Freitag, 31. August 2012

Wer war der Dieb?

Der Schakal und die Hyäne verdingten sich einst als Knechte bei demselben Herrn. Mitten in der Nacht stand der Schakal auf, bestrich den Schwanz der Hyäne mit ein wenig Fett, und aß dann alles übrige Fett auf, das er im Hause fand. Am Morgen vermißte der Mann sein Fett und beschuldigte sofort den Schakal, es verzehrt zu haben. „Guck nach dem Schwanz der Hyäne!“ sagte der Schelm, „dann wirst Du Sehen, wer der Dieb ist“. Das that der Mann und schlug die Hyäne halbtodt.

Dr. W. H. J. Bleek
aus: Reineke Fuchs in Afrika
Fabeln und Märchen der eingebornen
Weimar, 1870

Mittwoch, 29. August 2012

Normale Verhältnisse


Dass es »normale Verhältnisse« gibt, mag eine Fabel sein. Immerhin aber eine, auf die sich viele allzu gerne berufen. Insbesondere auf dem Lande soll es ja »ganz spezielle« normale Verhältnisse geben. Darüber habe ich ein Kriminalnovelle geschrieben, die seit dieser Woche im dotBooks-Verlag als E-Book erhältlich ist. Im Laufe des Septembers wird es auch in den anderen E-Book-Portalen zu haben sein (Amazon, Apple, Thalia, Buch.de etc.).

Horst-Dieter Radke

Montag, 27. August 2012

Der Wucherer

Ein Wuchrer kam in kurzer Zeit
Zu einem gräflichen Vermögen,
Nicht durch Betrug und Ungerechtigkeit,
Nein, er schwur es oft, allein durch Gottes Segen.
Und um sein dankbar Herz Gott an den Tag zu legen,
Und auch vielleicht aus heiligem Vertraun,
Gott zur Vergeltung zu bewegen,
Ließ er ein Hospital für arme Fromme baun.

Indem er nun den Bau zu Stande brachte,
Und vor dem Hause stand, und heimlich überdachte,
So sehr verdient er sich um Gott und Arme machte:
Ging ein verschmitzter Freund vorbey.
Der Geizhals, der gern haben wollte,
Daß dieser Freund das Haus bewundern sollte,
Fragt ihn mit freudigem Geschrey,
Obs groß genug für Arme sey?
Warum nicht? sprach der Freund, hier können viel Personen
Recht sehr bequem beysammen seyn;
Doch sollen alle die hier wohnen,
Die ihr habt arm gemacht: so ist es viel zu klein.


Christian Früchtegott Gellert

Freitag, 24. August 2012

Die Saiten auf der Geige


 
Die XVIII. Fabel

Ein so genanntes E, die Quinte wollt ich sagen,
Fieng immer an sich zu beklagen,
Als wiederführ ihm nicht genug Ehre.
Das A, sein Nachbar, hielt ihm ein:
Wenn ich an deiner Stelle wäre,
Ich würde gern zufrieden seyn.
Was geht dir denn noch ab? Du stehst ja obenan;
Du hast ja unter uns den Vorzug zu genießen.
Ach sprach das E, schon gut! Soll mich das nicht verdrießen?
Ich steh am meisten aus, und muß fast immer dran;
Ich sing auch unter euch den trefflichsten Discant;
und gleichwohl hat man nicht so viel auf mich gewandt,
Als auf das grobe G; ich soll es sehn und leiden?
Ein solcher schlechter Kerl läßt sich in Silber kleiden?
Verdient ers denn? o nein! ich wüßte wohl nicht, wie?
Man sollte mich mit Silber überspinnen;
Mit mir verlohnte sichs der Müh.
Du würdest, sprach das D, dabey nicht viel gewinnen.
Die Sach erfordert vielen Zwang;
Du bist zu schwach, du magst es ja nicht wagen;
Du bringst dich sonst um deinen Klang.
Ihr Naren! rief das E, das müßt ihr Kindern sagen;
Ich glaub es nicht, drum schweigt nur still.
Der Silberdrat hilft ja dem G den Klang vermehren:
Warum denn nicht auch mir? Ich lasse mirs nicht wehren,
Es mag auch gehen, wie es will.
Die Quinte bat nach diesem ihren Herrn,
Als er die Geige nahm, und wieder spielen wollte,
Daß er sie überspinnen sollte.
Ihr dürft euch, sagte sie, dawider gar nicht sperrn,
Es wird euch keinen schaden bringen,
ich werde desto schärfer klingen.
Der Schüler maß der Quinte Glauben bey,
Und ohne lange nachzusinnen,
Ob auch die Sache thulich sey,
Erfüllt er ihren Wunsch, und ließ sie überspinnen.
Er nahm sie nun, und zog sie wieder auf,
Die schöne Quinte! die! Sie sollte heller singen,
und gleichwohl hörte er sie, sechs Tone gröber klingen:
Was, sprach er, heißt denn das? Du mußt mir wohl hinauf!
Er meynt, es läg an ihm, weil er beständig noch
Auf ihr gethan Versprechen fußte;
Drum dreht er immer zu, und spann sie so hoch,
So daß sie gar zerspringen mußte.
***
Manch Narr will vornehm thun, und hat doch kein Geschicke,
Wer klug ist, fürchtet sich für übergroßem Glücke,
Weil Ansehn, Ehre, Stand und Pracht
Viel eher zwanzig grob, als einen höflich macht.


Neue Fabeln oder moralische Gedichte
Daniel Stoppe
1740/45

Dienstag, 21. August 2012

Der Weinstok und die andern Bäume


Zwei Fabeln

I.

„Dies elende Gestrippe unsre Nachbarschaft“? riefen einige Fruchtbäume, als dicht bei ihnen ein Weinstok eingesenkt ward. „Unfähig sich durch sich selbst empor zu halten, unfähig seinem Pflanzer den kleinsten Schutz gegen Sonnenstrahl und Hitze zu ertheilen, unfähig selbst dem geringsten Vogel zum Neste zu dienen – was soll er hier? Welche Frucht vermag er zu bringen?“
„Eine, die ihr nie vermögt! die an Feuer und Milde die eurigen alle beschämt! Wartet nur, ihr unseligen Schwätzer, bis zum nächsten Herbst; und die Götterfrucht der Traube wird euch alle mit Neid erfüllen.“
So strafte der Gärtner die murrenden Bäume, und seine Prophezeihung ward buchstäblich erfüllt.
Auf gleiche Art spottete oft die feine Weltgesellschaft des unscheinbaren R **, dessen Muse sie bald alle beschämte.

II.

Allein, so vortrefflich auch die Trauben des Weinstoks prangten, so beging doch dieser den gleichen unverzeihlichen Fehler, sich dessen zu überheben. Nicht genug, daß er stets und so laut als möglich der beschämten Bäume spottete; nicht genug, daß er immer den Vorfall mit dem Gärtner erzählte; er verlangte von diesem letztern auch, daß er alle die übrigen Bäume ausrotten, und den ganzen Raum mit Rebenstökken bepflanzen sollte.
„Vergiß nicht, erwiderte dieser, daß dein vorzüglicher Werth deshalb nicht jedes andern Verdienst ausschließt! Vergiß nicht, daß du doch nur vorzüglich zum Vergnügen und zum Trank an Festtagen, dieser ihre Früchte hingegen zum Nutzen und zur alltäglichen Kost erschaffen sind“
Des guten Dichters Kopf ist allerdings der ersten Köpfe einer. Doch daß es noch manche, ihm an Nutzbarkeit gleiche giebt, das wird er nicht läugnen, wenn er billig denkt.

Meißner

Samstag, 18. August 2012

Der Geier und der Falke


Zwei Vögel sagten eines Tages: »Wir wollen wetten. Wir wollen zu dem Land im Meere gehen,« sagten der Geier und der Traro (Falke). Da wetteten sie, wer wohl am längsten fliegen könnte.

Als sie sich nun aufmachten, da flog der Traro immer schnell voran. »Tu das doch nicht, Genosse,« sagte der Geier zum Traro. »Wie ein Pferd so lange halte ich aus,« sagte der Traro.

So kamen sie zu dem Land im Meere; dann kehrten sie um. Aber mitten im Meere wurde der Traro müde; der Geier aber kam in seine Heimat zurück.

Lenz, Rudolf
Aurakanische Märchen und Erzählungen
Valparaiso: Universo de Guillermo Helfmann, 1896

Freitag, 17. August 2012

Vom Luchs und dem Fuchs

Die zwanzigste Fabel

Es hat der luchs gar schöne har,
Uberall fleckecht ganz und gar,
Wie schöne blümlin fein gemalt;
Den reizt zu hoffart sein gestalt.
Er sprach: »Auf erden ist kein tier,
Das an schön werd vergleichet mir.«
Derhalb sich prechtig hielt der luchs.
Da kam zu im ein kluger fuchs,
Sprach: »Bruder, tu dich nicht erheben,
Laß ander tier auch bei dir leben,
Du bist es warlich nit allein:
Laß ander tierlin auch was sein.
Dein schönheit hastu in der haut,
Er ist ein narr, der darauf traut.
Ich aber bin geziert von innen
Mit list, verstand und klugen sinnen,
Die wolt ich für dein haut nicht geben,
Sie bringt dich doch zuletst umbs leben.«
Die güter, welch der mensche hat,
Sind nicht all gleich in einem grad.
Glück ist gut, wer damit begift,
Leiblich schönheit es übertrifft,
Doch ist des herzen schön und zier
Beßer denn ander gaben vier.
Die alten wünschten, daß in möcht bleiben
Ein verstendig gmüt in gsundem leibe.

Burkard Waldis: Esopus

Mittwoch, 15. August 2012

Vom Fuchs und dem Luchs


Quelle: Wikipedia – Urheber: 663highland

In einem loch da wont ein fuchs.
Zum selbigen kam einst ein luchs,
Hub an freundlich mit im zu schwatzen
Von zobeln, mardern, wilden katzen
Und andern tierlin, die man hegt,
Ir belg für belz und futer tregt,
Und sprach, wie under disen allen,
Die in dem wilden wald umbwallen,
Er selb allein der edelst wer
Und beßer denn all ander tier;
Und rümt die tugent seiner alten,
Wie adelich sie sich gehalten,
Sein eltern und all sein vorfarn
Groß tat getan in alten jarn,
Daß sie bilch auf der ganzen ert
Wern alles lobs und eren wert.
Da lacht der fuchs, sprach: »Lieber freund,
Wenn ichs nit wist und nit verstünd,
Wers doch dabei zu merken wol,
Daß dein eltern fast allzumal
Des jägers strick keinr ist entflohen,
Dem nicht sein haut sei abgezohen.
Ja, wer mir diß nicht glauben wil,
Sich dunken leßt, ich red zu vil,
Der schau beim kürsner auf die stangen,
Daselb ir vil beinander hangen.
Dabei mans auch geschrieben findt,
Wie redlich sie gewesen sind.«
Die fabel lert uns, daß wir söllen
Keinem großsprecher glauben stellen,
Denn sie oft liegen unbedacht.
Wenn sie es denn han übermacht,
Zuletst die tat ein überzeugt,
Daß er das merer teil erleugt.

Burkard Waldis: Esopus
Erster und zweiter Theil
Band 2, Leipzig 1882
    

Montag, 13. August 2012

Der Fuchs, der Spürhund und der Luchs

An meine Zöglinge.
Vor des Chroniden Thron erschienen
Der Fuchs, der Spürhund und der Luchs.
Sie baten ihn mit demuthsvollen Mienen
Um ein Gehör. Der Redner war der Fuchs:
Wir kennen, Herr, den Werth der hohen Gaben,
Die wir von deiner Huld empfangen haben;
Kein Adler hat den Blick, den sie dem Luchs verlieh;
Der Spürhund riecht das Wild auf viele hundert Schritte,
Und mich erhobst du zum Genie:
Indessen würden wir, und dieß ist unsre Bitte,
Doch alle drey noch weit vollkommner seyn,
Wenn jeden unter uns auch die Talente zierten,
Die du den andern gabst. Den Vorschlag geh ich ein,
Erwiederte Herr Zeus den Alliirten;
Doch will des Schicksals ernster Schluß,
Daß jeder seinem Freund von seinem eignen Pfunde
Ein gleiches Maas ersetzen muß,
Als er von ihm erhält. Mit frohem Munde
Und einem tiefen Knicks nahm das Triumvirat
Die Klausel an; und Zeus mit Schöpfersblicke
Bestätigte den Tauschtraktat:
Nun, sprach er, kehrt zur Brüderschaar zurücke,
Und sagt ihr, was der Vater der Geschicke
Für euern kühnen Ehrgeitz that.
Die Bande küßt entzückt dem Gotte die Sandale,
Und wie ein junger Arzt, der sich zum erstenmale
Dem Volk als Doktor zeigt, so steif, so naseweis
Drängt jeder sich in seiner Brüder Kreis
Und predigt seine mystische Geschichte.
Erstaunt vernahmen sie die prahlenden Berichte.
Doch ehe noch ein Tag verschlichen war,
Hieß es, der Fuchs ist vor den Kopf geschlagen,
Der Spürhund taugt nicht mehr zum Jagen,
Und Argus Luchs bekömmt den Staar.
Geliebte, die Ihr theils mit fröhlichem Getümmel
Wie holde Scherze mich umschwebt,
Theils weit von mir zerstreut, auch unter fremdem Himmel
Noch stets in meinem Herzen lebt!
Glaubt Eurem besten Freund auf Erden,
Wer alles werden will, wird nie was Rechtes werden.

Gottlieb Konrad Pfeffel
Poetische Versuche
Erster bis Dritter Theil, Band 3
Tübingen 1802

Freitag, 10. August 2012

Der Luchs und der Elephant

Verbreitungsgebiet des Eurasischen Luchs
Quelle: Wikipedia
Diese Datei ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe
unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert.    
Namensnennung:
IUCN Red List of Threatened Species,
species assessors and the authors of the spatial data.

Die 103. Fabel

Der Luchs kam zu dem Elephant,
Als der sich auf dem Thron befand,
Und bat, ihm einen Dienst zu schenken.
Er sprach: Ich bin behend und schlau.
Mein Auge wacht, und sieht genau.
Der Tapferkeit nicht zu gedenken.

Ich weiß es, sprach der Fürst, allein,
Es ist nicht gnug, verschmitzt zu seyn,
Gar scharf zu sehn, nach Müh zu streben.
Bezeug erst so viel Ehrlichkeit,
Als Fleis und Unverdrossenheit,
So soll dich auch mein Spruch erheben.

Daniel Wilhelm Triller
aus: Neue Fabeln und Erzählungen, nebst einer Vorrede
Leipzig und Bremen, 1752


Donnerstag, 9. August 2012

Der Palmbaum und der Luchs

Ein schön gefleckter Luchs legte sich, ermüdet von seiner Jagd unter einem etwas krumgewachsenen Palmbaum nieder, um in dessen Schatten der Ruhe zu genießen.
»Weg von mir, du Blutiger! rief der Baum ihm zu: Ich will meinen Schatten nicht durch einen solchen Grausamen entheiligt wissen.«
»Und solltest dir doch vielmehr Glück wünschen, hohnlachte der Luchs, daß ein Thier dich Krüppel mit seiner Gegenwart beehrt.«
»Mir Glück wünschen? Ha, wärest du so häßlich wie der Igel, du solltest mir willkommen seyn.«
*
Aber Schönheit bey boßhaftem Herzen ist jedem Redlichen ein zwiefacher Gräuel.

August Gottlieb Meissner
Wien, 1813

Dienstag, 7. August 2012

Der Luchs


Der Luchs rühmte sich vor allen Tieren seiner mittelmäßigen Kraft und seines starken Auges.

Ein Mann, der es hörte, antwortete ihm: »Du hast nur zuviel Aug' für deine mittelmäßige Kraft.« Der Luchs glaubte das nicht und sagte: »Mein starkes Auge ist bestimmt das, was ich bei der Mittelmäßigkeit meiner sonstigen Kraft vorzüglich bedarf zu ersetzen.«

Der Mann staunte einen Augenblick ob dieser Antwort und sagte dann: »Ich fühle, du sagst eine große Tierwahrheit; aber für die Menschen ist das Gleichgewicht der Kräfte der Probestein der Zuverlässigkeit.«

Johann Heinrich Pestalozzi

Sonntag, 5. August 2012

Vom Luchs


Fabel 34

Ein Luchs, der im Walde Obervisitator war, verlor einstmals durch ungesunde Feuchtigkeiten das eine Auge. Alle Tiere, insbesondere diejenigen, welche Handelsleute waren, erfreuten sich darüber, indem sie meinten, er werde nunmehr nicht so scharfsichtig wie zuvor sein. Aber der Fuchs sagte: Ihr törichten Kreaturen! ihr freut euch über euer eigenes Unglück; denn niemand unterscheidet und sieht richtiger, und gleichsam auf ein Haar, als ein Einäugiger.

Diesfalls sagt man im Sprichwort: Nimm dich vor demjenigen in Acht, der nur ein Auge hat.

Diese Fabel lehret, dass sich manche über gewisse Begebenheiten freuen, die ihnen hernach zum Schaden gereichen.

Ludvig Baron Holberg
13. Dezember 1684 in Bergen, Norwegen.
† 28. Januar 1754 in Kopenhagen.

Freitag, 3. August 2012

Die Fabel von Bär und Luchs


Den Bär begleitete ein Luchs als Jagdgefährte –
ein Bündnis, das sich bald aufs trefflichste bewährte.
Sie fingen eine Geiß. Der Bär zerlegt in Eile
die schöne Beute in zwei nicht ganz gleiche Teile:
hier lag ein Hinterbein und dort der Rumpf der Ziege.
»Schlecht abgemessen,« sprach der Bär; »doch diesmal kriege
ich wohl den größeren Teil, weil größer ist mein Magen,
das nächstemal darfst du zerteilen, was wir jagen.«
Der Luchs begnügte sich verdrossen mit dem Beine
und dachte: warte nur, ich kriege schon das Meine!

Am nächsten Tage fiel dem Paar ein Reh zur Beute.
Der Luchs zerlegte es – das war sein Recht für heute.
Wie tags zuvor der Bär, so riß er eine Keule
vom frischen Wildbret los und sprach: »Hier sind zwei Teile,
ich hab‘ mich gestern mit dem kleineren beschieden…«
»Schön,« sprach der Bär, »ich bin’s auch ferner so zufrieden« –
und fraß den Riesenteil. Der Luchs hat unterdessen
verdutzt und sprachlos auf dem Hintern dagesessen.

Was wundert sich der Luchs? – er hat wohl nie gesehen,
wie bei den Menschen oft Gesetz und Recht entstehen.

Theodor Etzel

Donnerstag, 2. August 2012

Der Lynx und der Maulwurf


nach La Motte

In jener goldnen Fabelzeit,
In unsrer Menschheit Kinderjahren,
Als der Sirenenlied, der Sphinxe Grausamkeit,
Und der Centaurenvolk, noch Ton und Sitte waren,
Lebt‘ auch der Lynx im Thiergebiet,
Ein Argus, dessen Späherblike
Durchdrangen jeder Mauer Dike,
Der schärfer als das Licht des Tages selber seiht,
Denn dieses kan ein dichter Nebel hemmen,
Und seinen Glanz ein Wolkenschleier dämmen.
Stark treibt diß Thier die Jägerei,
Auf Lauer ligend, weiß es in Gebüsch und Heken,
Die Zähne wezend, sich sehr künstlich zu versteken,
An List und Tüken ist es täglich neu.
Ein Maulwurf kroch von ungefehr
Einst neben ihm aus seinem Loche her.
„O Freund, sagt ihm der Lynx, wie bist du zu beklagen?
„Wie kannst du, armes Thier, des Lebens Bürde tragen?
„Blind bist du, dich hat Zeus vielleicht im Rausch gemacht!
„Für dich allein ließ er der Sonne Stral nicht glühen,
„Warum auf ewig dir das Tageslicht entziehen?
„Dein ganzes Leben ist nur eine lange Nacht.
„Sehr wol thust du, dich lebend zu vergraben,
„An dieser Welt kannst du doch keine Freude haben:
„Verschläng‘ ich dich – dir würd‘ es Wohltahat seyn!
„Verzeihen Sie, Herr Lynx, fiel ihm der Maulswurf ein,
„Ich freue mich, so gut als sie, zu leben,
„Hat Jupiter mich gleich zum lynxe nicht gemacht,
„Und hat er gleich an mir kein Meisterstük vollbracht,
„Ein feines Ohr hat er mir doch gegeben:
„Wol ist es ein paar Augen wehrt,
„Weil es so scharf du siehst, noch schärfer hört.
„Dein Adlerblik der fast auf eine Meile siehet
„Verräth dir nicht, was hinter dir geschiehet:
„Jedoch entdekt mir diß mein feines Ohr.
„Itzt wird, ich schwör‘ es dir, ein Bogen
„Von einem Jäger aufgezogen.
„Der Pfeil zischt durch die Luft, er dringt zu dir hervor.
Kaum hatte noch der Maulwurf ausgeredet,
So war der Argus schon durch diesen Pfeil getödet!

Vertheilt hat die Natur sehr klüglich ihre Gaben;
Denn sie gab einem alle nicht;
Kind, spotte dessen nie, dem dein Talent gebricht!
Nie wird der eine nichts, ein andrer alles haben.

Sittenlehre in Fabeln und Erzählungen für die Jugend
Mit Kupfern von J. R. Schellenberg
Nebst einer Abhandlung über die Frage:
Sind die Fabeln eine Uebung für Kinder, oder sind sie es nicht?
Winterthur, 1794

Mittwoch, 1. August 2012

Der Luchs in der Fabel

Der Luchs (Lynx lynx) wird gerne mit dem Fabelnamen Lynx angegeben. Allerdings taucht diese Bezeichnung in Fabeln eher selten auf, zumeist wird er dort auch »Luchs« genannt. Der Fabelname ist allerdings durchaus beliebt. Ganz abgesehen davon, dass es auch der wissenschaftliche Name ist, gibt es ein Sternbild dieses Namens, ein früher, textbasierter Webbrowser wurde Lynx genannt (entwickelt 1992 an der University of Kansas, bis heute noch gern im Unixumfeld genutzt), ein Betriebssystem aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderst wurde: LynxOS getauft und eine der ersten Handheld-Spielekonsolen von Atari trug den Namen Lynx. Der amerikanische Automobilhersteller Mercury taufte ein Modell Lynx von dem immerhin rund 600.000 Stück verkauft wurden. Und wo wir schon bei Automobilen sind: Ein britischer Hersteller trägt sogar diesen Namen. Leider gibt es auch einen Panzer, der mit diesem Namen versehen wurde, was mir gar nicht gefallen will und auch nicht zu passen scheint, denn der Luchs ist in der Natur ein bewegliches, leises und schnelles Tier. All dies scheint mir auf einen Panzer nicht unbedingt zuzutreffen.

Immerhin ist der Name beliebt und weil der Luchs in diesem Fabel-Blog bislang zu kurz gekommen ist, werde ich im August d.J. eine Reihe von Luchs-Fabeln posten.

Horst-Dieter Radke