Dienstag, 21. August 2012

Der Weinstok und die andern Bäume


Zwei Fabeln

I.

„Dies elende Gestrippe unsre Nachbarschaft“? riefen einige Fruchtbäume, als dicht bei ihnen ein Weinstok eingesenkt ward. „Unfähig sich durch sich selbst empor zu halten, unfähig seinem Pflanzer den kleinsten Schutz gegen Sonnenstrahl und Hitze zu ertheilen, unfähig selbst dem geringsten Vogel zum Neste zu dienen – was soll er hier? Welche Frucht vermag er zu bringen?“
„Eine, die ihr nie vermögt! die an Feuer und Milde die eurigen alle beschämt! Wartet nur, ihr unseligen Schwätzer, bis zum nächsten Herbst; und die Götterfrucht der Traube wird euch alle mit Neid erfüllen.“
So strafte der Gärtner die murrenden Bäume, und seine Prophezeihung ward buchstäblich erfüllt.
Auf gleiche Art spottete oft die feine Weltgesellschaft des unscheinbaren R **, dessen Muse sie bald alle beschämte.

II.

Allein, so vortrefflich auch die Trauben des Weinstoks prangten, so beging doch dieser den gleichen unverzeihlichen Fehler, sich dessen zu überheben. Nicht genug, daß er stets und so laut als möglich der beschämten Bäume spottete; nicht genug, daß er immer den Vorfall mit dem Gärtner erzählte; er verlangte von diesem letztern auch, daß er alle die übrigen Bäume ausrotten, und den ganzen Raum mit Rebenstökken bepflanzen sollte.
„Vergiß nicht, erwiderte dieser, daß dein vorzüglicher Werth deshalb nicht jedes andern Verdienst ausschließt! Vergiß nicht, daß du doch nur vorzüglich zum Vergnügen und zum Trank an Festtagen, dieser ihre Früchte hingegen zum Nutzen und zur alltäglichen Kost erschaffen sind“
Des guten Dichters Kopf ist allerdings der ersten Köpfe einer. Doch daß es noch manche, ihm an Nutzbarkeit gleiche giebt, das wird er nicht läugnen, wenn er billig denkt.

Meißner

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