Gattung würden wir genug in Herrn B’s. Fabeln antreffen. Wir würden aber schwerlich welche daraus wählen; denn die meisten sind entweder schlecht erfunden, oder abgenutzt, oder falsch, oder alltäglich. Herr B. verspricht noch eine weitläufigere Theorie von der Fabel. Sollten wir aus diesem Versuch auf ihren Wert schließen, so wollten wir sie verbitten; aber Liceat perire poetis! und warum sollte Herr B. auch nicht so viel Recht haben zu dichten und zu theoretisieren als andere?

J.W.v.Goethe
aus: Rezensionen in die Frankfurter gelehrten Anzeigen.
Die Jahre 1772 und 1773

Samstag, 26. November 2011

Der Himmel


Ein Toller kam bey Nacht von seinen Ketten los,
Und lief aufs freye Feld, in dessen grünem Schoos
Ein stiller Bach, hell wie ein Spiegel floß.
Der Sterne glänzendes Gewimmel,
Der Mond in voller Pracht erleuchteten den Himmel
Und malten sich als wirklich in dem Bach.
Der Thor blieb an dem Ufer stehen
Und bükte sich die Szene recht zu sehen,
Und sah und staunte lang und sprach:
Was hab ich doch entdecken müssen!
Der ganze Himmel liegt zu meinen Füssen;
Ein leichter Schritt, so ist er mein;
Ich glücklicher! Itzt wirft er sich hinein
Und sinkt. Vergebens ist sein Rufen und sein Streben;
Der Irrtum kostet ihn das Leben.

Gottlieb Conrad Pfeffel

Freitag, 25. November 2011

Frömmler


Irrwische hielten ihr nächtliches Stündchen
auf der Haide, und ohne ein Sündchen
tanzten sie betend wol auf und ab,
priesen auch: daß in so finstern Zeiten
Demut allein die Erleuchtung hab’,
richtigen Pfad die Welt zu leiten.

Aber die Sterne sangen herab:
„Wer, verirrt in erdunkelten Thalen,
aufschaut zu den himmlischen Strahlen,
die da brennen in ewiger Ruh,
diesen führen wir aus den Qualen
einem erfrischenden Morgen zu!
Aber in Nacht bleibt Jeder versunken,
welcher gefolgt, wo jene gewunken!“

Abraham Emanuel Fröhlich

Dienstag, 22. November 2011

Der Specht und der Gärtner

Auf einem Apfelbaum rumorte
Ein Specht, ein sonderbarer Gast,
Der mit dem Schnabel Ast um Ast
Und bis aufs Mark den Stamm durchbohrte,
Um kleine Würmchen auszuspähen,
Die hier und da sich finden ließen.
Der Gärtner sah den Spuck; ihn sehn
Und fluchend auf den Gaudieb schießen,
War eins. Das mörderische Blei
Schlug einen Fittich ihm entzwei.
Er fiel. „Belohnst du so die Treue,“
Sprach er, „womit ich von der Brut
Der Würmer deinen Baum befreie?“
„Ha!“ rief der Gärtner, blau vor Wut,
Du säuberst ihn von Wurmgezüchte,
Und schadest zehnmal mehr als sie.“
Wie manchen Specht zeigt die Geschichte
Der neuern Staatsäökonomie!

Gottlieb Konrad Pfeffel

Montag, 21. November 2011

Das Schaf und die Pferde

Avis akvāsas ka

Avis, jasmin varnā na ā ast, dadarka akvams, tam, vāgham garum vaghantam, tam, bhāram magham, tam, manum āku bharantam. Avis akvabhjams ā vavakat: kard aghnutai mai vidanti manum akvams agantam. Akvāsas ā vavakant: krudhi avai, kard aghnutai vividvant-svas: manus patis varnām avisāms karnauti svabhjam gharmam vastram avibhjams ka varnā na asti. Tat kukruvants avis agram ā bhugat.

Der Sprachwissenschaftler August Schleicher schrieb diese Fabel 1868 in der rekonstruierten Ursprache Indogermanisch. Die deutsche Übersetzung lautet:

Das Schaf und die Pferde


Ein Schaf, das keine Wolle mehr hatte, sah Pferde, eines einen schweren Wagen fahrend, eines eine große Last, eines einen Menschen schnell tragend. Das Schaf sprach: Das Herz wird mir eng, wenn ich sehe, dass der Mensch die Pferde antreibt. Die Pferde sprachen: Höre Schaf, das Herz wird uns eng, weil wir gesehen haben: Der Mensch, der Herr, macht die Wolle der Schafe zu einem warmen Kleid für sich und die Schafe haben keine Wolle mehr. Als es dies gehört hatte, floh das Schaf auf das Feld.

Sonntag, 20. November 2011

Der Knabe und der Wiedehopf

(Eine Fabel)

Es sang ein Vogel im grünen Wald,
Der Knabe lauschte im Hinterhalt
Und sprach: Dich muß ich kriegen!
Der Vogel sang: Du Tropf, du Tropf!
Ich bin ja der Vogel Wiedehopf
Und kann gar hurtig fliegen.

Der Vogel flog von Ast zu Ast
Der Knabe lief ihm nach mit Hast
Zu einer alten Eiche.
Da flog der Vogel in ein Loch;
Der Knabe sprach: Ich fang dich doch,
Gleich werd’ ich dich erreichen.

Und als er kam zum selben Loch,
Wo sich der Vogel drin verkroch,
Tat sich der Knabe freuen.
Da sprach der Vogel: Laß ab, du Tropf!
Ich bin ja der Vogel Wiedehopf,
Das wird dich noch gereuen.

Und du bist der Vogel Wiedehopf,
So fass ich dich doch gleich beim Schopf,
Mir ist vor dir nicht bange. -
Er tappt in des Vogels Nest hinein,
Er hielt den Vogel bei dem Bein,
Doch hielt er ihn nicht lange.

Er schrie: O weh! Ich dummer Tropf!
Du bunter Vogel Wiedehopf
Du hast dich gut verkrochen.
Du hast dein Nest mit arger List
Gebaut aus purem Schweinemist!
O weh, das hab’ ich gerochen!

O Konrad, bunter Vogel du!
Wenn ich dich ferner ließ in Ruh’,
Das schiene mir das Beste;
Denn niemals faßt man gern beim Schopf
Den bunten Vogel Wiedehopf
In seinem saubern Nests.

Wilhelm Busch

Sonntag, 13. November 2011

Die Truhe

 
Gar häufig kommt uns vor der Fall,
daß man mit vielem Wissensschwall
sich quält, wo’s nur gilt, ohne Zagen
die Sache selber zu befragen.

Vom Schreiner brachte man zu jemand eine Ruh’.
Das saubre Stück war eine rechte Augenweide,
und jeglicher hat daran seine Freude.
Ein Jünger der Mechanik tritt hinzu;
der sieht die Truhe an und ruft: »Ah, ein Geheimnis!
Jawohl, sie hat kein Schloss –
nun, nun, ich öffne sie Euch ohne Säumnis.
Seht mich nicht an so groß!
Ich find’ es schon heraus, ich öffne Euch die Truhe,
in der Mechanik habe ich was los – das lässt mir keine Ruhe.«

Er macht sich an die Truhe flugs,
er späht nach allem wie ein Luchs,
zerquält sien Hirn, o Jammer,
drückt auf ‚nen Nagel bald und bald auf eine Klammer.
Wer so sein Tun erblickt,
hält ihn für halb verrückt,
man flüstert und man lacht,
er aber murmelt immer sacht:
»Hier nicht, so nicht, da nicht.« Sein Eifer wächst,
er schwitzt und schwitzt und meint, er sei verhext.
Doch wie die Kraft zu Ende geht,
lässt er die Truhe, wie sie steht.
Die saure Mühe konnt’ ihn wohl verdrießen:
die Truhe war nicht zum Verschließen.

Iwan Andrejewitsch Krylow
Fabeln, Leipzig 1874
Original: St. Petersburg 1843
Übersetzer: Ferdinand Löwe

Freitag, 11. November 2011

Von einem Vogelsteller und einer Amsel

Die XLVIII.Fabel

Ein Vogelsteller stellete Netze auf, Vögel zu fangen: Als solches eine Amsel sahe, fragte sie, was er da machte; der Vorgelsteller antwortete, er wolte eine Stadt dahin bauen; und da er alles zugerichtet, gieng er und verbarg sich: alsobald fiel die Amsel mitten in die Netze, und fieng an von dem Geetzte zu essen, indessen zog der Vogelsteller die Schnur, und fieng die Amsel, welche zu ihm sprach, da er sie heraus nehemn wolte: O Mann, wann ihr solche Städte bauen wollet, werde ihr wenig Einwohner bekommen.

Lehre
Man muß nicht allezeit der Leuthe ihren Worten trauen.

FAV. XLVIII.

D’un’Ucellatore, e d’un Merlo

Un’Ucellatore tendeva le reti per farvi dopo incappare degli ucelli. Un Merlo, chelo vidde fare il tutto, gli domandó, che cosa hai fatto lá, esso rispose, in questo luogo qui, voglio farci una bella Cittá, ed hora n’hó fatto il disegno, e ció detto andó á, nascondersi, ed il Merlo voló in mezzo le reti, e cominció a beccare dell’esca. L’Ucellatore tiró la corda, e il Merlo vi restó preso, che gli disse quando venne per pigliarlo, ó huomo, se tu vuoi fare una Cittá di quésto forte, certo che non saranno molti i Cittadini.
Senso Morale

Le cose publiche, e private si struggono, quand’il Principe esercitá crudeltá.


Autzerlesene Fabeln

Aus dem Frantzösischen in das Italienische durch den Herrn de Veneroni, Sprach-Meistern zu Paris: Und dann durch Herrn Balthas Nickisch, Sprach-Meistern zu Augspurg ins Teutsche übersetzt. Alles mit Kupffer-Stücken bey einer jeden Fabel ausgeziereet: der Sprach-liebenden und Kunstgeneigten Jugend zu nützlicher Ergötzlichkeit
Zu Augspurg bey Johann Ulrich Krauß, Burger und Kupfferstecher daselbst, 1718

Donnerstag, 10. November 2011

Der durch einen Pfeil verwundete Vogel

 
Tödlich getroffen durch einen befiederten Pfeil,
Klagte ein Vogel in blutendem Schmerz sein Geschick:
»Muß man zum eignen Verderben beisteuern sein Teil!
Nimmt doch der Mensch aus unserm Gefieder das Stück,
Welches dem Flug der Geschosse die Sicherheit schafft.
Dennoch: es dünkt mir der Menschen Gespötte nichts Rechtes,
Werden sie oft doch von gleichem Geschicke errafft,
Da für die eine Hälfte des Menschengeschlechtes
Immer die andre die Todeswaffen beschafft.«

Jean de Lafontaine,

Samstag, 5. November 2011

Jenny Wren


2005 veröffentlichte Paul McCartney ein Lied über den Zaunkönig: »Jenny Wren« (auf dem Album »Chaos and Creation in the Backyard«). Das Solo auf der Duduk, einem armenischen Rohrblattinstrument spielte Pedro Eustache. Siebenunddreißig Jahre vorher erschien das Lied über die Amsel (Blackbird) auf dem weißen Doppelalbum der Beatles.

Der Adler und der Zaunkönig


Ein Zaunkönig ließ von ohngefähr etwas von seinem Kote auf einen Adler fallen. Entrüstet flog der königliche Vogel zum Jupiter. – »Räche mich, Vater der Götter!« – rief er: »Räche mich mich an diesem Elenden! Vertilge sein ganzes Geschlecht von der Erde!« –
»Aber,« sagte Jupiter gelassen zu dem Günstling: » – »Ist er nicht auch mein Geschöpf?« –
Geschichte gewisser Verordnungen!  – Favoriten! Ihr seid nicht die Nation! 

Christian August Fischer
aus: Politische Fabeln
Königsberg, 1796