Donnerstag, 19. März 2020

Das Traumkissen von Kantan

Eine chinesische Legende

Im Lande Schih lebte vor vielen hundert Jahren ein Mann mit Namen Ro-sei. Der studierte viel, forschte nach Wahrheit und Tugend, und da er bei diesem Forschen sein bisheriges Leben als nichtig und wertlos erkannte, beschloß er, sich von der Welt zurückzuziehen und ein gehorsamer Nachfolger Buddhas zu werden. Nach dessen Beispiel verkaufte er Hab und Gut, gab es den Armen und wanderte nach dem Berge Jo-hi, um dort bei einem gelehrten Mönche noch tiefer in die Lehre Buddhas einzudringen. Nach langer, mühevoller Wanderung erreichte er eines Abends das Dorf Kantan, die Hälfte seines Reiseweges. Da es schon spät war und alle Tore geschlossen, mußte er in einer verlassenen Herberge über Nacht bleiben. Er fand dort ein Kissen vor, legte es unter seinen Kopf und schlief ein. Als er erwachte, war blendender Sonnenschein um ihn. Ein Mann in reichgesticktem Gewande und mit großem Gefolge stand vor ihm, grüßte tief und fragte, ob er Ro-sei heiße und nach dem Berge Jo-hi im lande Ibara wandern wolle. Ro-sei bejahte dies, und der Mann sprach weiter: »Mich schickt der Kaiser von Ibara. Ich soll dich zu ihm geleiten, denn er will dem Throne entsagen. Du aber sollst sein Nachfolger werden.« Als Ro-sei erstaunt nach den Gründen dieser Wahl fragte, entgegnete der Gesandte:
»Mein Fürst hat dich als den Würdigsten erkannt, um sein Volk zu beherrschen, darum folge mir schnell. diese Sänfte hier soll dich zur Hauptstadt bringen.«
Verwirrt und überrascht tat Ro-sei, wie ihm der Bote geheißen, und wunderbar schnell gelangte er in den Palast des Kaisers, der so herrlich war, daß Ro-sei vermeinte, in den Himmel zu gelangen, wo der göttliche Tung-Wang-Kung mit seiner Gemahlin thront.
Die Böden des Hofes waren mit goldenem Sande bestreut, und aus vier Toren von Jaspis und Diamanten trat die Schar der Höfling in lichtstrahlenden Gewändern, drängte sich das Volk mit kostbaren Geschenken. Im Osten erhob sich ein Berg aus Silber mit einer goldenen Sonne darüber und im Westen einer aus Krystall über dem eine silberne Mondscheibe hing. Süße Musik ertönte und schöne Jungfrauen tanzten einen anmutigen Reigen.
Ro-sei stand in Verzückung, aus der ihn plötzlich eine Stimme erweckte. Ein Greis mit wallendem Silberhaar, im weißem Gewande, ließ sich vor ihm auf die Knie und bot ihm eine dunkelgrüne, glänzende Schalte mit einer wasserhellen Flüssigkeit. Er sprach:
»Du beherrschest die Welt und alle Völker gehorchen dir und wünschen, daß dein Leben noch tausend Lenze währe, darum biete ich dir diesen Trank.« Erstaunt fragte Ro-sei: »Was ist das für ein Trank?« Und der Greis erwiderte: »Es ist der Trank der Unsterblichkeit, wenn du ihn aus dieser Schale trinkst.«
Ro-sei fragte weiter: »Ist es die Schale oder der Trank, die dem Sterblichen solche Gabe verleiht?«
Der Greis belehrte ihn: »Nicht der Trank allein, auch nicht die Schale allein, sondern beide vereint schaffen den Trank der Unsterblichkeit. Die Schale ist aus Neghrit, dem kostbarsten und edelsten Gestein auf Erden, aus dem auch das Himmelsgebäude geformt ist. Sie ist ein  aus jenem Felsen, der neben der Burg des göttlichen Tung-Wang-Kung steht und dessen Innern ein Born entquillt, dessen Wasser, wenn es über die Blätter des Lebensbaumes Kiung fließt, einen Trank gibt, der das Menschenleben tausend Jahre dauern läßt. Kommt dieser Trank nun in diese Neghritschale, so verleiht er Unsterblichkeit und alle Gaben des Steines der Weisen.«
Ro-sei griff nach der Schale, doch ehe er sie fassen konnte, streckten sich Tausende von Händen begierig darnach aus, und jeder wurde sie entrissen, ehe sie eines Durstigen Lippen genetzt.
So kreiste die Schale von Hand zu Hand, aller Begehrlichkeit entfesselnd, keinem Labe bringend.
Und so kreisten die Zeiten im rasenden Fluge vorüber, Mittagssonne, Sternenflimmer und Mondschein, Frühlingsblühen, Sommerreifen, Herbsternte und Winterschnee. Schneller und schneller kreiste die Schale, schneller folgten sich Morgen, Mittag, Abend und Nacht, Keimen, Blühen, Reisen, Welken und Vergehen. Da griff Ro-sei nochmals nach der Schale. Sie entglitt seiner Hand und fiel zerbrochen zu Boden. Das Licht erlosch. Die gleißende Pracht versank, Kälte und Dunkel umgaben ihn. Er seufzte tief auf und erwachte. Langsam öffnete er die Augen und fand sich auf dem Kissen in der verlassenen Herberge liegend. Glanz und Macht waren dahin, die fünfzig Jahre seiner Herrschaft, »der kurze Traum einer Stunde, während im Topfe der Hirsebrei dampft.«
In tiefes Sinnen versunken, saß Ro-sei da und er ward sich bewußt, daß alles Leben das Gleiche lehrt. In der Todesstunde zerrinnt des längsten Lebens Glück und Genuß gleich einem Traum in nichts. In nichts zerrinnt des Herrschers Macht und Größe, in nichts des Helden Ruhm, des Ehrgeizigen Streben, des Reichen Besitz, des Armen Kummer, Sorge und Not. Eitel und vergänglich ist alles in dieser unsteten Welt. Kantans Kissen hatte ihm im Traum geoffenbart, daß das ganze Leben nur ein Traum ist.
Ro-sei lenkte seine Schritte heimwärts. Er hatte die Lehre des wahren Geistes erfaßt und brauchte die Weisungen des frommen Einsiedlers auf dem Berge nicht mehr.
Innsbrucker Nachrichten
30.12.197