Eine Fabel aus Japan
Einst lebte in der Nähe eines einsamen Gehöftes, das von Reisfeldern umgeben war, ein Rattenpaar, sehr geachtet von seines gleichen und in bestem Wohlstand. Diesen Ratten wurde unter vielen anderen Kindern einmal eine Tochter geboren, so niedlich und mit so glänzendem, grauem Felle versehen, mit so nett emporstehenden breiten Oehrchen und so leuchtenden Aeuglein, daß sie ganz außerordentlich stolz auf dies Töchterlein wurden und Tag aus, Tag ein nur daran dachten, wie sie ihm eine recht glänzende Zukunft bereiten sollten. Und als die kleine Ratte heranwuchs, da kamen ihre Eltern immer mehr darin überein, daß nur das mächtigste Wesen der ganzen Welt ihr Gemahl werden solle.
Als sie diese Angelegenheit einstmals mit einem Nachbar besprachen, sagte dieser: »Wenn ihr eure Tochter nur dem Mächtigsten zur Frau geben wollt, so müßt ihr die Sonne zu eurem Schwiegersohne ausersehen, denn ohne alle Frage ist der Sonne Niemand an Macht gleich.«
Das leuchtete dem Rattenpaare ein, und ohne Zögern machten sie sich auf den Weg zur Sonne und brachten ihr Anliegen vor, sie möchte ihr Töchterlein heiraten. Die Sonne aber erwiderte: »Zwar bin ich euch sehr verbunden, daß ihr euch so weit herbemüht habt und die freundliche Absicht hegt, mir eure vielgeliebte Tochter zur Frau zu geben; aber bitte, sagt mir, was für einen Grund habt ihr dafür, daß ihr gerade mich zum Schwiegersohne ausersehen habt?« Die Ratten sagten: »Wir möchten unsere Tochter gern dem mächtigsten Wesen der Welt zur Frau geben, und das bist ohne allen Widerstreit eben du. Darum haben wir dich zum Schwiegersohne erwählt.« Da sprach die Sonne: »Was ihr da sagt, ist wohl nicht ohne allen Grund, aber es giebt doch etwas, das mächtiger ist als ich. Dem müßtet ihr also euer Töchterchen zur Frau geben.« Die Ratten entgegneten: »Kann denn wirklich etwas mächtiger sein, als du?« Die Sonne aber sprach: »Wenn ich die Welt bescheinen will dann kommt gar oft eine Wolke herangezogen und deckt mich zu, und meine Strahlen vermögen sie nicht zu durchdringen noch zu verscheuchen; ich bin machtlos gegen die Wolke. Da müßtet ihr also zur Wolke gehen und sie zu eurem Schwiegersohne machen.« Das sahen die Ratten ein und gingen zur Wolke.
Als sie dieser ihr Anliegen vorgetragen hatten, da sprach die Wolke: »Ihr irrt, wenn ihr meint, daß ich das mächtigste Wesen bin. Wohl habe ich die Macht, die Sonne zu bedecken, aber ganz ohnmächtig bin ich gegen den Wind, und fängt der zu wehen an, so treibt er mich fort, reißt mich in Stücke und ich vermag nichts gegen ihn.« Da gingen denn die Ratten zum Winde und machten ihm den Vorschlag, ihre Tochter zu heiraten, die sie gern dem mächtigsten Wesen zur Frau geben wollten. Der Wind aber sagte: »Ihr seid im Irrthum; wohl habe ich Kraft, die Wolke zu verjagen, aber machtlos bin ich gegen die Mauer, die man errichtet, um mich zurückzuhalten; ich kann nicht hindurchblasen und ihr nichts anhaben, die Mauer ist viel stärker als ich.« Da zogen die Ratten wieder fort und kamen zur Mauer, der sie in gleicher Weise ihre Bitte vortrugen. Die Mauer jedoch entgegnete: »Wohl wahr, ich habe die Kraft, dem Winde zu widerstehen; aber da ist die Ratte, die untergräbt mich, bohrt sich in mich hinein und macht Löcher durch mich hindurch, ohne daß ich es hindern kann. Ich bin ohnmächtig gegen die Ratte. Viel besser thut ihr also, ihr nehmt die Ratte zu eurem Schwiegersohne, als daß ihr mich wählt!«
Da freuten sich die Ratten und sahen ein, daß die Mauer vollkommen recht hatte. Sie gingen heim und verheirateten ihr liebes Töchterlein an einen stattlichen Rattenjüngling. Und das haben sie nicht bereut, denn ihr Töchterlein lebte mit dem Manne aus ihrem eigenen Geschlecht vergnügt und glücklich und nicht minder zur Freude und Zufriedenheit ihrer Eltern, die so hoch mit ihr hinaus gewollt hatten.
Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885
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