Sonntag, 27. November 2011

Eine Rezension

Brauns, H., Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen. München 1772. 8. 187 S.

Diesen Fabeln hat der Herr Verfasser für seine Landsleute eine kleine Theorie angehängt, weil, sagt er, nicht ohne Selbstgefälligkeit: „vielleicht etliche junge Leute sich hervortun, und ihm fabeln nachschreiben könnten, so wie gleich etliche Bändchen freundschaftlicher Briefe erschienen wären, seitdem Er einen Versuch in freundschaftlichen Briefen geschrieben hätte. Diesen jungen Leuten nun, meint er, wären die ächten Begriffe von der Fabel sehr nötig.“ – –
Nötig sind sie freilich, sowohl den bösen jungen Leuten, die Herrn B. Fabeln nachschreiben, als allen andern, die sich ohne Genie in dieses Feld wagen; aber durch Herrn B’s. Theorie werden sie eben nicht sehr erleuchtet werden. Er sagt: „die Fabel wäre ein kurze erdichtete, meistenteils thierische Handlung, worunter ein gewisser Satz aus der Sittenlehre verborgen liege.“ Unbestimmter kann man wohl nicht erklären. Uns dünkt überhaupt, man hat die Theorie von der Fabel noch nicht genug auseinander gesetzt. Wir glauben daß sie im Anfang nichts war, als eine Art von Induktion, welche in den glücklichen Zeiten, da man noch nichts von dem dito de Omi et nullo wußte, die einzige Weisheit war. Wollte man nämlich andere belehren oder überreden, so zeigte man ihnen den Ausgang verschiedener Unternehmungen in Beispielen. Wahre Beispiele waren nicht lange hinlänglich; man erdichtete also andere, und weil eine Erdichtung, die nicht mehr sagt als vor Augen sieht, immer abgeschmackt ist, so ging man aus der menschlichen Natur hinaus, und suchte in der übrigen belebten Schöpfung andere tätige Akteurs. Da  kam man auf die Thiede, und so fabulirte man fort, bis die Menschen mehr anfingen zu raisonniren, als zu leben. Nun erfand man Axiome, Grundsätze, Systeme u.d.gl. und mochte Induktion nicht mehr leiden; zugleich entstand das Unding der honneten Compagnie, zu welcher sich Dichte rund Philosophen schlugen. Diese wollten der Fabel, die mit der Induktion gefallen war, wieder aufhelfen. Sie schminkten sie also, puderten sie, behängten sie mit Bändern, und da kam das Mittelding zwischen Fabel und Erzählung heraus, wodurch man nun nicht mehr lehren, sondern amüsieren wollte. Endlich merkte man, wie weit man sich von der ersten Erfindung entfernt hatte. Man wollte zu ihr zurückkehren, und schnitt die Auswüchse ab; allein man konnte doch mit der Induktion nicht fortkommen, und behalf sich also mit dem bloßen Witz; da wurde Fabel Epigramm.
So würde die Geschichte der Theorie aussehn, die wir von der Fabel schreiben würden. Beispiele von der letzten Gattung würden wir genug in Herrn B’s. Fabeln antreffen. Wir würden aber schwerlich welche daraus wählen; denn die meisten sind entweder schlecht erfunden, oder abgenutzt, oder falsch, oder alltäglich. Herr B. verspricht noch eine weitläufigere Theorie von der Fabel. Sollten wir aus diesem Versuch auf ihren Wert schließen, so wollten wir sie verbitten; aber Liceat perire poetis! und warum sollte Herr B. auch nicht so viel Recht haben zu dichten und zu theoretisieren als andere?

J.W.v.Goethe
aus: Rezensionen in die Frankfurter gelehrten Anzeigen.
Die Jahre 1772 und 1773

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