Samstag, 25. März 2017

Die beiden Frösche

Eine Fabel aus Japan

Es waren einmal zwei Frösche, von denen der eine ganz nahe bei der Küstenstadt Osaka in einem Graben, der andere dicht bei der schönen Hauptstadt Kioto in einem klaren Bache wohnte. Beide kamen auf den Gedanken, eine Reise zu machen, und zwar wollte der Frosch, der in Kioto wohnte, sich einmal Osaka ansehen, und der andere, der in Osaka wohnte, hatte Sehnsucht, die Kaiserstadt Kioto, wo der Mikado residirte, zu besuchen. Ohne daß sie sich kannten oder auch nur von einander gehört hatten, machten sie sich daher beide zu derselben Stunde auf den Weg und begannen ihre mühsame Wanderung. Die Reise ging nur langsam von Statten, denn ein Berg, dessen Höhe die Hälfte des Weges war, mußte überschritten werden, und diesen Berg zu erklimmen, war für die Frösche ein mühsames Stück Arbeit. Doch endlich war die Spitze erreicht, und siehe da, beide trafen sich, glotzten sich im ersten Augenblick einander an und fingen dann an, sich zu unterhalten. Als nun einer dem andern den Beweggrund seiner Reise mittheilte, da lachten sie beide vor Vergnügen, setzten sich zusammen in das hohe Gras und beschlossen, erst ein wenig auszuruhen, ehe sie sich trennten. »Wenn wir nur größere Thiere wären,« sprach der eine, »dann könnten wir von hieraus beide Städte sehen und könnten schon jetzt beurtheilen, ob es sich der Mühe verlohnt, noch weiter zu wandern.« »O, dem ist abzuhelfen,« entgegnete der zweite, »wenn wir das Ziel unserer Reise von hier aus sehen wollen, so können wir uns an einander aufrichten, und jeder blickt nach der Stadt hin, die er noch nicht kennt.« Dieser Vorschlag leuchtete dem anderen Frosche gewaltig ein, und gesagt, gethan, die beiden kleinen Kerlchen stellten sich auf ihre langen Hinterfüße und hielten sich mit den Armen umschlungen, damit sie nicht umfielen. Der Frosch, welcher aus Kioto kam, richtete seine Nase nach Osaka zu, und der, welcher aus Osaka kam, wandte die seine nach Kioto. Und so standen sie da, ganz steif, still und versunken in ihre Betrachtungen. Nun hatten die dummen Frösche aber gar nicht bedacht, daß ihre großen Augen, wenn sie den Kopf so hoch in die Luft reckten, wie sie es thaten, auf dem Rücken lagen und nach rückwärts blickten, und daß sie daher beide ihre eigene Heimat und die Stadt, von der sie ausgezogen waren, zu Gesicht bekamen. »Ach, was sehe ich?« rief der Frosch aus Osaka, »was sehe ich? Kioto sieht ganz so aus, wie Osaka; ich kann mir den Weg dahin ersparen!« Und ganz dasselbe sagte der Frosch aus Kioto, und wie beide zu dieser Erkenntniß gekommen waren, da ließen sie einander los, und plumps! fielen sie in das Gras. Dann machten sich die beiden Frösche eine Verbeugung, sagten einander Lebewohl und wanderten heim. Bis an ihr Lebensende haben sie geglaubt, daß die Städte Kioto und Osaka, die doch so grundverschieden sind, einander so ähnlich wären, wie ein Ei dem andern, und nie haben sie ihren Irrthum, der aus ihrer Dummheit entsprang, eingesehen.

Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885

Donnerstag, 23. März 2017

Die Ratten und ihr Töchterlein

Eine Fabel aus Japan

Einst lebte in der Nähe eines einsamen Gehöftes, das von Reisfeldern umgeben war, ein Rattenpaar, sehr geachtet von seines gleichen und in bestem Wohlstand. Diesen Ratten wurde unter vielen anderen Kindern einmal eine Tochter geboren, so niedlich und mit so glänzendem, grauem Felle versehen, mit so nett emporstehenden breiten Oehrchen und so leuchtenden Aeuglein, daß sie ganz außerordentlich stolz auf dies Töchterlein wurden und Tag aus, Tag ein nur daran dachten, wie sie ihm eine recht glänzende Zukunft bereiten sollten. Und als die kleine Ratte heranwuchs, da kamen ihre Eltern immer mehr darin überein, daß nur das mächtigste Wesen der ganzen Welt ihr Gemahl werden solle.

Als sie diese Angelegenheit einstmals mit einem Nachbar besprachen, sagte dieser: »Wenn ihr eure Tochter nur dem Mächtigsten zur Frau geben wollt, so müßt ihr die Sonne zu eurem Schwiegersohne ausersehen, denn ohne alle Frage ist der Sonne Niemand an Macht gleich.«

Das leuchtete dem Rattenpaare ein, und ohne Zögern machten sie sich auf den Weg zur Sonne und brachten ihr Anliegen vor, sie möchte ihr Töchterlein heiraten. Die Sonne aber erwiderte: »Zwar bin ich euch sehr verbunden, daß ihr euch so weit herbemüht habt und die freundliche Absicht hegt, mir eure vielgeliebte Tochter zur Frau zu geben; aber bitte, sagt mir, was für einen Grund habt ihr dafür, daß ihr gerade mich zum Schwiegersohne ausersehen habt?« Die Ratten sagten: »Wir möchten unsere Tochter gern dem mächtigsten Wesen der Welt zur Frau geben, und das bist ohne allen Widerstreit eben du. Darum haben wir dich zum Schwiegersohne erwählt.« Da sprach die Sonne: »Was ihr da sagt, ist wohl nicht ohne allen Grund, aber es giebt doch etwas, das mächtiger ist als ich. Dem müßtet ihr also euer Töchterchen zur Frau geben.« Die Ratten entgegneten: »Kann denn wirklich etwas mächtiger sein, als du?« Die Sonne aber sprach: »Wenn ich die Welt bescheinen will dann kommt gar oft eine Wolke herangezogen und deckt mich zu, und meine Strahlen vermögen sie nicht zu durchdringen noch zu verscheuchen; ich bin machtlos gegen die Wolke. Da müßtet ihr also zur Wolke gehen und sie zu eurem Schwiegersohne machen.« Das sahen die Ratten ein und gingen zur Wolke.

Als sie dieser ihr Anliegen vorgetragen hatten, da sprach die Wolke: »Ihr irrt, wenn ihr meint, daß ich das mächtigste Wesen bin. Wohl habe ich die Macht, die Sonne zu bedecken, aber ganz ohnmächtig bin ich gegen den Wind, und fängt der zu wehen an, so treibt er mich fort, reißt mich in Stücke und ich vermag nichts gegen ihn.« Da gingen denn die Ratten zum Winde und machten ihm den Vorschlag, ihre Tochter zu heiraten, die sie gern dem mächtigsten Wesen zur Frau geben wollten. Der Wind aber sagte: »Ihr seid im Irrthum; wohl habe ich Kraft, die Wolke zu verjagen, aber machtlos bin ich gegen die Mauer, die man errichtet, um mich zurückzuhalten; ich kann nicht hindurchblasen und ihr nichts anhaben, die Mauer ist viel stärker als ich.« Da zogen die Ratten wieder fort und kamen zur Mauer, der sie in gleicher Weise ihre Bitte vortrugen. Die Mauer jedoch entgegnete: »Wohl wahr, ich habe die Kraft, dem Winde zu widerstehen; aber da ist die Ratte, die untergräbt mich, bohrt sich in mich hinein und macht Löcher durch mich hindurch, ohne daß ich es hindern kann. Ich bin ohnmächtig gegen die Ratte. Viel besser thut ihr also, ihr nehmt die Ratte zu eurem Schwiegersohne, als daß ihr mich wählt!«

Da freuten sich die Ratten und sahen ein, daß die Mauer vollkommen recht hatte. Sie gingen heim und verheirateten ihr liebes Töchterlein an einen stattlichen Rattenjüngling. Und das haben sie nicht bereut, denn ihr Töchterlein lebte mit dem Manne aus ihrem eigenen Geschlecht vergnügt und glücklich und nicht minder zur Freude und Zufriedenheit ihrer Eltern, die so hoch mit ihr hinaus gewollt hatten.

Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885

Montag, 20. März 2017

Die goldene Spinne


Der kleine Karlmann war sehr still und hatte immer solche Sehnsucht. Wonach er Sehnsucht hatte, wußte er selber nicht, aber es tat recht weh. Oft besah er sich das Bild seiner Mutter, das in Vaters Studierstube über dem Schreibtisch hing. Sie hatte ein weißes Kleid an und einen grünen Kranz mit einem Schleier auf dem Kopfe und war sehr schön. Karlmann wußte, daß das Kleid ein Hochzeitskleid und der Kranz ein Brautkranz gewesen war. Und nun war sie schon so lange tot, fast so lange wie er lebte.

Manchmal stand er auch am Küchenfenster und sah über den Zaun weg auf die Straße. Da spielten die Kinder »es ging ein Bauer ins Holz« und andere Spiele. Karlmann sah gern zu, aber mitspielen mochte er nicht; die Kinder waren so heftig und laut und etschten ihn aus, weil er so still war. Nein, besser spielte es sich schon mit Mohr; der war gut und freute sich, wenn man ihn von der Kette losmachte und mit ihm um den großen Rasenplatz herumlief.

Am liebsten saß er aber drin bei der alten Nanna und ließ sich Geschichten erzählen; vom Feuermännchen und der Maus Grisegrau oder von der schönen Müllerstochter, die in den Mühlgraben gefallen war und den häßlichen Wasserbock mit dem grünen Barte heiraten mußte. Die allerschönste Geschichte aber war doch die von der goldnen Spinne, die ihre Fäden vom Himmel bis zur Erde spannte. Die Nanna hatte ihm gesagt, daß die goldne Spinne nur goldne Wespen essen könne, und daß sie im Frühjahr in der alten Eiche am Park wohne. Wer ihr eine goldne Wespe bringe, kriege den Himmel zu sehn, hatte sie gesagt. Da dachte der kleine Karlmann oft, wie er wohl der goldnen Spinne eine goldne Wespe bringen könne, aber es fiel ihm nichts ein.

Einmal lag er unter dem Fliederbusch an der Laube. Er hatte die Hände unter den Kopf gelegt und sah dem Luftballon zu, der weit oben im blauen Himmel stand. Das Schiffchen unten glänzte wie Silber, und wieder hatte der kleine Karlmann solche Sehnsucht. Er wäre gern da oben in dem Luftballon gewesen, hoch, hoch über den Bäumen und den Menschen. Der Lehrer hatte gesagt, die ganze Erde wäre nur eine große Kugel. Ob man das von oben sehen konnte? Oder ob man noch höher mußte? Bis an die Sonne, wo die goldne Spinne ihre Fäden festgebunden hatte?

Da flog eine Schwalbe hoch über ihn weg, und – pink – fiel etwas ins Gras. Als er sich aufrichtete und hinsah, war es eine goldne Wespe; da wußte er gleich, daß er die der goldnen Spinne bringen müsse, band sie in sein Taschentuch und ging zum Parke.

Da saß nun der kleine Karlmann und wartete auf die goldne Spinne. Er saß geduldig unter der alten Eiche und guckte sich die seltsamen krummen Äste an. Ja, das mußte wohl die Wundereiche sein! Ihm wurde ganz bange, und er legte sich in das frischgeschnittne Gras. Wie süß das roch, und wie wunderlich die Sonnenstrahlen aus den Zweigen ins Gras hüpften, blank! hopp, hopp, blink, blank! Ob wohl die Engel so tanzen konnten? Die Augen taten ihm weh vom bloßen Hinsehen, und er machte sie lieber zu. Da sah alles noch viel schöner aus! Die hunderttausend goldnen Blättchen und die rote Sonne und die weißen Sternblumen. Da saßen auch die bunten Papageien und der komische Pfefferfresser mit dem mächtigen rotgelben Schnabel und den prächtigen bunten Federn. Die waren gewiß aus dem Zoologischen Garten gekommen, um die goldne Spinne zu besuchen. Ja, und da war sie ja schon selber, die goldne Spinne! Der kleine Karlmann staunte, er hatte sie gar nicht kommen sehn! Und nun war da ein herrliches goldnes Netz, das spannte sich, soweit er sehen konnte, von Baum zu Baum, und ein Funkeln und Leuchten war um ihn her. Die goldne Spinne aber kam auf ihn zu, ließ noch immer neue Fäden aus ihrem Leibe wachsen und sang mit feiner Stimme:

Spinne spinnt im Sonnenschein
goldne Netze schleierfein;
goldne Fädchen, Sonnenfädchen,
für die Knaben, für die Mädchen;
spinnt sie ein,
spinnt sie ein,
spinnt die stillen Kinder ein.

Während sie das sang, hatte sie Karlmann mit den weichen goldnen Fäden ganz umsponnen; aber er fürchtete sich nicht, ihm war wie im allerschönsten Traum ganz wunderselig zu Sinn. Komm mir nach, sagte die goldne Spinne. Karlmann hatte nun ein Kleid von lauter Gold an und wunderte sich, wie leicht und geschickt er klettern konnte! Er nickte den Papageien und dem Pfefferfresser zu, die verwunderte Augen machten, und stieg der goldnen Spinne nach, hoch oben in die Spitze der alten Eiche. Wie ein grünes Meer lag der Park unter ihnen, denn der Eichbaum war höher als alle andern Bäume, viel höher; ja, was war denn das? Er wuchs noch immer höher, bis an die Wolken! Da lag das Haus seines Vaters, er erkannte es an dem Taubenschlag; da lag die Kirche und das Schulhaus, und alles war so putzig klein! Und der Kanal! wie eine silberne Schlange sah der aus!

Der Eichbaum wuchs noch immer. Tiefer und tiefer lag die Stadt unter ihnen. Zuletzt sah er nur noch helle und dunkle Flecke. Über die Berge sah er und über den Wald. Er sah, wie der Kanal in einen großen Fluß mündete, und wie der große Fluß weit, weit in das Land hineinging.

»Jetzt kommt unser Wagen,« sagte die goldne Spinne. Da hielt der kleine Luftballon, den Karlmann vorhin gesehen hatte, grade vor ihnen. Die Spinne spann ihn fest mit einem goldnen Faden, und sie stiegen in das silberne Schiffchen. »Nun sollst du auch sehen, wozu ich die goldne Wespe brauche,« sagte die Spinne. Dabei holte sie das Tierchen hervor und knüpfte zwei starke Fäden um seinen schlanken Hinterleib. Hui, flog die Wespe davon, und die große Spinne hatte ihr Pferdchen am Zügel. »Wenn wir zu Gott kommen, muß sie sterben, aber sie tut es gern, denn Gott wird sie küssen, und das ist das größte Glück,« sagte die goldne Spinne. »Sieh nur, wie die Erde immer kleiner wird, jetzt merkst du schon, daß sie eine Kugel ist, wie der Mond und die andern Sterne auch!«

Karlmann sah erstaunt hinunter. Nur Land und Wasser konnte er noch unterscheiden und die hohen Berge. Und immer weiter flog die Wespe mit dem silbernen Schiffchen, an dem Mond vorüber, der auch Berge und Meere hatte, und an tausend Sternen vorbei, großen und kleinen, roten und weißen, blauen und grünen.

»Wenn du jetzt nicht dein goldnes Kleid anhättest, müßtest du erfrieren; hier ist die Luft so dünn und kalt, daß kein Mensch drin leben kann,« erklärte die goldne Spinne, »bald aber sind wir im Garten der jungen Engel, da ist es warm, und da werden wir bleiben.«

Karlmann war noch stiller als sonst, aber er hatte gar keine Sehnsucht, er mußte nur immer und immer die funkelnden Sterne ansehen.

Endlich waren sie im Garten der jungen Engel. Ein großes Tuch aus weißem Sammet war zwischen vier Sternen ausgespannt. Bäume und Blumen wuchsen da, wie auf der Erde, nur viel höher und leuchtender. Durch die Büsche flogen seltsame, große Vögel. Dazwischen standen und saßen viele hundert Engel, die hatten Geigen oder Flöten in den Händen, einige lasen auch in Büchern. Alle hatten weißseidne Gewänder an und Sonnenstrahlen um den Kopf. In der Mitte stand ein großer Stuhl. Der war aus weißen Wolken gebaut, und vier große graue Adler saßen auf der Lehne. »Das ist der Thron des lieben Gottes,« sagte die goldne Spinne und ging mit Karlmann an den Engeln vorbei, die freundlich grüßten. Sie setzten sich an den Stufen vor Gottes Thron nieder, und die Spinne erzählte: »Heut ist Sonnwendfest, heut kommt Gott hierher und küßt die Seelen, die neu in den Himmel gekommen sind; dann werden sie selig und bekommen Flügel. Höre, die Engel machen schon Musik.«

Solche Musik hatte aber Karlmann noch nie gehört! Es klang wie das Rauschen von Bäumen und von Wasserfällen, wie das Summen von Käfern und von Grillen, dazwischen kamen lange Töne, als ob die Nachtigall riefe. Und alles war so feierlich, daß Karlmann kaum zu atmen wagte. Als er sich aber nach der goldnen Spinne umsah, mußte er die Augen zutun vor all dem Glanze! Wie die liebe Sonne selbst stand sie da, und auf ihrem funkelnden Netze kletterten die kleinen Engel auf und ab! Auf dem Throne aber saß ein großer schöner Mann mit weißem Bart und weißen schlanken Händen. Und alle Engel beugten sich vor ihm, und alle Engel küßte und segnete der liebe Gott, und alle bekamen Flügel und hatten selige Augen.

Die goldne Spinne aber hatte auf einmal das schöne Gesicht von seiner verstorbenen Mutter und hatte einen langen Schleier und einen Kranz auf dem Kopfe. Sie nahm Karlmann bei der Hand und führte ihn zu Gott. »Küsse ihn auch, Herr,« bat sie, »küsse ihm die böse Sehnsucht fort, daß er lustig wird wie die andern Kinder und im Sonnenlicht mit ihnen spielen kann.«

»Küssen will ich ihn wohl,« sagte der liebe Gott und zog Karlmann zu sich heran, »aber seine Sehnsucht kann ich ihm nicht wegküssen, die muß er behalten.« Und Gott küßte Karlmann auf die Stirn. Da brauste der Himmel; tausend Glocken läuteten, dem Kinde war, als fiele ein großes Feuer in sein Herz, er schluchzte laut vor Seligkeit und fiel auf die Knie.

Als er sich wieder aufrichten und Gott und seine schöne liebe Mutter noch einmal ansehen wollte, war es dunkel um ihn her; er fiel, die Sinne vergingen ihm fast, er fiel, lautlos und schnell fiel er durch die Nacht, immer tiefer, immer tiefer, bis er unten im Park auf der Erde lag. Es war an derselben Stelle, wo ihn die Spinne abgeholt hatte. Er stand auf und ging nach Hause. Nanna und Mohr standen vor der Tür und wollten ihn eben suchen gehen. Die Nanna meinte, er hätte geschlafen und geträumt, er wußte es aber besser.

Er blieb noch immer der stille, kleine Karlmann; aber wenn die Sonne durch die Zweige schimmerte, sah er die goldne Spinne, die die Augen seiner Mutter hatte, mitten in ihrem Strahlennetze sitzen, und die kleinen Engel daran auf- und niedersteigen. Und wenn die böse Sehnsucht kam und ihn quälen wollte, fühlte er Gottes Kuß auf der Stirn und das Feuer im Herzen, und dann tat dem kleinen Karlmann die böse Sehnsucht nicht mehr weh.

Paula Dehmel

Freitag, 17. März 2017

Die Liebe bei Mann und Frau

Das Weib wird wahnsinnig aus Liebe, der Mann aus Stolz. Beide moralischen Gifte wirken aber als Gegengift. Hat das Weib den erforderlichen Stolz, so raubt die Liebe ihr nicht den Verstand; verschwindet die Liebe nicht ganz aus dem Herzen des Mannes, so verfällt sein Verstand nicht der finstern Macht des Wahnsinns. man könnte auch wohl sagen, bei dem Weibe verdrängt die Vernunft gar leicht den verstand, bei dem Manne der Verstand die Vernunft. Die Entsetzungen beider Mächte aber haben die Verrücktheit zur Folge.

gefunden in:
Humoristische Blätter
No 26., 27. Junio 1839

Dienstag, 14. März 2017

Was das Schäfchen sagen darf und was nicht!


Ein junges Schaf lief an der Seite des Böckleins glücklich über die Wiese. Es schmiegte seine feuchte Schnauze dicht an die Nase seines Gefährten, und die Löcklein ihrer weichen, wolligen Felle kräuselten sich ineinander. Das gefiel dem Schäflein, das neben seiner Mutter graste.

»Frau Mutter, ich will auch heiraten,« sagte es, »heiraten ist ein schönes Ding!« Bedächtig sah das Schaf auf sein Junges.

»Wie man’s nimmt,« sagte es, »aber schön, oder nicht schön, ein wohlerzogenes Schäfchen sagt nie, daß es gerne heiraten möchte.«

»Frau Mutter, ich denke es aber!«

»Denke es so viel du willst, Schäfchen, aber sag es nicht Als ich jung war, wäre es keinem von uns eingefallen, vom Heiraten zu reden.«

»Aber geheiratet habt ihr doch alle.«

»Natürlich! Selbstverständlich! Aber das ist etwas anderes als davon reden.« Eine alte Ziege hatte zugehört.

»Die Jugend von heute ist überhaupt schamlos,« sagte sie. »Da habe ich neulich erleben müssen, daß zwei halbwüchsige Ziegen von ihren zukünftigen Jungen sprachen!«

»Ja, darf man das auch nicht?« fragte das Schäflein, »darum heiratet man ja eben, um Junge zu kriegen.«

»Schweig,« rief das Schaf erschrocken.

»Pst, pst, pst,« mahnte die Ziege.

»Ich kann nur etwas nicht begreifen,« fing das Schäfchen wieder an. »Neulich sagte ich, ich wollte nicht heiraten, es sei lustiger so, als wenn man sich ewig um seine Jungen kümmern müsse und nie springen könne, wohin man wolle. Da haben mich alle gescholten, und haben gesagt, das sei die Bestimmung eines Schafes, Mutter zu werden, und die Natur habe es so gewollt. Und der Herr Vater hat mir gesagt, ich sei ein ganz entartetes Lamm, und kein Böcklein werde mich je heiraten wollen, wenn ich eine solche Gesinnung hätte. Und jetzt werde ich wieder gescholten und habe nun doch die richtige Gesinnung.« Das Schäfchen mähte kläglich.

»Kind,« sagte die Alte, »es ist da ein Unterschied. Sagst du, du habest keine Luft zum Heiraten, es sei dir unbequem und du wollest deine Freiheit wahren, so fallen alle männlichen Schafe über dich her. Und sagst du, du möchtest gerne heiraten, die weiblichen. Sagst du aber, du freuest dich auf deine Jungen, so nennen dich die Mutterschafe schamlos, und sagst du, du hättest lieber keine, so schütteln alle die Köpfe, die männlichen und die weiblichen, die alten und die jungen. Darum, Schäfchen, sei klug! Schweig! Denken kannst du, was du willst!« Die alte Ziege nickte.

»Du hast eine kluge Mutter, » sagte sie. – Das Schäfchen beherzigte der Mutter Lehren.
»Dein Junges entwickelt sich prächtig,« sagten die Verwandten zu dem alten Schaf. »Es kann nicht fehlen, es wird sich bald verheiraten.« Bescheiden schwieg die Alte, und kaute an einem Gräslein.
Bald darauf verliebte sich das Schäflein. Und tüchtig. Da hatte es plötzlich alle Lehren seiner Mutter vergessen. Es sagte jedem offen, dass es sich entsetzlich auf das Heiraten freue, daß es mindestens ein Dutzend Junge haben möchte, und daß es nicht gewußt habe, wie lieb ein Böcklein sei. Es sagte das alles keck heraus und erwartete ungeheure Schelte. Aber es kam keine. Böcke und Schafe freuten sich über das naive Schäflein.

»Frau Mutter,« fragte es erstaunt, »wie kommt es, daß das, was ich sage, nun auf einmal nicht mehr unpassend ist?«

»Schäfchen,« sagte das alte Schaf, »das will ich dir sagen. Ehe man weiß, ob dich einer will, mußt du schweigen zu allen Dingen. Will dich aber einer, so darfst du von dem Augenblick an sagen, was du willst. Auch denken. Auch tun.«

»Ich will es mir merken, Frau Mutter,« sagte das junge Schaf und sprang lustig mit seinem Böcklein davon.



Lisa Wenger (1858 - 1941)
Amoralische Fabeln
Zürich, 1920

Sonntag, 12. März 2017

Zwey junge Männer

Zwey junge Männer linsten beyde
Tag für Tag, und Nacht für Nacht,
auf den Busen der Rosarot von Heyde,
den sie in jenem Sommer darbot
bei Sonnenlicht,
im Schein des Mondes,
die pralle Wölbung  zarter heller Haut,
glatt wie Kiesel, weich wie Träume,
und die Gedanken daran ließen sie nicht los.

Der eine Mann, der Friederich,
ein schmaler klein gebauter Flötenist
spielte nach Mitternacht
in jenem Sommer
sein Gedicht
von Liebe, Leid und viel Verlangen.
Er glaubte gar, ihr Seufzen ob der Worte aufzufangen.
Darob zufrieden, mehr traute er sich nicht.

Der andere Mann, zwei Meter hoch gewachsen,
mit Händen, groß, die Rosarot umfassen wollten
Reinobert war sein Name.

Er konnte nicht flöten.
Das Singen lag ihm nicht.
So nahm er die Geduld,
von der er eine Menge hatte
Ließ Friederich flöten
Und das Weib erweichen
Schlich der sich fort,
ließ er seine Hände Tango streichen.

Monika Detering

Freitag, 10. März 2017

Da beißt die Maus keinen Faden ab

Das Sprichwort »Da beißt die Maus keinen Faden ab«, soll zurückgehen auf eine alte Fabel von Äsop. Diese erzählt von einem Mäuschen, das über einen schlafenden Löwen lief, worauf der Löwe erwachte und es mit seinen gewaltigen Tatzen griff. Das Mäuschen flehte um sein Leben und versprach ewige Dankbarkeit dafür. Großmütig schenkte der Löwe ihr die Freiheit und dachte dabei, wie wohl ein Mäuschen einem Löwen dankbar sein könne. Bald darauf hörte das Mäuschen das fürchterliche Gebrüll des Löwen, lief nachsehen, und fand ihren Wohltäter in einem Netze gefangen. Es zernagte einige Knoten des Netzes, so daß der Löwe mit seinen Tatzen das übrige zerreißen konnte. So vergalt das Mäuschen die ihm erwiesene Großmut. Selbst unbedeutende Menschen können bisweilen Wohltaten großartig vergelten, darum sollte auch der Geringsten nicht übermütig behandelt werden.

Eine andere Erklärung könnte auch eine Legende um die heilige Gertrud von Nivelles (626 - 659) liefern. In manchen Darstellungen wird die heilige Gertrud mit Mäusen, manchmal auch mit einem Spinnrad dargestellt. Die Legende erzählt, dass sie durch ihr Gebet Mäuse vertrieb, die immer wieder den Faden beim Spinnen durchbissen haben. Die Spindel ist aber auch ein Symbol für den Lebensfaden und damit mythisches Erbe der germanischen »Nornen«, der Schicksalsgöttinnen, die am Lebensfaden der Menschen spinnen. Diesen Faden beißen in den alten Mythen Mäuse ab.

HDR

Mittwoch, 8. März 2017

Persische Fabel

Als der Hahn am Morgen schlief,
Nahm der Schakal in den Rachen
so ihn, daß er mußt’ erwachen,
Und der bange Wächter rief:

Was beginnst du, grauser Schlächter!
Wehe dem, der mich verlezt.
Denn mich hat der Herr gesetzt
Selb zu seines Hauses Wächter.

Stundenzähler ich der Nacht,
Und des Tages Lichtverkünder,
Schrecken bin ich bleicher Sünder;
Gib mich frey aus deiner Macht! –

Ich nicht werd’ es thun gewiß;
Denn der Morgen, den du weckest,
ist mein Feind, und die du schreckest,
Meine Freundin Finsterniß.

Wenn es ist dein Amt, zu wachen,
Schlafend hast du dich verdammt.
Meines ist ein andres Amt,
Und vollziehen soll’s mein Rachen.

Sage mir und laß mich wissen,
Wie du willst verschlungen seyn,
Ob in vielen Stücken klein,
Oder ganz auf Einen Bissen.

Friedrich Rückert (1788 - 1866)
Morgenblatt für gebildete Stände,
Nro. 165, Freitag, 11. Juli 1823

Sonntag, 5. März 2017

Der Schmied und der Teufel



Relief von der Kilianskirche (Emil Wachter) in Osterburken
Fotografiert mit Bilora Radix auf ORWO s/w Film (abgel. 1982)
Entwickelt mit Cafenol


Es war einmal ein Schmied, der lebte guter Dinge, verthat sein Geld, processirte viel und wie ein paar Jahr herum waren, hatte er keinen Heller mehr im Beutel. Was soll ich mich lang quälen auf der Welt, dachte er, ging hinaus in den Wald und wollt’ sich da an einen Baum hängen. Wie er eben den Hals in die Schlinge steckte, kam ein Mann hinter dem Baum hervor mit einem langen weißen Bart und einem großen Buch in der Hand. „Hör Schmied, sprach er, schreib deinen Namen da in das große Buch, so soll dirs wohlgehen zehn Jahre lang, aber darnach bist du mein, da hol ich Dich.“ – „Wer bist du?“ sprach der Schmied – „Ich bin der Teufel.“ – „Was kannst du“ – „Ich kann mich so groß machen als eine Tanne, und so klein als eine Maus“ – „So thus einmal, daß ichs sehe,“ sagte der Schmied, da machte sich der Teufel so groß wie eine Tanne und so klein wie eine Maus. „Es ist gut sprach der Schmied, gib das Buch her, ich will mich hineinschreiben“ – Als er sich unterschrieben sagte der Teufel: Geh nur nach Haus, du wirst Kisten und Kasten voll finden, und weil du keine lange Umstände gemacht hast, so will ich dich auch in der Zeit einmal besuchen. Der Schmied ging heim, da waren alle Taschen, Kasten und Kisten voll Ducaten, und er mogte soviel davon nehmen als er wollte, es ward nicht all, und auch nicht weniger; da fing er sein lustiges Leben von vorne an, lud seine Kameraden ein, und war der vergnügteste Kerl von der Welt. Ein paar Jahre darauf sprach der Teufel einmal bei ihm ein, als er verheißen, sah zu wie die Wirthschaft ging, und schenkte ihm beim Abschied einen ledernen Sack, wer da hinein sprang, der konnte nicht wieder heraus, bis ihn der Schmied selber wieder heraus holte; damit trieb dieser seinen Spaß. Nach den zehn Jahren aber kam der Teufel und sprach zum Schmiedt „die Zeit ist herum, jetzt bist du mein, mach dich reisefertig.“ „Es ist gut,“ sprach der Schmiedt, hing seinen ledernen Sack um den Rücken und ging mit dem Teufel fort; als sie in den Wald kamen, zu der Stelle wo er sich aufhängen wollte, sprach er zum Teufel: „ich muß auch gewiß wissen, daß du der Teufel bist, mach dich erst wieder so groß wie eine Tanne und so klein wie eine Maus.“ Der Teufel war bereit und thats, und wie er sich in eine Maus verwandelt hatte, packte ihn der Schmid und steckte ihn in den Sack, dann schnitt er sich einen Stock von dem nächsten Baum, warf den Sack hin und prügelte auf den Teufel los. Der Teufel schrie erbärmlich, lief in der Tasche hin und her, aber umsonst, er konnte nicht heraus. Endlich sagte der Schmied ich will dich loslassen, wenn du mir das Blatt aus deinem großen Buch wieder giebst, auf das ich meinen Namen geschrieben. Der Teufel wollte nicht, doch endlich mußt’ er daran, da ward das Blatt herausgerissen und der Teufel ging heim in die Hölle, ärgerte sich, daß er betrogen und obendrein geprügelt war.

Der Schmid ging auch wieder zu seiner Schmiede und lebte vergnügt fort, so lang Gott wollte, endlich ward er krank und als er seinen Tod merkte, befahl er, man sollte ihm nur zwei gute, lange, spitze Nägel und einen Hammer mit in den Sarg geben. Das geschah auch. Wie er nun gestorben war und vor die Himmelsthür kam, klopfte er an, aber der Apostel Petrus wollt ihm nicht aufschließen, weil er mit dem Teufel im Bund gelebt hätte. Wie der Schmied das hörte, dreht er sich um und ging zur Hölle. Der Teufel aber wollt ihn auch nicht einlassen, er begehre ihn nicht in der Hölle, da fange er doch nur Spectakel an. Der Schmied ward bös und hub an vor dem Höllenthor Lärmen zu machen, ein Teufelchen ward neugierig und wollte sehen, was der Schmidt treibe, also machte es ein wenig das Thor auf, guckte heraus, der Schmid aber packte es geschwind bei der Nase und nagelte es an dieser mit dem einen Nagel, den er bei sich hatte, an das Höllenthor fest. Das Teufelchen fing an zu kreischen wie ein Krautlöwe, da ward noch ein anderes an das Thor gelockt, das steckte auch den Kopf heraus, aber der Schmied war nicht faul, kriegte es am Ohr und nagelte es mit diesem neben das erste. Da fingen nun beide ein solches entsetzliches Geschrei an, daß der alte Teufel selber gelaufen kam, und wie er die zwei Teufelchen festgenagelt sah, ward er bitterbös, daß er vor Bosheit anfing zu weinen, herumsprang, in den Himmel zum lieben Gott lief, und sagte, er müsse den Schmied in den Himmel nehmen, es möge gehen, wie es wolle, der nagle ihm die Teufel alle an den Nasen und Ohren an, und er sey nicht mehr Herr in der Hölle. Wollte nun der liebe Gott und der Apostel Petrus den Teufel los werden, so mußten sie den Schmied in den Himmel nehmen, da sitzt er nun in guter Ruh, wie aber die beiden Teufelchen losgekommen, das weiß ich nicht.

Anm.: Schreibwiese "Schmied", die im Original uneinheitlich ist, wurde angepasst.

Brüder Grimm
Kinder- und Haus-Märchen Band 1, Große Ausgabe.
1. Auflage Berlin 1812

Freitag, 3. März 2017

Über Avianus

Man setze irrig voraus, daß Avianus in der Vorrede zu seinen Fabeln alle, bis auf seine Zeit lebende, Fabeldichter habe angeben wollen, und man legen den Umstand, daß er den Titianus übergangen habe, einem irrigen Grunde bei. Denn Avianus erwähne nur diejenigen Sammler von Fabeln, welche sie in Versen lieferten; deshalb habe er den Tizian, wenn dieser gleich älter als er selbst war, aber doch keine neue Fabeln verfertigt, sondern bloß (nach Aufoncy) die Aesopischen –  vielleicht durch Babrius in griechische Verse gebrachte – Fabeln in Prosa gebracht und ins Lateinische übersetzt hat, übergangen.

Wilhelm David Fuhrmann
Handbuch der Classischen Literatur der Römer
Rudolfstadt, 1809