Freitag, 29. Dezember 2017

Sieben Indische Sprüche

1.
Staub, der, mit dem Fuß getreten, auffährt und aufs Haupt dir steigt,
Ist dem Menschen vorzuziehen, der, beschimpft, sich ruhig zeigt.

3.
Wie Wind den Baum, den Lotus Frost, der Donnerkeil den Berg bedroht,
So leben vor dem Bösewicht die Guten, ach, in Angst und Noth.

12.
Den, welchem ohne eigens Mühn der Zufall etwas reicht,
Und den, der nichts beim Mühn erlangt, du findest sie nicht leicht.

51.
Gerieth ein Mensch in Mißgeschick, so kann ihm Leides thun ein Tropf.
Versank ein Elephant im Sumpf, so hüpft ein Frosch ihm auf den Kopf.

80.
Ein freundlich Wort, wenn Jemand zürnt, läßt seinen Zorn stracks höher wallen;
Das thun die Wassertropfen auch, wenn sie in heiße Butter fallen.

93.
Hüllt stets dich Armuth-Dunkel ein, dann wird bei hellem Tag sogar
Trotz aller Mühe Niemand dein, auch wenn du vor ihm stehst, gewahr.

109.
Das ist ein Wicht, der sich aus Furcht vor Schaden nichts zu thun getraut;
Stellt keiner doch das Essen ein aus Furcht, daß er es nicht verdaut.


aus: Indische Sprüche
Aus dem Sanskrit metrisch übersetzt von
Ludwig Fritze
Leipzig o.J. (ca. 1880)

Sonntag, 10. Dezember 2017

Die Weiberrevolution von Delft

Fabelhaft, wie unblutig eine Revolution ausgehen kann, besonders unter dem Gesichtspunkt, dass das erreicht wurde, was die Revolution bezweckte. Ob es daran gelegen haben mag, dass Frauen diese Revolution anfingen und bis zum Ende durchführten?


Ausführlich beschrieben wird dieser »Aufstand der Weiber« auf meiner Homepage.

Dienstag, 28. November 2017

Wintermärchen, gedruckt


Nun gibt es das »Wintermärchen« auch als gedrucktes Buch. Neben der Titelerzählung sind zwei weitere enthalten. Ein »Dieb« trifft in der Weihnachtszeit einen Jungen und diese Begegnung verändert sein Leben. In der »Antarktisverschwörung« ist Ruprecht verschwunden und keiner weiß wohin und warum. Bei der Suche nach ihm wird eine schreckliche Verschwörung aufgedeckt. Genau das richtige für alle Verschwörungstheoretiker und diejenigen, die es werden wollen.

Sonntag, 26. November 2017

Sagen und Legenden des Mittelalters


Bücher mit alten Sagen gibt es zu Hauf, meist kommentarlos zusammengestellt, manchmal mit einem erläuternden Vor- oder Nachwort. Dieses Sagenbuch ist anders. Die Sagen sind thematisch geordnet (Heldensagen - König Artus und Gralssagen - Sagen um Karl den Großen - Königs- und Kaisersagen - Rheinsagen - Burgensagen - Legenden), jede Gruppe wird eingeführt, jede einzelne Sage darüber hinaus noch durch Erläuterungen zu den Hintergründen kommentiert. Das Buch ist mit alten Abbildungen (s/w) illustriert und wird durch Farbtafeln auf Kunstdruckpapier ergänzt. All dies zu einem unschlagbaren Preis. Nicht nur als Geschenk geeignet, sondern auch zum selberlesen.

Freitag, 24. November 2017

Winterzeit - Vorlesezeit


Winterzeit ist Vorlesezeit und was bietet sich besser an, als ein echtes Wintermärchen.


Samstag, 18. November 2017

Die Schlange, die sich reiten lässt

Am Ufer eines Teiches in der Nähe einer Einsiedelei lag völlig regungslos eine alte Schlange, der es schwer fiel, Frösche zu erhaschen. Da kamen die Frösche bis auf respektvolle Entfernung heran und fragten; »Sag, warum frißest du uns nicht mehr wie sonst?« Die Schlange antwortete; »Ich kroch einem Frosche nach und biß in der Verwirrung einen Brahmanensohn in den Daumen. Er starb daran, und der Fluch seines Vater hat mich nun zum Reittier der Frösche bestimmt. Wie kann ich euch also fressen? Im Gegenteil, ich führe euch spazieren.« Als der Froschkönig dies gehört hatte, stieg er aus dem Wasser, denn er hätte gar zu gern das Reiten versucht; furchtlos kletterte er der Schlange auf den Rücken und war ganz außer sich vor Freude. Die Lust am Reiten machte ihn und seine Genossen ganz vertraulich. Eines Tages aber stellte sich die Schlange schwach und sagte heuchlerisch; »Ohne Nahrung, o König, kann ich nicht weiter geh’n; deshalb verschaff mir Speise! Wie kann ein Diener ohne Kost besteh’n?« Der Froschkönig, der ganz vernarrt ins Reiten war, versetzte drauf: »Nun, so friß eine bemessene Zahl von meinem Gefolge!« So fraß die Schlange nach und nach die Frösche nach Belieben auf, und der König, stolz umherreitend, merkte nichts und ließ es geschehen.

Indische Erzählungen
Aus dem Sanskrit zum erstenmal ins Deutsche übertragen
von Dr. Hans Schacht
Lausanne und Leipzig, 1918

Montag, 13. November 2017

Die Wunderharfe

Auf zwei hohen Bergen lebten einst in grauer Vorzeit zwei Eremiten (Yathay), die das Abkommen getroffen hatten, sich Lichter zu zeigen, um sich gegenseitig Kunde von ihrem Leben zu geben. Eines Nachts konnte der eine Eremit kein Licht auf dem andern Berge bemerken, und er schloß daraus, daß sein Freund das Zeitliche gesegnet habe und in den Stand der Dämonen (Nats) übergegangen sei. Bald darauf erhielt er auch einen Besuch von dessen Gespenst, und da er sich über die wilden Elephanten beklagte, welche ihn vielfach belästigten, eine Harfe zum Geschenk, durch deren Spielen er je nach der Melodie die Elephanten herbeiziehen oder vertreiben könne.

Eines Tages hörte er in der Wildniß das Gejammer eines Kindes, und als er darauf zuging, fand er, trostlos auf einem Baume sitzend, eine Königin mit einem Säugling im Arme. Sich im Hofe ihres Palastes sonnend, war sie durch den herbeischwirrenden Riesenvogel aufgepackt und aus dem Kreise ihrer jammernden Ehrendamen fortgeführt worden, um ihm in seinem Neste zur Speise zu dienen.

Der Eremit verbarg sie in seiner Einsiedelei und vermählte sich mit ihr; den königlichen Sohn, Oudinath, adoptirte er, mit der Wunderharfe ihn beschenkend. Einst im Dunkel der Nacht sah der Eremit einen der glänzendsten Sterne am Himmel sich plötzlich verdüstern und erkannte daraus, daß der große König, der Oudinath seinen Ursprung gegeben, sein Leben geendet habe, und der Sohn, davon hörend, beschließt in sein väterliches Reich zurückzukehren. Auf hohem Elephanten thronend, begleitet von den sämmtlichen Elephanten des Waldes, langt er vor den Thoren der Hauptstadt an, die er verschlossen findet, und das ganze Volk in Trauer, da dem Lande ein Herrscher fehlt. Durch die Wahrzeichen eines Ringes und Gürtels, welche seine Mutter ihm mitgegeben, wurde er als der Erbprinz erkannt und von den Edelleuten auf den Thron gehoben.

Zu jener Zeit erfüllte die Tochter eines Pana (Brahmanen) mit dem Rufe ihrer Schönheit die Reiche der Erde, und aus allen Gegenden strömten Bewerber um ihre Hand herbei, aber Niemand fand Gnade vor ihren Augen. Der Vater begegnete einst Myatzoa-Phaya (Buddha), und überwältigt von dem göttlichen Glanz seiner Herrlichkeit, dachte er in ihm einen passenden Schwiegersohn zu finden. Er bat ihn, in einem Hause zu warten, da er seine Tochter herbeibringen wollte, aber als er zurückkam, war sein Gast fortgegangen und hatte nur den Abdruck seines Fußes zurückgelassen. Die in der Kenntniß der Beden (Vedas) wohl unterrichtete Tochter erkannte aus den Figuren, daß es die Fußsohle des Gottes sei, und wurde von unbezwinglicher Sehnsucht ergriffen, sich ihm zu vermählen. Seinen Spuren nachgehend, holte sie Myatzoa-Phaya ein, dieser aber wies ihre Liebe zurück, da er auf dem Wege nach Baranasi (Benares) war, um dort den Thron zu besteigen, und Überfluß an Frauen ihn schon erwartete. Die verschmähte Schöne traf im Walde mit Oudinath zusammen, und jetzt weniger wählerisch geworden, erlaubte sie ihm, sie als seine Königin sich zur Seite zu setzen.

Nun geschah es, daß ein benachbarter König, der Oudinaths Zauberinstrument zu besitzen suchte, auf eine List sann, ihn in seine Gewalt zu bekommen. Er läßt die große Figur eines weißen Elephanten aus Holz verfertigen und mit Soldaten gefüllt in den Wald stellen. Als Jäger an Oudinath berichten, ein Thier höchster Vollkommenheit gesehen zu haben, zieht dieser aus, um dasselbe zu fangen. Aber zum ersten Male versagen die Töne der Harfe ihren Dienst. Statt zu folgen entfernt sich der Elephant, und Oudinath, überrascht und verwundert, verfolgt ihn so eifrig auf seinem Pferde, daß er bald von seinem Jagdgefolge getrennt ist. An einer versteckten Stelle des Waldes springen die Soldaten aus dem Bauche des Elephanten hervor und führen Oudinath als Gefangenen zum König. Dieser verlangt die Mittheilung seiner magischen Geheimnisse, kann aber die hartnäckige Verschwiegenheit Oudinaths nicht besiegen, da selbst Todesandrohungen fruchtlos, blieben. Zuletzt erbietet er sich, als Bedingung der Freiheit, ein Sklavenmädchen darin zu unterrichten; der König aber substituirt seine eigene Tochter, die er hinter einen Vorhang stellt und ihr sagt, daß sie von einem weisen Manne unterrichtet werden würde, der aber körperlich ein abschreckendes Scheusal und aussätzig sei. Als während des Unterrichtes Oudinath sie ausschilt, weil sie nicht rascher begreife, schmäht sie auf ihn als einen Aussätzigen zurück. In der Lebhaftigkeit des Zankes wird der Vorhang beiseite geschoben, Beide erblicken sich und verlieben sich sterblich in einander aus Wahlverwandtschaft, da sie schon in einer frühern Existenz Gatte und Gattin gewesen. Sie entwerfen einen Plan und theilen dem Könige mit, daß zur Ausführung der Zauberceremonien Blätter eines fremden Baumes nöthig seien. Darnach ausgeschickt, entläuft die Prinzessin, welche die Wachen des Gefangenen fortgesendet hat, mit ihm nach seinem Reich, und sie wurde ihm als die erste Königin vermählt. Die dadurch eifersüchtige Brahmanin benützt eine Abwesenheit des Königs, um eine zwischen Blumen versteckte Schlange auf den Thron zu stellen und die Königin des Verraths zu beschuldigen. Die Minister, welche die hervorzüngelnde Schlange sehen, erkennen sie für schuldig, und die Brahmanin, der sie zur Hut übergeben ist, verbrennt sie in einem durch Teppiche verhängten Hofe des Palastes.

Als der König bei seiner Rückkehr davon hörte und den Zusammenhang der Sache erfuhr, gerieth er in den größten Zorn. Er läßt das ganze Geschlecht der Pona herbeiholen, sie auf einem Felde eingraben und dann ihre Köpfe abpflügen. Für die Ponatochter selbst aber wird die grausamste Strafe ausgesonnen. In dem obersten Gemache des Palastes eingeschlossen, wird ihr jeden Tag ein kleines Stück ihres Fleisches abgeschnitten, vor ihren Augen in ein Ragout gemischt und ihr zum Essen eingezwängt, um die Pein zu verlängern; aber während dieser ganzen Zeit betet die Ponatochter täglich zu Myatzoa-Phaya, den sie durch ein kleines Loch aus dem Dache ihres Gefängnisses über sich am Firmament umherwandeln sieht. Daß die Ponatochter, obwohl sie so eifrig Myatzoa-Phaya verehrte, diese schmerzliche Strafe ausdulden mußte, war die Folge einer in früherer Existenz begangenen Sünde. Als sie einst aus dem Bade hervorkam, und der Tag etwas kühl war, machte sie sich Feuer an im Walde. Durch die zurückgebliebenen Kohlen entstand nach ihrem Fortgehen ein Waldbrand, und ein heiliger Rochanda, der, in Meditation versunken, im Walde saß, wäre fast verbrannt, wenn er nicht, durch die Fähigkeit zu fliegen, in die Höhe gestiegen und entkommen wäre.Di

Bastian, Adolf
Erzählungen und Fabeln aus Hinterindien
In: Globus, Juli 1866, S. 82-83

Sonntag, 6. August 2017

Großmuth eines wilden Indianers

Ein wilder Indianer, welcher sich auf der Jagd verirrt hatte, wendete sich zu einem englischen Kolonisten, den er vor seiner Hausthüre antraf. Er bath den Kolonisten zuerst um ein Stück Brod, und da er dieses von ihm nicht erhalten konnte, ersuchte er ihn um einen Trunk Bier oder Wasser. Allein der gesittete Kolonist schlug ihm beydes ab, und schalt ihn noch dazu einen indianischen Hund mit dem Zusatz: was er sich unterstehe, einen Mann wie er wäre, zu beunruhigen? – Einige Monate darnach kam der Kolonist in eben denselben Fall, worin der Indianer vorher gewesen war, da er mit seinen Freunden auf die Jagd ging, und sich verirrte. Er sah sich also genöthigt, einen Wilden, welchem er begegnete, um Beystand anzuflehen und zu bitten, ihm den Weg nach seinem Hause zu zeigen. Der Wilde sagte ihm: es sey zu spät, dahin zurückzukehren, und lud ihn ein, mit ihm nach seiner Hütte zu kommen. Der Kolonist nahm die Einladung an, und als er in der Hütte des Wilden angekommen war, setzte ihm dieser sogleich Wildpret und einige Erfrischungen vor, und bereitete ihm eine Haut, um darauf zu schlafen. Beym Anbruch des Tages unterließ der Indianer nicht, seinen Gast nach Hause zu begleiten. Als er ihn nun nach Haus gebracht, fragte er den Kolonisten: ob er sich nicht erinnern könne, ihn schon einmal gesehen zu haben? – Der Kolonist betrachtete auf diese Frage den Wilden etwas genauer, und erkannte in demselben eben den Indianer, dem er vor einiger Zeit Brod und Wasser abgeschlagen hatte. Mit großer Beschämung erkannte und bekannte er aber auch sein damaliges schlechtes Betragen. – Der Indianer machte ihm aber weiter keine Vorwürfe deßwegen, sondern wünschtr ihm alles Wohlergehen, und ging weg.

Gold und Silber
dargebracht in kleinen
Erzählungen, Anekdoten, Gedichten und Fabeln
für Knaben und Mädchen
von guter Erziehung
Herausgegeben von J. Ch. Birnbach
Wien, 1824

Freitag, 30. Juni 2017

Der Affe und der Geizige

Einst hielt ein Geiziger sich einen Affen.
Ein Geizhals seyn, und den sich anzuschaffen,
Das scheint dir sonderbar; allein bedenke doch:
Gesellschaft kostet Geld, und Menschen können stehlen.
Auch hat ein Affe die Tugend noch:
Sein Herr darf nicht vor ihm verhehlen;
Er darf vor seinen Augen zählen,
Kein Mensch erfährts, er stört ihn nie darin,
Kurz die Gesellschaft war nach unsers Kaspar Sinn.

Der Glockenschlag rief einst den Mann zur Kirche hin;
Denn durch sein Fasten, Bethen, Singen
Dacht' er dem Himmel noch mehr Gaben abzuzwingen;
Da ließ er in der Eil den Schreibpult offen stehen,
Wo ihn sein Äff, im Gold oft hatte wühlen sehn.
Der Affe, der den Haufen Gold erblicket,
Und den die lange Weile drücket,
Sinnt sich gar bald ein Spielchen aus.
Er fängt ein Goldstück an hervorzulangen,
Und zielt, und wirft es durch die Fensterstangen.
Er wiederholt sein Spiel. Man sammelt sich ums Haus,
Man ruft: "Wirf auch ein Stück, mein Plätzchen!" fängt und springt,
Und wem mit Hund und Hand ein Fang gelingt,
Dem jagte ein andrer wieder ab.

Indem der Affe noch dies Schauspiel gab,
Kam unser Harpat, – »Was ist hier zu sehn!
worüber lacht man dann? - O wehe mir!
Mein schönes Geld! Verfluchter Räuber dir
Will ich den Kopf vom Rümpfe drehen,
Das Eingeweide will ich dir
Aus deinem Leibe reißen" – – "Mäßigt eure Hitze"
Sprach hier ein Greis; "das Geld ist euch so wenig nütze,
Als ihm. Er wirft es weg; Ihr sperrt es ein,
Wer mag von euch der Klügste seyn?"

Vaterländische Unterhaltungen
Ein belehrendes und unterhaltendes Lesebuch zur
Bildung des Verstandes, Veredlung des Herzens,
Beförderung der Vaterlandsliebe und gemeinnütziger Kenntnisse
für die Jugend Österreichs
von Leopold Chimani
Vierter Teil
Wien 1815, Im Verlage bey Anton Doll

Mittwoch, 21. Juni 2017

Die Krähe und der Fuchs

Die Heumacher hatten auf der Wiese eine Heugabel aufrecht in den Boden gesteckt vergessen.

Es kam der Frühling. Eine Krähe fand die Gabel und baute zwischen deren Zinken ihr Nest. Der Fuchs sah es und dachte nach, wie er die Krähenjungen aus dem Nest herauskriegen könne. Er begann, der Krähe Furcht einzujagen: »Das ist meine Gabel. Gib mir ein Kind aus dem Neste heraus. Gibst du es nicht, so hau ich die Gabelstange nieder!«

Die Krähe gab aber das Kind nicht her. Da ging der Fuchs unters Nest und schlug mit dem Schwanz an die Gabelstange. Die Krähe sah das und dachte: »Jetzt haut der Fuchs die Stange nieder und brennt sie mit Feuer!« Sie nahm ein Kind und warf es dem Fuchse hinunter. Auf diese Weise lockte ihr der Fuchs drei Kinder ab.

Endlich merkte die Krähe den Betrug und gab ihm keine Kinder mehr. Der Fuchs beschloß, die Krähe dafür umzubringen. Er legte sich in der Nähe des Krähennestes nieder und stellte sich tot. Auf solche Weise lag der Fuchs zwei Wochen lang an ein und derselben Stelle hingestreckt, so daß ihm auf der einen Seite schon die Haare ausgingen.

Jetzt erst kam die Krähe, um dem Fuchse die Augen auszuhacken. Da sprang der Fuchs vom Boden auf und zerriß die Krähe.

August von Löwis of Menar
Finnische und estnische Volksmärchen
Jena, 1922

Freitag, 19. Mai 2017

Der arme Taglöhner und der Tod


Ein armer Taglöhner schleppte sich die Tage seines Lebens jämmerlich fort, und doch legte er achtzig Jahre zurücke. Was er sich immer seufzend wünschte, war nichts anderes als: Lieber Tod, komm doch endlich einmal!
– Erlöse mich doc h endlich, lieber Tod!
Der Tod erhörte ihn, und kam.
Der Taglöhner erschrack, und bath: nur drey Jahre noch, lieber Tod! – – lieber Tod, nur drey Jahre noch.
Nach dreyen Jahren kam der Tod wieder, und der arme Taglöhne bath wiederum um drey Jahre.
Je nun, sagte endlich der Tod. Ihr Menschen rufet mich, wenn ihr mich nicht sehet, und wenn ich komme, so fürchtet ihr mich. Ich will euch hinfür von ohngefähr überfallen.
Von dieser Stunde an sterben die Menschen, wenn sie es am mindesten vermuthen.

Heinrich Braun
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Johann Nepomu, Fritz
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Montag, 15. Mai 2017

Der Wanderer und der Tiger

Einst ging ich im Dakschinawald,
Da sah ich einen Tiger bald
Der, gebadet, mit Kusagras in der Hand
Lauernd sass an des heiligen Teiches Rand.
»He da, ihr Wandrer! rief er laut,
»Wer will dies goldne Armband, schaut!«
Die Rede vernehmend, von Furcht bestrickt,
Sich mancher schnell von der Seite drückt.
Doch von der Habgier angefacht
Ein Wandrer also bei sich dacht’:
»Hätt’ ich’s, es wär’ ein Glück, fürwahr, –
»Und doch – was soll ich in  die Gefahr
»Mich blindlings stürzen?… Wie heisst es doch?
»Erwünschtes bei Verwünschten sehn und holen ist nicht angenehm;
»So ist ja selbst gemischt mit Gift der Göttertrank ein tödtlich Gift.
»Doch beim Erwerb ist auf der Welt
»Auch überall Gefahr bestellt:
»Der die Gefahr nicht wagt, der Mann erschaut im Leben nie das Glück,
»Doch wagt er die Gefahr und bleibt am Leben, schaut er auch das Glück.
»So will ich’s wagen!« Drauf sprach er keck:
»Wo ist denn nun dein Armbesteck?«
Der streckt die Tatze aus und lässt’s ihn schaun. –
Der Wandrer spricht: »wie mach’ ich’s nur
»Dir, dem leibhaft’gen Tode, zu vertraun?«
Der Tiger spricht: »o Wandrer, höre nur!
Vordem, im Jugendalter, war
Ich überschlimm, das ist schon wahr;
Doch bei all dem Morden von Menschen und Thieren
Must’ ich Kinder und Weib durch den Tod verlieren,
Und wurde der ganzen Familie beraubt.
Da trat mich einer mit der Mahnung an:
»Gieb Armen und fang frommen Wandel an!«
Auf seinen Rath nun bin ich alter Gauch,
Zahnlos und klauelos, ergeben frommem Brauch.
Wie sollte mir man nicht vertrauen! Ei,
Ich bin so sehr von aller Habgier frei,
Dass ich dies goldne Band in meiner Hand
Dem Ersten, Besten wünsche zu verehren.
Du bist sehr arm. Ich will es dir bescheeren.
Hast du nur erst in diesem Teich gebadet,
Dann nimm das goldne Armband unbeschadet!«
Sobald nun der nach jenem Wort vergnügt
Mit Gier zum Bad sich nach dem Teich verfügt,
Da sank er plötzlich tief bis an den Rumpf,
Unfähig zu entfliehen, ein im Sumpf –
Den in dem Sumpf versunk’nen sah
Der Tiger nun und sprach: »haha!
»Du sinkst wohl gar im Sumpfe ein!
»Nun wart’, ich will dich gleich befrein.« –
Nachdem der Tiger so gesprochen,
Kommt langsam er herangekrochen
Und dinget auf den Wandrer ein.
Dem fällt der weise Spruch noch ein:

Nicht des Gesetzbuchs Kunde nützet, dies ist
Ganz klar, auch nicht die heil’ge Schrift dem Bösen; –
So fest gewurzelt ist ein Eigenwesen
Wie von Natur die Milch der Kühe süss ist.

So hab’ auch ich nicht wohl gethan
Dem Mordthier mich so fromm zu nah’n…
Noch bedacht’ er so, da ward er schon zerfleischt
Und von dem Tiger alsobald verspeist.

Ausgewählte Fabeln
des Hitopadesa,
im Urtexte nebst metrischer deutscher Uebersetzung
von
August Boltz
Offenbach a.M. 1868

Montag, 8. Mai 2017

Die Fabel von der Zecke

Gib mir dein Blut, sagte die Zecke und biss sich in den Igel. Dem war das unangenehm, aber er kam nicht an den Blutsauger heran. Seine eigenen Stacheln verhinderten dies. Als sie vollgesogen war, ließ sich die Zecke erleichtert fallen, um gleich darauf von einem Raben aufgepickt zu werden. Igel und Rabe freuten sich beide; der eine, weil er die Zecke los war, der andere, weil er sie hatte.

Horst-Dieter Radke

Freitag, 28. April 2017

Zeus und der Esel

Bist du mit deinem Stande zufrieden, sagte Zeus zu dem Esel.

Immer zufrieden, antwortete der Esel, immer will ich gerne ein Esel seyn, laß mir nur die Gabe der Unwissenheit bey meinem Stande, damit ich es nicht weiß, daß ich ein Esel bin.

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Mittwoch, 19. April 2017

Ein Mann besaß einen Wolfsgürtel

Ein Mann besaß einen Wolfsgürtel, d.h. er hatte die Fähigkeit, sich in einen Wolf (Wehrwolf) zu verwandeln. Einst veranstalteten die Jäger eine Fuchsjagd und hatten ein todtes Pferd als Köder für den Fuchs in den Wald gelegt. Der Wehrwolf begab sich dahin und fraß von dem Pferde. Dabei wurde er von den Jägern überrascht und angeschossen. Er entfloh, und als man in das Haus des Mannes trat, der im Verdacht stand, ein Wehrwolf zu sein, fand man ihn im Bette mit der Schußwunde.

Karl Bartsch
Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2
Band 1
Wien 1879/80

Sonntag, 16. April 2017

Wie das Schaf den Wolf fängt

Vor langer Zeit, als die Gegend bei dem Dorfe Eichel am Main noch mit Wald bedeckt war, kam ein Mann mit einem Schafe zu der Wallfahrtskapelle »Maria zur Eiche«. Er band das Schaf an die Kirchentür und ging hinein, sein gebet zu verrichten. Mittlerweile kam aus dem Wald ein Wolf, um das Schaf zu rauben. Dieses riß sich aber los und sprang in die Kirche, der Wolf ihm nach. Da lief das Schaf zur Tür zurück, faßte mit dem Maul den Strick, der an der Tür hängen geblieben war und riß die Tür zu. Der Wolf war nun eingesperrt und wurde getötet.

Karl Hofmann

Dienstag, 11. April 2017

Der Basilisk zu Memmingen

Melchior Lorck: "Basilischus" (Basilisk), Radierung 42 x 62 mm, aus dem Jahr 1548
Bildquelle: Wikimedia

An ama Haus henter'm Engel z'Memmenga sieht mã an geala Basilischka mit era fuirothe Zonga. – Dau haut mã amaul d'Magd in Keller na g'schickt und haut g'wahtet und g'wahtet, aber s'ischt koĩ Magd meh rauf komma. Do haut mã eppen andersch na g'schickt, aber s'ischt wieder nemad rauf komma, denn sobald's der Basilischk angucket haut send se g'schtorba. Am End gaut oiner her, nemmt an Schpiegel und laut da Basilischka neĩ gucka, und sobald se der sell drenn g'sẽ a haut, ischt er uf der Schtell verreckt. –
Wenn a Gockeler reacht alt wird, so legt er an Oi, bruatets aus, und us dem wird denn a Basilischk.

Alexander Schöppner
Sagenbuch der Bayer. Lande
München 1852–1853

Montag, 3. April 2017

Das Rebhuhn

Talus oder Pardix, des Dädalus Schwester Sohn, erlernte bei seinem Vetter die Bildhauerkunst. Als ein denkender Kopf erfand er die Töpferscheibe, die Säge, das Drechseleisen, den Zirkel und andere nützliche Dinge. Dädalus, welcher fürchtete, Talus möchte es ihm dereinst an Ruhme weit zuvor tun, stürzte ihn aus Neid von Minvervens heiliger Burg, von dem Schlosse zu Athen, herab, vorgebend, daß er von selbst gefallen.

Doch Pallas, dem Genie hold, fing ihn auf, machte ihn zu einem Vogel und umhüllte ihn mitten in den Lüften mit Gefieder. Seines Geistes Kraft und Schnelligkeit ging in Flügel und Füße über; sein Name aber blieb der vorige. Jedoch steigt dieser Vogel niemals hoch, noch nistet er auf Bäumen in hohen Wipfeln. Er fliegt immer nahe am Boden hin und legt seine Eier in niedere Hecken. Seines alten Falles eingedenk, fürchtet er die Höhe.

Johann Gottfried Hanisch
Mythologische Fabellese.
Ein Nachtrag zu einer jeden Naturgeschichte.
Hildburghausen, 1796

Samstag, 25. März 2017

Die beiden Frösche

Eine Fabel aus Japan

Es waren einmal zwei Frösche, von denen der eine ganz nahe bei der Küstenstadt Osaka in einem Graben, der andere dicht bei der schönen Hauptstadt Kioto in einem klaren Bache wohnte. Beide kamen auf den Gedanken, eine Reise zu machen, und zwar wollte der Frosch, der in Kioto wohnte, sich einmal Osaka ansehen, und der andere, der in Osaka wohnte, hatte Sehnsucht, die Kaiserstadt Kioto, wo der Mikado residirte, zu besuchen. Ohne daß sie sich kannten oder auch nur von einander gehört hatten, machten sie sich daher beide zu derselben Stunde auf den Weg und begannen ihre mühsame Wanderung. Die Reise ging nur langsam von Statten, denn ein Berg, dessen Höhe die Hälfte des Weges war, mußte überschritten werden, und diesen Berg zu erklimmen, war für die Frösche ein mühsames Stück Arbeit. Doch endlich war die Spitze erreicht, und siehe da, beide trafen sich, glotzten sich im ersten Augenblick einander an und fingen dann an, sich zu unterhalten. Als nun einer dem andern den Beweggrund seiner Reise mittheilte, da lachten sie beide vor Vergnügen, setzten sich zusammen in das hohe Gras und beschlossen, erst ein wenig auszuruhen, ehe sie sich trennten. »Wenn wir nur größere Thiere wären,« sprach der eine, »dann könnten wir von hieraus beide Städte sehen und könnten schon jetzt beurtheilen, ob es sich der Mühe verlohnt, noch weiter zu wandern.« »O, dem ist abzuhelfen,« entgegnete der zweite, »wenn wir das Ziel unserer Reise von hier aus sehen wollen, so können wir uns an einander aufrichten, und jeder blickt nach der Stadt hin, die er noch nicht kennt.« Dieser Vorschlag leuchtete dem anderen Frosche gewaltig ein, und gesagt, gethan, die beiden kleinen Kerlchen stellten sich auf ihre langen Hinterfüße und hielten sich mit den Armen umschlungen, damit sie nicht umfielen. Der Frosch, welcher aus Kioto kam, richtete seine Nase nach Osaka zu, und der, welcher aus Osaka kam, wandte die seine nach Kioto. Und so standen sie da, ganz steif, still und versunken in ihre Betrachtungen. Nun hatten die dummen Frösche aber gar nicht bedacht, daß ihre großen Augen, wenn sie den Kopf so hoch in die Luft reckten, wie sie es thaten, auf dem Rücken lagen und nach rückwärts blickten, und daß sie daher beide ihre eigene Heimat und die Stadt, von der sie ausgezogen waren, zu Gesicht bekamen. »Ach, was sehe ich?« rief der Frosch aus Osaka, »was sehe ich? Kioto sieht ganz so aus, wie Osaka; ich kann mir den Weg dahin ersparen!« Und ganz dasselbe sagte der Frosch aus Kioto, und wie beide zu dieser Erkenntniß gekommen waren, da ließen sie einander los, und plumps! fielen sie in das Gras. Dann machten sich die beiden Frösche eine Verbeugung, sagten einander Lebewohl und wanderten heim. Bis an ihr Lebensende haben sie geglaubt, daß die Städte Kioto und Osaka, die doch so grundverschieden sind, einander so ähnlich wären, wie ein Ei dem andern, und nie haben sie ihren Irrthum, der aus ihrer Dummheit entsprang, eingesehen.

Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885

Donnerstag, 23. März 2017

Die Ratten und ihr Töchterlein

Eine Fabel aus Japan

Einst lebte in der Nähe eines einsamen Gehöftes, das von Reisfeldern umgeben war, ein Rattenpaar, sehr geachtet von seines gleichen und in bestem Wohlstand. Diesen Ratten wurde unter vielen anderen Kindern einmal eine Tochter geboren, so niedlich und mit so glänzendem, grauem Felle versehen, mit so nett emporstehenden breiten Oehrchen und so leuchtenden Aeuglein, daß sie ganz außerordentlich stolz auf dies Töchterlein wurden und Tag aus, Tag ein nur daran dachten, wie sie ihm eine recht glänzende Zukunft bereiten sollten. Und als die kleine Ratte heranwuchs, da kamen ihre Eltern immer mehr darin überein, daß nur das mächtigste Wesen der ganzen Welt ihr Gemahl werden solle.

Als sie diese Angelegenheit einstmals mit einem Nachbar besprachen, sagte dieser: »Wenn ihr eure Tochter nur dem Mächtigsten zur Frau geben wollt, so müßt ihr die Sonne zu eurem Schwiegersohne ausersehen, denn ohne alle Frage ist der Sonne Niemand an Macht gleich.«

Das leuchtete dem Rattenpaare ein, und ohne Zögern machten sie sich auf den Weg zur Sonne und brachten ihr Anliegen vor, sie möchte ihr Töchterlein heiraten. Die Sonne aber erwiderte: »Zwar bin ich euch sehr verbunden, daß ihr euch so weit herbemüht habt und die freundliche Absicht hegt, mir eure vielgeliebte Tochter zur Frau zu geben; aber bitte, sagt mir, was für einen Grund habt ihr dafür, daß ihr gerade mich zum Schwiegersohne ausersehen habt?« Die Ratten sagten: »Wir möchten unsere Tochter gern dem mächtigsten Wesen der Welt zur Frau geben, und das bist ohne allen Widerstreit eben du. Darum haben wir dich zum Schwiegersohne erwählt.« Da sprach die Sonne: »Was ihr da sagt, ist wohl nicht ohne allen Grund, aber es giebt doch etwas, das mächtiger ist als ich. Dem müßtet ihr also euer Töchterchen zur Frau geben.« Die Ratten entgegneten: »Kann denn wirklich etwas mächtiger sein, als du?« Die Sonne aber sprach: »Wenn ich die Welt bescheinen will dann kommt gar oft eine Wolke herangezogen und deckt mich zu, und meine Strahlen vermögen sie nicht zu durchdringen noch zu verscheuchen; ich bin machtlos gegen die Wolke. Da müßtet ihr also zur Wolke gehen und sie zu eurem Schwiegersohne machen.« Das sahen die Ratten ein und gingen zur Wolke.

Als sie dieser ihr Anliegen vorgetragen hatten, da sprach die Wolke: »Ihr irrt, wenn ihr meint, daß ich das mächtigste Wesen bin. Wohl habe ich die Macht, die Sonne zu bedecken, aber ganz ohnmächtig bin ich gegen den Wind, und fängt der zu wehen an, so treibt er mich fort, reißt mich in Stücke und ich vermag nichts gegen ihn.« Da gingen denn die Ratten zum Winde und machten ihm den Vorschlag, ihre Tochter zu heiraten, die sie gern dem mächtigsten Wesen zur Frau geben wollten. Der Wind aber sagte: »Ihr seid im Irrthum; wohl habe ich Kraft, die Wolke zu verjagen, aber machtlos bin ich gegen die Mauer, die man errichtet, um mich zurückzuhalten; ich kann nicht hindurchblasen und ihr nichts anhaben, die Mauer ist viel stärker als ich.« Da zogen die Ratten wieder fort und kamen zur Mauer, der sie in gleicher Weise ihre Bitte vortrugen. Die Mauer jedoch entgegnete: »Wohl wahr, ich habe die Kraft, dem Winde zu widerstehen; aber da ist die Ratte, die untergräbt mich, bohrt sich in mich hinein und macht Löcher durch mich hindurch, ohne daß ich es hindern kann. Ich bin ohnmächtig gegen die Ratte. Viel besser thut ihr also, ihr nehmt die Ratte zu eurem Schwiegersohne, als daß ihr mich wählt!«

Da freuten sich die Ratten und sahen ein, daß die Mauer vollkommen recht hatte. Sie gingen heim und verheirateten ihr liebes Töchterlein an einen stattlichen Rattenjüngling. Und das haben sie nicht bereut, denn ihr Töchterlein lebte mit dem Manne aus ihrem eigenen Geschlecht vergnügt und glücklich und nicht minder zur Freude und Zufriedenheit ihrer Eltern, die so hoch mit ihr hinaus gewollt hatten.

Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885

Montag, 20. März 2017

Die goldene Spinne


Der kleine Karlmann war sehr still und hatte immer solche Sehnsucht. Wonach er Sehnsucht hatte, wußte er selber nicht, aber es tat recht weh. Oft besah er sich das Bild seiner Mutter, das in Vaters Studierstube über dem Schreibtisch hing. Sie hatte ein weißes Kleid an und einen grünen Kranz mit einem Schleier auf dem Kopfe und war sehr schön. Karlmann wußte, daß das Kleid ein Hochzeitskleid und der Kranz ein Brautkranz gewesen war. Und nun war sie schon so lange tot, fast so lange wie er lebte.

Manchmal stand er auch am Küchenfenster und sah über den Zaun weg auf die Straße. Da spielten die Kinder »es ging ein Bauer ins Holz« und andere Spiele. Karlmann sah gern zu, aber mitspielen mochte er nicht; die Kinder waren so heftig und laut und etschten ihn aus, weil er so still war. Nein, besser spielte es sich schon mit Mohr; der war gut und freute sich, wenn man ihn von der Kette losmachte und mit ihm um den großen Rasenplatz herumlief.

Am liebsten saß er aber drin bei der alten Nanna und ließ sich Geschichten erzählen; vom Feuermännchen und der Maus Grisegrau oder von der schönen Müllerstochter, die in den Mühlgraben gefallen war und den häßlichen Wasserbock mit dem grünen Barte heiraten mußte. Die allerschönste Geschichte aber war doch die von der goldnen Spinne, die ihre Fäden vom Himmel bis zur Erde spannte. Die Nanna hatte ihm gesagt, daß die goldne Spinne nur goldne Wespen essen könne, und daß sie im Frühjahr in der alten Eiche am Park wohne. Wer ihr eine goldne Wespe bringe, kriege den Himmel zu sehn, hatte sie gesagt. Da dachte der kleine Karlmann oft, wie er wohl der goldnen Spinne eine goldne Wespe bringen könne, aber es fiel ihm nichts ein.

Einmal lag er unter dem Fliederbusch an der Laube. Er hatte die Hände unter den Kopf gelegt und sah dem Luftballon zu, der weit oben im blauen Himmel stand. Das Schiffchen unten glänzte wie Silber, und wieder hatte der kleine Karlmann solche Sehnsucht. Er wäre gern da oben in dem Luftballon gewesen, hoch, hoch über den Bäumen und den Menschen. Der Lehrer hatte gesagt, die ganze Erde wäre nur eine große Kugel. Ob man das von oben sehen konnte? Oder ob man noch höher mußte? Bis an die Sonne, wo die goldne Spinne ihre Fäden festgebunden hatte?

Da flog eine Schwalbe hoch über ihn weg, und – pink – fiel etwas ins Gras. Als er sich aufrichtete und hinsah, war es eine goldne Wespe; da wußte er gleich, daß er die der goldnen Spinne bringen müsse, band sie in sein Taschentuch und ging zum Parke.

Da saß nun der kleine Karlmann und wartete auf die goldne Spinne. Er saß geduldig unter der alten Eiche und guckte sich die seltsamen krummen Äste an. Ja, das mußte wohl die Wundereiche sein! Ihm wurde ganz bange, und er legte sich in das frischgeschnittne Gras. Wie süß das roch, und wie wunderlich die Sonnenstrahlen aus den Zweigen ins Gras hüpften, blank! hopp, hopp, blink, blank! Ob wohl die Engel so tanzen konnten? Die Augen taten ihm weh vom bloßen Hinsehen, und er machte sie lieber zu. Da sah alles noch viel schöner aus! Die hunderttausend goldnen Blättchen und die rote Sonne und die weißen Sternblumen. Da saßen auch die bunten Papageien und der komische Pfefferfresser mit dem mächtigen rotgelben Schnabel und den prächtigen bunten Federn. Die waren gewiß aus dem Zoologischen Garten gekommen, um die goldne Spinne zu besuchen. Ja, und da war sie ja schon selber, die goldne Spinne! Der kleine Karlmann staunte, er hatte sie gar nicht kommen sehn! Und nun war da ein herrliches goldnes Netz, das spannte sich, soweit er sehen konnte, von Baum zu Baum, und ein Funkeln und Leuchten war um ihn her. Die goldne Spinne aber kam auf ihn zu, ließ noch immer neue Fäden aus ihrem Leibe wachsen und sang mit feiner Stimme:

Spinne spinnt im Sonnenschein
goldne Netze schleierfein;
goldne Fädchen, Sonnenfädchen,
für die Knaben, für die Mädchen;
spinnt sie ein,
spinnt sie ein,
spinnt die stillen Kinder ein.

Während sie das sang, hatte sie Karlmann mit den weichen goldnen Fäden ganz umsponnen; aber er fürchtete sich nicht, ihm war wie im allerschönsten Traum ganz wunderselig zu Sinn. Komm mir nach, sagte die goldne Spinne. Karlmann hatte nun ein Kleid von lauter Gold an und wunderte sich, wie leicht und geschickt er klettern konnte! Er nickte den Papageien und dem Pfefferfresser zu, die verwunderte Augen machten, und stieg der goldnen Spinne nach, hoch oben in die Spitze der alten Eiche. Wie ein grünes Meer lag der Park unter ihnen, denn der Eichbaum war höher als alle andern Bäume, viel höher; ja, was war denn das? Er wuchs noch immer höher, bis an die Wolken! Da lag das Haus seines Vaters, er erkannte es an dem Taubenschlag; da lag die Kirche und das Schulhaus, und alles war so putzig klein! Und der Kanal! wie eine silberne Schlange sah der aus!

Der Eichbaum wuchs noch immer. Tiefer und tiefer lag die Stadt unter ihnen. Zuletzt sah er nur noch helle und dunkle Flecke. Über die Berge sah er und über den Wald. Er sah, wie der Kanal in einen großen Fluß mündete, und wie der große Fluß weit, weit in das Land hineinging.

»Jetzt kommt unser Wagen,« sagte die goldne Spinne. Da hielt der kleine Luftballon, den Karlmann vorhin gesehen hatte, grade vor ihnen. Die Spinne spann ihn fest mit einem goldnen Faden, und sie stiegen in das silberne Schiffchen. »Nun sollst du auch sehen, wozu ich die goldne Wespe brauche,« sagte die Spinne. Dabei holte sie das Tierchen hervor und knüpfte zwei starke Fäden um seinen schlanken Hinterleib. Hui, flog die Wespe davon, und die große Spinne hatte ihr Pferdchen am Zügel. »Wenn wir zu Gott kommen, muß sie sterben, aber sie tut es gern, denn Gott wird sie küssen, und das ist das größte Glück,« sagte die goldne Spinne. »Sieh nur, wie die Erde immer kleiner wird, jetzt merkst du schon, daß sie eine Kugel ist, wie der Mond und die andern Sterne auch!«

Karlmann sah erstaunt hinunter. Nur Land und Wasser konnte er noch unterscheiden und die hohen Berge. Und immer weiter flog die Wespe mit dem silbernen Schiffchen, an dem Mond vorüber, der auch Berge und Meere hatte, und an tausend Sternen vorbei, großen und kleinen, roten und weißen, blauen und grünen.

»Wenn du jetzt nicht dein goldnes Kleid anhättest, müßtest du erfrieren; hier ist die Luft so dünn und kalt, daß kein Mensch drin leben kann,« erklärte die goldne Spinne, »bald aber sind wir im Garten der jungen Engel, da ist es warm, und da werden wir bleiben.«

Karlmann war noch stiller als sonst, aber er hatte gar keine Sehnsucht, er mußte nur immer und immer die funkelnden Sterne ansehen.

Endlich waren sie im Garten der jungen Engel. Ein großes Tuch aus weißem Sammet war zwischen vier Sternen ausgespannt. Bäume und Blumen wuchsen da, wie auf der Erde, nur viel höher und leuchtender. Durch die Büsche flogen seltsame, große Vögel. Dazwischen standen und saßen viele hundert Engel, die hatten Geigen oder Flöten in den Händen, einige lasen auch in Büchern. Alle hatten weißseidne Gewänder an und Sonnenstrahlen um den Kopf. In der Mitte stand ein großer Stuhl. Der war aus weißen Wolken gebaut, und vier große graue Adler saßen auf der Lehne. »Das ist der Thron des lieben Gottes,« sagte die goldne Spinne und ging mit Karlmann an den Engeln vorbei, die freundlich grüßten. Sie setzten sich an den Stufen vor Gottes Thron nieder, und die Spinne erzählte: »Heut ist Sonnwendfest, heut kommt Gott hierher und küßt die Seelen, die neu in den Himmel gekommen sind; dann werden sie selig und bekommen Flügel. Höre, die Engel machen schon Musik.«

Solche Musik hatte aber Karlmann noch nie gehört! Es klang wie das Rauschen von Bäumen und von Wasserfällen, wie das Summen von Käfern und von Grillen, dazwischen kamen lange Töne, als ob die Nachtigall riefe. Und alles war so feierlich, daß Karlmann kaum zu atmen wagte. Als er sich aber nach der goldnen Spinne umsah, mußte er die Augen zutun vor all dem Glanze! Wie die liebe Sonne selbst stand sie da, und auf ihrem funkelnden Netze kletterten die kleinen Engel auf und ab! Auf dem Throne aber saß ein großer schöner Mann mit weißem Bart und weißen schlanken Händen. Und alle Engel beugten sich vor ihm, und alle Engel küßte und segnete der liebe Gott, und alle bekamen Flügel und hatten selige Augen.

Die goldne Spinne aber hatte auf einmal das schöne Gesicht von seiner verstorbenen Mutter und hatte einen langen Schleier und einen Kranz auf dem Kopfe. Sie nahm Karlmann bei der Hand und führte ihn zu Gott. »Küsse ihn auch, Herr,« bat sie, »küsse ihm die böse Sehnsucht fort, daß er lustig wird wie die andern Kinder und im Sonnenlicht mit ihnen spielen kann.«

»Küssen will ich ihn wohl,« sagte der liebe Gott und zog Karlmann zu sich heran, »aber seine Sehnsucht kann ich ihm nicht wegküssen, die muß er behalten.« Und Gott küßte Karlmann auf die Stirn. Da brauste der Himmel; tausend Glocken läuteten, dem Kinde war, als fiele ein großes Feuer in sein Herz, er schluchzte laut vor Seligkeit und fiel auf die Knie.

Als er sich wieder aufrichten und Gott und seine schöne liebe Mutter noch einmal ansehen wollte, war es dunkel um ihn her; er fiel, die Sinne vergingen ihm fast, er fiel, lautlos und schnell fiel er durch die Nacht, immer tiefer, immer tiefer, bis er unten im Park auf der Erde lag. Es war an derselben Stelle, wo ihn die Spinne abgeholt hatte. Er stand auf und ging nach Hause. Nanna und Mohr standen vor der Tür und wollten ihn eben suchen gehen. Die Nanna meinte, er hätte geschlafen und geträumt, er wußte es aber besser.

Er blieb noch immer der stille, kleine Karlmann; aber wenn die Sonne durch die Zweige schimmerte, sah er die goldne Spinne, die die Augen seiner Mutter hatte, mitten in ihrem Strahlennetze sitzen, und die kleinen Engel daran auf- und niedersteigen. Und wenn die böse Sehnsucht kam und ihn quälen wollte, fühlte er Gottes Kuß auf der Stirn und das Feuer im Herzen, und dann tat dem kleinen Karlmann die böse Sehnsucht nicht mehr weh.

Paula Dehmel

Freitag, 17. März 2017

Die Liebe bei Mann und Frau

Das Weib wird wahnsinnig aus Liebe, der Mann aus Stolz. Beide moralischen Gifte wirken aber als Gegengift. Hat das Weib den erforderlichen Stolz, so raubt die Liebe ihr nicht den Verstand; verschwindet die Liebe nicht ganz aus dem Herzen des Mannes, so verfällt sein Verstand nicht der finstern Macht des Wahnsinns. man könnte auch wohl sagen, bei dem Weibe verdrängt die Vernunft gar leicht den verstand, bei dem Manne der Verstand die Vernunft. Die Entsetzungen beider Mächte aber haben die Verrücktheit zur Folge.

gefunden in:
Humoristische Blätter
No 26., 27. Junio 1839

Dienstag, 14. März 2017

Was das Schäfchen sagen darf und was nicht!


Ein junges Schaf lief an der Seite des Böckleins glücklich über die Wiese. Es schmiegte seine feuchte Schnauze dicht an die Nase seines Gefährten, und die Löcklein ihrer weichen, wolligen Felle kräuselten sich ineinander. Das gefiel dem Schäflein, das neben seiner Mutter graste.

»Frau Mutter, ich will auch heiraten,« sagte es, »heiraten ist ein schönes Ding!« Bedächtig sah das Schaf auf sein Junges.

»Wie man’s nimmt,« sagte es, »aber schön, oder nicht schön, ein wohlerzogenes Schäfchen sagt nie, daß es gerne heiraten möchte.«

»Frau Mutter, ich denke es aber!«

»Denke es so viel du willst, Schäfchen, aber sag es nicht Als ich jung war, wäre es keinem von uns eingefallen, vom Heiraten zu reden.«

»Aber geheiratet habt ihr doch alle.«

»Natürlich! Selbstverständlich! Aber das ist etwas anderes als davon reden.« Eine alte Ziege hatte zugehört.

»Die Jugend von heute ist überhaupt schamlos,« sagte sie. »Da habe ich neulich erleben müssen, daß zwei halbwüchsige Ziegen von ihren zukünftigen Jungen sprachen!«

»Ja, darf man das auch nicht?« fragte das Schäflein, »darum heiratet man ja eben, um Junge zu kriegen.«

»Schweig,« rief das Schaf erschrocken.

»Pst, pst, pst,« mahnte die Ziege.

»Ich kann nur etwas nicht begreifen,« fing das Schäfchen wieder an. »Neulich sagte ich, ich wollte nicht heiraten, es sei lustiger so, als wenn man sich ewig um seine Jungen kümmern müsse und nie springen könne, wohin man wolle. Da haben mich alle gescholten, und haben gesagt, das sei die Bestimmung eines Schafes, Mutter zu werden, und die Natur habe es so gewollt. Und der Herr Vater hat mir gesagt, ich sei ein ganz entartetes Lamm, und kein Böcklein werde mich je heiraten wollen, wenn ich eine solche Gesinnung hätte. Und jetzt werde ich wieder gescholten und habe nun doch die richtige Gesinnung.« Das Schäfchen mähte kläglich.

»Kind,« sagte die Alte, »es ist da ein Unterschied. Sagst du, du habest keine Luft zum Heiraten, es sei dir unbequem und du wollest deine Freiheit wahren, so fallen alle männlichen Schafe über dich her. Und sagst du, du möchtest gerne heiraten, die weiblichen. Sagst du aber, du freuest dich auf deine Jungen, so nennen dich die Mutterschafe schamlos, und sagst du, du hättest lieber keine, so schütteln alle die Köpfe, die männlichen und die weiblichen, die alten und die jungen. Darum, Schäfchen, sei klug! Schweig! Denken kannst du, was du willst!« Die alte Ziege nickte.

»Du hast eine kluge Mutter, » sagte sie. – Das Schäfchen beherzigte der Mutter Lehren.
»Dein Junges entwickelt sich prächtig,« sagten die Verwandten zu dem alten Schaf. »Es kann nicht fehlen, es wird sich bald verheiraten.« Bescheiden schwieg die Alte, und kaute an einem Gräslein.
Bald darauf verliebte sich das Schäflein. Und tüchtig. Da hatte es plötzlich alle Lehren seiner Mutter vergessen. Es sagte jedem offen, dass es sich entsetzlich auf das Heiraten freue, daß es mindestens ein Dutzend Junge haben möchte, und daß es nicht gewußt habe, wie lieb ein Böcklein sei. Es sagte das alles keck heraus und erwartete ungeheure Schelte. Aber es kam keine. Böcke und Schafe freuten sich über das naive Schäflein.

»Frau Mutter,« fragte es erstaunt, »wie kommt es, daß das, was ich sage, nun auf einmal nicht mehr unpassend ist?«

»Schäfchen,« sagte das alte Schaf, »das will ich dir sagen. Ehe man weiß, ob dich einer will, mußt du schweigen zu allen Dingen. Will dich aber einer, so darfst du von dem Augenblick an sagen, was du willst. Auch denken. Auch tun.«

»Ich will es mir merken, Frau Mutter,« sagte das junge Schaf und sprang lustig mit seinem Böcklein davon.



Lisa Wenger (1858 - 1941)
Amoralische Fabeln
Zürich, 1920

Sonntag, 12. März 2017

Zwey junge Männer

Zwey junge Männer linsten beyde
Tag für Tag, und Nacht für Nacht,
auf den Busen der Rosarot von Heyde,
den sie in jenem Sommer darbot
bei Sonnenlicht,
im Schein des Mondes,
die pralle Wölbung  zarter heller Haut,
glatt wie Kiesel, weich wie Träume,
und die Gedanken daran ließen sie nicht los.

Der eine Mann, der Friederich,
ein schmaler klein gebauter Flötenist
spielte nach Mitternacht
in jenem Sommer
sein Gedicht
von Liebe, Leid und viel Verlangen.
Er glaubte gar, ihr Seufzen ob der Worte aufzufangen.
Darob zufrieden, mehr traute er sich nicht.

Der andere Mann, zwei Meter hoch gewachsen,
mit Händen, groß, die Rosarot umfassen wollten
Reinobert war sein Name.

Er konnte nicht flöten.
Das Singen lag ihm nicht.
So nahm er die Geduld,
von der er eine Menge hatte
Ließ Friederich flöten
Und das Weib erweichen
Schlich der sich fort,
ließ er seine Hände Tango streichen.

Monika Detering

Freitag, 10. März 2017

Da beißt die Maus keinen Faden ab

Das Sprichwort »Da beißt die Maus keinen Faden ab«, soll zurückgehen auf eine alte Fabel von Äsop. Diese erzählt von einem Mäuschen, das über einen schlafenden Löwen lief, worauf der Löwe erwachte und es mit seinen gewaltigen Tatzen griff. Das Mäuschen flehte um sein Leben und versprach ewige Dankbarkeit dafür. Großmütig schenkte der Löwe ihr die Freiheit und dachte dabei, wie wohl ein Mäuschen einem Löwen dankbar sein könne. Bald darauf hörte das Mäuschen das fürchterliche Gebrüll des Löwen, lief nachsehen, und fand ihren Wohltäter in einem Netze gefangen. Es zernagte einige Knoten des Netzes, so daß der Löwe mit seinen Tatzen das übrige zerreißen konnte. So vergalt das Mäuschen die ihm erwiesene Großmut. Selbst unbedeutende Menschen können bisweilen Wohltaten großartig vergelten, darum sollte auch der Geringsten nicht übermütig behandelt werden.

Eine andere Erklärung könnte auch eine Legende um die heilige Gertrud von Nivelles (626 - 659) liefern. In manchen Darstellungen wird die heilige Gertrud mit Mäusen, manchmal auch mit einem Spinnrad dargestellt. Die Legende erzählt, dass sie durch ihr Gebet Mäuse vertrieb, die immer wieder den Faden beim Spinnen durchbissen haben. Die Spindel ist aber auch ein Symbol für den Lebensfaden und damit mythisches Erbe der germanischen »Nornen«, der Schicksalsgöttinnen, die am Lebensfaden der Menschen spinnen. Diesen Faden beißen in den alten Mythen Mäuse ab.

HDR

Mittwoch, 8. März 2017

Persische Fabel

Als der Hahn am Morgen schlief,
Nahm der Schakal in den Rachen
so ihn, daß er mußt’ erwachen,
Und der bange Wächter rief:

Was beginnst du, grauser Schlächter!
Wehe dem, der mich verlezt.
Denn mich hat der Herr gesetzt
Selb zu seines Hauses Wächter.

Stundenzähler ich der Nacht,
Und des Tages Lichtverkünder,
Schrecken bin ich bleicher Sünder;
Gib mich frey aus deiner Macht! –

Ich nicht werd’ es thun gewiß;
Denn der Morgen, den du weckest,
ist mein Feind, und die du schreckest,
Meine Freundin Finsterniß.

Wenn es ist dein Amt, zu wachen,
Schlafend hast du dich verdammt.
Meines ist ein andres Amt,
Und vollziehen soll’s mein Rachen.

Sage mir und laß mich wissen,
Wie du willst verschlungen seyn,
Ob in vielen Stücken klein,
Oder ganz auf Einen Bissen.

Friedrich Rückert (1788 - 1866)
Morgenblatt für gebildete Stände,
Nro. 165, Freitag, 11. Juli 1823

Sonntag, 5. März 2017

Der Schmied und der Teufel



Relief von der Kilianskirche (Emil Wachter) in Osterburken
Fotografiert mit Bilora Radix auf ORWO s/w Film (abgel. 1982)
Entwickelt mit Cafenol


Es war einmal ein Schmied, der lebte guter Dinge, verthat sein Geld, processirte viel und wie ein paar Jahr herum waren, hatte er keinen Heller mehr im Beutel. Was soll ich mich lang quälen auf der Welt, dachte er, ging hinaus in den Wald und wollt’ sich da an einen Baum hängen. Wie er eben den Hals in die Schlinge steckte, kam ein Mann hinter dem Baum hervor mit einem langen weißen Bart und einem großen Buch in der Hand. „Hör Schmied, sprach er, schreib deinen Namen da in das große Buch, so soll dirs wohlgehen zehn Jahre lang, aber darnach bist du mein, da hol ich Dich.“ – „Wer bist du?“ sprach der Schmied – „Ich bin der Teufel.“ – „Was kannst du“ – „Ich kann mich so groß machen als eine Tanne, und so klein als eine Maus“ – „So thus einmal, daß ichs sehe,“ sagte der Schmied, da machte sich der Teufel so groß wie eine Tanne und so klein wie eine Maus. „Es ist gut sprach der Schmied, gib das Buch her, ich will mich hineinschreiben“ – Als er sich unterschrieben sagte der Teufel: Geh nur nach Haus, du wirst Kisten und Kasten voll finden, und weil du keine lange Umstände gemacht hast, so will ich dich auch in der Zeit einmal besuchen. Der Schmied ging heim, da waren alle Taschen, Kasten und Kisten voll Ducaten, und er mogte soviel davon nehmen als er wollte, es ward nicht all, und auch nicht weniger; da fing er sein lustiges Leben von vorne an, lud seine Kameraden ein, und war der vergnügteste Kerl von der Welt. Ein paar Jahre darauf sprach der Teufel einmal bei ihm ein, als er verheißen, sah zu wie die Wirthschaft ging, und schenkte ihm beim Abschied einen ledernen Sack, wer da hinein sprang, der konnte nicht wieder heraus, bis ihn der Schmied selber wieder heraus holte; damit trieb dieser seinen Spaß. Nach den zehn Jahren aber kam der Teufel und sprach zum Schmiedt „die Zeit ist herum, jetzt bist du mein, mach dich reisefertig.“ „Es ist gut,“ sprach der Schmiedt, hing seinen ledernen Sack um den Rücken und ging mit dem Teufel fort; als sie in den Wald kamen, zu der Stelle wo er sich aufhängen wollte, sprach er zum Teufel: „ich muß auch gewiß wissen, daß du der Teufel bist, mach dich erst wieder so groß wie eine Tanne und so klein wie eine Maus.“ Der Teufel war bereit und thats, und wie er sich in eine Maus verwandelt hatte, packte ihn der Schmid und steckte ihn in den Sack, dann schnitt er sich einen Stock von dem nächsten Baum, warf den Sack hin und prügelte auf den Teufel los. Der Teufel schrie erbärmlich, lief in der Tasche hin und her, aber umsonst, er konnte nicht heraus. Endlich sagte der Schmied ich will dich loslassen, wenn du mir das Blatt aus deinem großen Buch wieder giebst, auf das ich meinen Namen geschrieben. Der Teufel wollte nicht, doch endlich mußt’ er daran, da ward das Blatt herausgerissen und der Teufel ging heim in die Hölle, ärgerte sich, daß er betrogen und obendrein geprügelt war.

Der Schmid ging auch wieder zu seiner Schmiede und lebte vergnügt fort, so lang Gott wollte, endlich ward er krank und als er seinen Tod merkte, befahl er, man sollte ihm nur zwei gute, lange, spitze Nägel und einen Hammer mit in den Sarg geben. Das geschah auch. Wie er nun gestorben war und vor die Himmelsthür kam, klopfte er an, aber der Apostel Petrus wollt ihm nicht aufschließen, weil er mit dem Teufel im Bund gelebt hätte. Wie der Schmied das hörte, dreht er sich um und ging zur Hölle. Der Teufel aber wollt ihn auch nicht einlassen, er begehre ihn nicht in der Hölle, da fange er doch nur Spectakel an. Der Schmied ward bös und hub an vor dem Höllenthor Lärmen zu machen, ein Teufelchen ward neugierig und wollte sehen, was der Schmidt treibe, also machte es ein wenig das Thor auf, guckte heraus, der Schmid aber packte es geschwind bei der Nase und nagelte es an dieser mit dem einen Nagel, den er bei sich hatte, an das Höllenthor fest. Das Teufelchen fing an zu kreischen wie ein Krautlöwe, da ward noch ein anderes an das Thor gelockt, das steckte auch den Kopf heraus, aber der Schmied war nicht faul, kriegte es am Ohr und nagelte es mit diesem neben das erste. Da fingen nun beide ein solches entsetzliches Geschrei an, daß der alte Teufel selber gelaufen kam, und wie er die zwei Teufelchen festgenagelt sah, ward er bitterbös, daß er vor Bosheit anfing zu weinen, herumsprang, in den Himmel zum lieben Gott lief, und sagte, er müsse den Schmied in den Himmel nehmen, es möge gehen, wie es wolle, der nagle ihm die Teufel alle an den Nasen und Ohren an, und er sey nicht mehr Herr in der Hölle. Wollte nun der liebe Gott und der Apostel Petrus den Teufel los werden, so mußten sie den Schmied in den Himmel nehmen, da sitzt er nun in guter Ruh, wie aber die beiden Teufelchen losgekommen, das weiß ich nicht.

Anm.: Schreibwiese "Schmied", die im Original uneinheitlich ist, wurde angepasst.

Brüder Grimm
Kinder- und Haus-Märchen Band 1, Große Ausgabe.
1. Auflage Berlin 1812

Freitag, 3. März 2017

Über Avianus

Man setze irrig voraus, daß Avianus in der Vorrede zu seinen Fabeln alle, bis auf seine Zeit lebende, Fabeldichter habe angeben wollen, und man legen den Umstand, daß er den Titianus übergangen habe, einem irrigen Grunde bei. Denn Avianus erwähne nur diejenigen Sammler von Fabeln, welche sie in Versen lieferten; deshalb habe er den Tizian, wenn dieser gleich älter als er selbst war, aber doch keine neue Fabeln verfertigt, sondern bloß (nach Aufoncy) die Aesopischen –  vielleicht durch Babrius in griechische Verse gebrachte – Fabeln in Prosa gebracht und ins Lateinische übersetzt hat, übergangen.

Wilhelm David Fuhrmann
Handbuch der Classischen Literatur der Römer
Rudolfstadt, 1809

Dienstag, 28. Februar 2017

Des Teufels Jahrmarktstand

Es hat einmal einer gedichtet, daß auf einem vornehmen Jahrmarkt der Teufel auch seine Hütten habe aufgeschlagen, nichts aber anders gehabt habe als Häut, deren er in Menge, gleichsam reißenderweis verkaufte. Dessentwegen hat einen Poeten der Fürwitz angespornt, zu sehen, was doch ein jedweder für Haut einkaufe und einkrame. Indem er also fortgeht, begegnet ihm ein altes Mütterle mit geschimmelter Barocka – ein rare Antiquität mit einem hölzernen Handpferd, wormit es den schwachen Füßen eine Beihülf leistete. Diese tragte etliche Haut unter den Armen, und soviel es konnte abnehmen, waren's lauter Karg-häut. Bald nach diesem sieht er kommen zwei junge Herren, die in ihrem Gespräch zuweilen ein lateinisch Wort darunter einmischten, worauf er sicher glaubte, daß sie studierte Gesellen wären. Die hatten gleichfalls ziemlich viel Haut eingekauft; und soviel er konnte erkennen, so waren's lauter Frei-häut. Unweit von diesen sah er einen, der ziemlich rot um die Nas, als war sein Gesicht aus preußischem Leder geschnitten; er haspelte gar seltsam mit den Füßen, und konnte man leicht wissen aus dem krummen Gang, daß er grad aus dem Wirtshaus komme. Der hat ebenfalls etlich Haut einkauft und ziemlich viel; es waren aber keine andern als lauter Voll-häut. Kaum als dieser aus den Augen gekommen, so vermerkte er, daß mit zugespitzten Schuhen wie die Starnitzel und Tüten eine Jungfrau dahergetreten, die aufgeputzt war wie der Palmesel acht Tag vor Ostern. Dieser gab er einen höflichen guten Morgen mit dem Beisatz, warum doch sie eifrig nach Haus eile, und bekam die Antwort, ihre gnädige Frau werde bald aufstehn, destwegen sie zum Dienst eile (es war dazumalen schon eine Viertelstund über 10 Uhr!). Diese hat sehr viel Haut vom Markt getragen, und waren's nichts als Stolz-häut. Andre tragten andre Haut: ein Fuhrmann oder Kutscher war daselbst, der hatte Grob-häut; ein Soldat hatte Frech-häut, ein Bettler Träg-häut. In Summa, allerlei Haut haben die Leut eingekauft. – Der gute Poet wollt doch auch wissen, bei was für Haut der Teufel den größten Gewinn habe; ist endlich hinter die Wahrheit kommen: daß der Satan sein bestes Intresse und Geschäftchen an – Gelegen-häut habe.

Obschon dieses Gedicht übel geschlicht', so ist doch wahr gewesen und wird auch wahr bleiben, daß die Gelegen-heit sehr viel Menschen zur Sünd und folgsam zum Teufel und Verderben bringt.

Abraham a Santa Clara
(1644 - 1709)

Freitag, 24. Februar 2017

Der Greis und der Tod

Ein alter armer Mann trug eine schwere Last von Reisigbündeln aus dem Walde nach seiner Hütte zu, um sich im nahen Winter damit gegen die Kälte zu sichern.
Der Weg war lang, seine Kraft gering. Müde und verdrußvoll warf er endlich seine Bürde nieder und seufzte: »Komm doch, o Tod, und befreie mich von einem so mühseligen Leben!«
Kaum hatte er seinen Wunsch ausgesprochen, so stand der Tod wirklich vor ihm und fragte noch einmal, was er verlange.
»O ich bitte, lieber Herr«, antwortete der erschrockene Greis, »ich bitte, habe die Güte und hebe mir diese Reisigbündel wieder auf den Rücken!«

Unnatürlich und ungerecht ist der Wunsch nach dem Tode. Denn zehnmal gegen einmal würden wir unzufrieden sein, wenn er erhört würde. Tief in unserem Herzen wohnt die Liebe zum Leben; eine starke Aufforderung für jeden, sein Leben solange als möglich zu erhalten.

Ertrage jegliche Beschwerden
Des Lebens standhaft als ein Christ,
Und wirke Gutes hier auf Erden,
Solange dir’s noch möglich ist.

Moritz Erdmann Engels (1767 - 1836)
Moral in Fabeln, Leipzig 1796
gefunden in: Aus alten Kinderbüchern, Fabel auf Fabel
Berlin 1989

Dienstag, 21. Februar 2017

Als die Hühner wählen durften


Elf oder zwölf Hühner saßen auf den Mist, blinzelten in der Sonne und kratzten sich. Es war heiß, und keines hatte Lust nach Würmern zu suchen oder Eier zu legen.
Sie gackelten aber zusammen.
»Wißt ihr, daß wir Hühner von heute an öffentlich dasselbe Recht haben sollen wie die Hähne?« fragte eine schöne, stolze Henne und reckte sich dabei, daß sie gleich um eine Handbreite höher schien. Die Hühner öffneten die rotgeränderten, verblüfften Augen.
»So,« sagte eines. Dann lauste es sich behaglicher als vorher.
»Mir ist das einerlei,« gackelte ein anderes, das elf Kücken um sich versammelt hatte, und jetzt noch spektakelte zur Erinnerung an die 15 Eier, welche es nacheinander gelegt. »Was geht mich die Politik an? Ich verstehe nichts davon.«
»Es ist nicht nur wegen der Politik,« sagte die schöne Henne. »Wir sollen auch sonst mitreden dürfen, zum Beispiel, wenn eine neue Pute für die Schule gewählt wird.«
Das interessierte nun die Hühner alle, denn die meisten hatten Kücken.
»Das ist sicher, daß ich die Bronzepute nicht wieder wähle,« kreischte ein dickes Huhn mit einem Federbusch zwischen jeder Zehe. »Sie hat allen meinen Kücken schlechte Zeugnisse gegeben.«
»Ich wähle sie auch nicht,« piepste das Perlhuhn. Es sah aus wie ein uraltes Jüngferchen mit einem weißpunktierten Schal, aus dem das kleine, nackte, neugierige Köpfchen hervorschaute.
»Ich wähle sie auch nicht.«
»Warum nicht,« fragte die schöne Henne.
»Weil sie in der Schule den Kücken gesagt hat, alle Hühner hätten ein Herz und eine Lunge und eine Leber, und andere unappetitlichen Sachen. Dafür schicke ich meine Jungen nicht zur Schule, daß sie solche Dinge lernen.«
»Da hast du recht,« stimmte auch eine Rouen-Ente bei, die so stark war, daß sie ihren Leib auf der Erde nachschleifen mußte. »Traurig ist das. Wir sind auf einen Punkt der sogenannten Aufklärung gekommen, den man schon, den man schon –»
»Unmoral nennen könnte,« half das Perlhuhn nach, und drehte sein unbedeutendes Köpfchen beifallheischend nach allen Seiten.
»Und die Poesie? Wo bleibt die, wenn unmündige Kücken schon wissen, was Hahn und Hühner inwendig haben? Nein, die Bronzepute wähle ich nicht,« schnatterte die Rouen-Ente.
»Ich auch nicht,« meinte eine bräunliche Laufente, die eilig und aufrecht angewatschelt kam, »was kann sie unsere Jungen lehren? Sie weiß selber nicht, was sich für Puten gehört. Sie legt sich ja nicht einmal platt auf die Erde, wenn der Truthahn vorüberrauscht, wie es sich für Puten schickt, sie sieht ihn herausfordernd an und bleibt stehen.«
»Usch,« riefen alle Hühner entsetzt und pluderten sich. Eine Weile schwiegen sie, drehten sich nach allen Seiten nachdenklich im Sand und schüttelten die Federn.
»Also, wen wählen wir?« begann darauf wieder eine. Es war eine weiße Henne, der Liebling des Hahns.
»Ich wähle die graue Pute,« sagte die Dicke mit den Federbüschen entschlossen, »wenn ich der Haber schicke, so macht sie allen meinen Hühnchen und Hähnchen gute Zeugnisse.«
»Sie ist häßlich, sie wird nie jemandem gefallen,« gackerte zufrieden die weiße Henne. »Ich wähle sie.«
»Sie weiß selber nicht, ob die Hühner Milz und Leber im Leib haben« piepste das Perlhuhn, »also kann sie die Kücken nichts Unanständiges lehren, wie es jetzt Mode ist. Ich wähle sie.« Es trippelte davon.
»Sie kann sich im Eierlegen bei weitem nicht mit mir messen, man wird sie mir nie vorziehen,« dachte die Laufente. »Ich wähle sie auch, warum nicht?«
»Schwimmen kann sie nicht wie ich,« prahlte die Rouen-Ente, »mir ist sie also recht.«
»Das alles geht die Schule gar nichts an,« rief unwillig das schöne Huhn.
»Aber uns,« kreischte die Dicke, »uns, meine Liebe, uns! Übrigens kann ich morgen nicht zur Wahl kommen. Ich lege von 11-1 Uhr.«
»Und ich fange morgen mit Brüten an,« gackerte eines.
»Und ich führe meine Jungen zum ersten Mal aus«, rief ein anderes.
»Ich gehe mit dem Gockel spazieren«, brüstete sich die Weiße, und riß einen Regenwurm, der sich verzweifelt wehrte, aus der Erde.
»Du kannst morgen nicht mit dem Gockel spazieren,« verwies sie das schöne Huhn. »Der Gockel geht morgen zur Wahl.«
»Ich kann auch nicht kommen,« rief die Rouen-Ente mit dem dicken Leib wichtig. »Ich werde morgen gebraten.«
Sie wußte nicht recht, war das ein angenehmes oder ein unangenehmes Ding, aber jedenfalls war es interessanter als das Wählen einer Schulpute.
»Und ich gehe und wähle,« rief das schöne Huhn, »und wenn ich ganz allein gehen muß.«
Und richtig, am nächsten Morgen war sie die einzige, die sich aufmachte, um die neue Pute für die Kückenschule zu wählen. Der Hahn war wahrhaftig mit dem weißen Huhn spazieren gegangen.
Da niemand da war, der der grauen Pute die Stimme hätte geben können, so wurde die Bronzene einstimmig gewählt.
»Es ist ein unerhörtes Unrecht,« sagten die Hühner des Hühnerhofes nachher zornig. »Was haben wir davon, daß wir wählen dürfen, wenn doch nicht die gewählt werden, die wir wollen?«
Sie steckten die Köpfe unter die Flügel, plusterten sich auf, und hielten ihr Mittagsschläfchen ab.

Lisa Wenger (1858 - 1941)
Amoralische Fabeln
Zürich, 1920

Freitag, 17. Februar 2017

Unicornu Verum

Es findet sich noch eine Materie, so in der Medicin beliebt ist, unter dem Nahmen: das wahre oder rechte Einhorn / Unicornu Verum, auch Unicornu Marinum genannt, das ist ein sehr langer, gestreiffter, und gleichsam gewundener Zahn eines gewissen Grön-Ländischen Wallfisches / siehet äusserlich gelb, inwendig aber weiß aus, wird von den Grönland-Fahrern zu uns bracht. Der Fisch, wovon es herrühret, wird Narhual genennet, weilen er sich vom Aaß und Todten-Cörpern, so dorten Nar heissen, ernehret, und von Thoma Bartholino in einem eigenen Buch beschrieben, daß er den andern Wallfischen nicht viel ungleich, und  ohngefehr 30. Ellen lang sey; zwey Floß-Federn auf den Seiten, 3. Hügel auf dem Rucken, und unten am Bauch nur einen habe. Aus dessen lincken Ober-Kienbacken ein langer Zahn, gerad vor sich heraus stehet, womit er das Eiß brechen soll: weswegen das sogenannte Horn öffters forn abgebrochen ist. Und gehet also dieser Zahn nicht aus der Nasen, wie Olearius l. c. redet, indem dieser Fisch keine Nase hat: und wie die andern Wallfische durch zwo Löcher, so oben in dem Nacken stehen, und nicht durch die Nase respirirt, auch das Wasser daraus in die Höhe wirfft: Sondern er sitzet in seiner Höhle, am obersten Kinnbacken, wie die Zähne an andern Thieren. Ob aber ein Fisch zwey solche Zähn habe, wie D. Jacobi in Mus. Reg. Haffn. muthmasset, auch dergleichen eines gesehen hat, muß die Erfahrung weiter lehren. Dieses aber ist gewiß, daß unten in dem grossen Horn oder Zahn offt noch ein kleiner stecket, wie Herr. Doct. Reusel in der Kunst-Kammer zu Stuckardt gesehen: Weßwegen Simon Urias lib. 1. Grœnlandiæ Antiq. fol. 285. nicht unbillig schliesset, daß diesem Wallfisch die Zähne, wie denen Menschen, ausfallen, und andere wachsen thäten.

Bräuner, Johann Jacob:
Physicalisch= und Historisch= Erörterte Curiositaeten.
Frankfurth am Mayn 1737.

Montag, 13. Februar 2017

Die schlauen Mädchen

Zwey Mädchen brachten ihre Tage
Bey einer alte Base zu.
Die Alte hielt, zu ihrer Muhmen Plage,
Sehr wenig von der Morgenruh.
Kaum krähte noch der Hahn bey frühem Tage:
So rief sie schon: Steht auf, ihr mädchen, es ist spät,
Der Hahn hat schon zweymal gekräht.

Die Mädchen, die so gern noch mehr geschlafen hätten;
Denn überhaupt sagt man, daß es kein Mädchen giebt,
Die nicht den Schlaf und ihr Gesichte liebt;
Die wunden sich in ihren weichen Betten,
Und schwuren dem verdammten Hahn
Den Tod, und thaten ihm, da sie die Zeit ersahen,’Den ärgsten Tod rachsüchtig an.

Ich habs gedacht, du guter Hahn!
Erzünter Schönen ihrer Rache
Kan kein Geschöpf so leicht entfliehn.
Und ihren Zorn sich zuzuziehn,
Ist leider eine leichte Sache.

Der arme Hahn war also aus der Welt.
Vergebens nur ward von der Alten
Ein scharf Examen angestellt.
Die Mädchen thaten fremd, und schalten
Auf den, der diesen Mord gethan,
Und weinten endlich mit der alten
Recht bitterlich um ihren Hahn.

Allein was halfs den schlauen Kindern?
Der Tod des Hahns solt ihre Plage mindern,
Und er vermehrte sie noch mehr.
Die Base, die sie sonst nicht eh im Schlafe störte,
Als bis sie ihren Haushahn hörte,
Wußt in der Nacht jetzt nicht, um welche Zeit es wär;
Allein weil es ihr Alter mit sich brachte,
Daß sie um Mitternacht erwachte:
So rief sie die auch schon um Mitternacht,
Die, später aufzustehn, den Haushahn umgebracht.
***
Wärst du so klug, die kleinen Pagen
Des Lebens willig auszustehn:
So würdest du dich nicht so oft genöthigt sehn,
Die grössern Uebel zu ertragen.

C.F. Gellert

Donnerstag, 9. Februar 2017

Kater und Sperling


Es flog ein Sperling auf die Düngerstätte eines Bauern. Da kam der Kater, erwischte den Sperling, trug ihn fort und wollte ihn verspeisen. Der Sperling aber sagte:
»Kein Herr hält sein Frühstück, wenn er sich nicht vorher den Mund gewaschen hat.«
Der Kater nimmt sich das zu Herzen, setzt den Sperling auf die Erde hin und fängt an, sich mit der Pfote den Mund zu waschen – da flog ihm der Sperling davon. Das ärgerte den Kater ungemein, und er sagte: »Solange ich lebe, werde ich immer zuerst mein Frühstück halten und dann den Mund waschen.«
Und so macht er es denn bis auf diese Stunde.

Anonymer Autor

Dienstag, 7. Februar 2017

Warum die Menschen schwatzen

Frag:
Warum die Menschen so gerne miteinander reden und schwatzen?

Antwort.
Weilen sie durch Reden untereinander Trost / und das durch unterschiedliche Gedancken bemüssigte Hertz zu erleichteren suchen.

Hilarius Salustius, Melancholini
wohl-aufgeraumter Weeg-Gefärth
Vorbringend
Lächerliche / aber kluge Fabeln / nutzliche Fragen / denckwürdige Geschichten / wundersame Würckungen der Natur / auch ersprießliche Sitten-Lehren.
Allen
Mit der Miltz-Kranckheit und Unmuth beladenen Scorbuticis, zur nutzlichen ERgötzung ans Taglicht gegeben
Gedruckt im Jahr 1717

Samstag, 4. Februar 2017

Das Märchen vom Maulwurf

Vor vielen tausend Jahren, als die Menschen noch keine Kleider trugen, lebte mitten in der Erde ein Zwerg, so tief untern, daß kein Mensch etwas von ihm wußte. Und er selber wußte von den Menschen auch nichts; denn er hatte sehr viel zu tun. Er war ein König über die andern Zwerge, und schon fünf mächtige Höhlen hatte er sich ausputzen lassen, und war ganz alt und grämlich dabei geworden, so viel hatte er zu befehlen.
Es war aber nicht dunkel da unten in den Höhlen, sondern eine glänzte immer bunter als die andre, so viel Diamanten und Opale hatte das Zwergvolk drin aufgebaut, und die Wände waren von blankem Kristall, jede in einer besonderen Farbe. Und da saß nun der König der Zwerge, in seinem Mantel von schwarzem Sammet, auf einem großen grünen Smaragdstein, und faßte sich an seine spitze Nase und überlegte mit seinen alten Fingern, ob auch alles hell genug wäre. Er fand es aber durchaus nicht hell genug.
Da machten ihm die andern Zwerge eine sechste Höhle zurecht, mit Wänden von lauter Rubinen, die wie ein einziger Feuerschein glühten, und das dauerte tausend Jahre; aber er fand auch Das noch nicht hell genug. Als er nun immer trauriger wurde in seinem schwarzen Sammetmantel, kamen die andern alle zusammen, und die Jüngsten sagten zu den Alten: Kommt, laßt uns eine blaue Höhle machen!
Dafür wären sie beinahe totgeschimpft worden, denn bis dahin hatte das Zwergvolk die blaue Farbe nicht leiden können. Weil aber alle andern Farben in den sechs Höhlen schon durchprobiert waren, sagten endlich auch die ältesten Zwerge ja und gaben den jungen die Hände. Dann gingen alle an die Arbeit und putzten heimlich eine siebente Höhle aus, mit Wänden von echten Türkisen, die so hell und blau wie der Himmel waren, und das dauerte wieder tausend Jahre.
Die gefiel nun dem König wirklich, und der allerälteste Zwerg, der fast so alt wie der König selbst war, schoß vor Verwunderung einen Purzelbaum. Darauf trugen sie den großen Smaragdstein in die neue Höhle hinein, und der König setzte sich auf ihn und freute sich, wie schön sein schwarzer Sammetmantel zu den hellblauen Wänden paßte. Nachdem er aber fünfhundert Jahre so gesessen hatte, fand er auch Das nicht mehr hell genug; er wurde trauriger als je zuvor und seine Nase immer spitzer.
Fünfhundert Jahre saß er noch und überlegte seinen Kummer, sodaß er schon ganz fett zu werden anfing. Endlich ertrug er das nicht länger, ließ sich die jüngsten Zwerge kommen und sagte: macht mir eine Höhle, die Licht hat wie alle Farben in eine verschmolzen! Das aber verstanden auch die allerjüngsten nicht, und glaubten, ihr König sei verrückt geworden.
Da beschloß er, sie zu verlassen und selbst nach seinem hellen Lichte zu suchen. Er stieg herunter von seinem Smargadstein, und schnitt den schwarzen Sammetmantel etwas kürzer, sodaß er Hände und Füße frei bewegen konnte, und fang an zu graben. Weil aber unten in der Erde die Andern schon alles abgesucht hatten, so meinte er, daß Licht, wonach er solche Sehnsucht fühlte, müsse wohl weiter oben liegen, und grub sich in die Höhe; und weil das Zwergvolk damals den Spaten noch nicht erfunden hatte, so mußte er die Finger zum Wühlen nehmen. Das tat ihm nun sehr weh, denn er war das nicht gewohnt; aber er hatte solche Sehnsucht nach dem Licht.
Dreitausend Jahre wühlte der König der Zwerge und grub sich höher und höher hinauf. Die Haut um seine Finger war schon ganz dünn davon geworden, sodaß die kleinen Hände ganz rosarot aus seinem schwarzen Sammtmantel kuckten; aber immer sah er das Licht noch nicht. Nur tief von unten schimmerte noch ein blaues Pünktchen zu ihm herauf, aus seiner siebenten Höhle her; aber um ihn und über ihm war alles schwarz. Auch etwas magerer war er geworden, und die Nase noch spitzer.
Da überlegte er, ob er nicht lieber zu seinem Volk zurückkehren sollte; aber er fürchtete, dann würden sie ihn absetzen und wirklich in ein Irrenhaus sperren. Also ging er aufs neue an die Arbeit mit seinen rosaroten Zwerghänden, und grub nochmals dreitausend Jahre lang, und es wurde immer dunkler um ihn her, bis schließlich auch das blaßblaue Pünktchen tief unten hinter ihm verschwand. Als er nun gar nichts mehr sehen konnte, hörte er auf zu wühlen und sprang in die Höhe und wollte sich den Kopf einstoßen, so furchtbar traurig war ihm zumute.
Da ging auf einmal die Erde entzwei über ihm, und er schrie laut auf vor Entzücken und schloß die Augen vor hellem Schmerz, so viele Farben gab es da oben, als ob ihn tausend bunte Messer stächen, bis ins Herz. Denn hoch im Blauen über der Erde, viel höher als er gegraben hatte, so hell wie alle Farben in eine verschmolzen, stand eine große strahlende Kugel, und Alles war Ein Licht.
Als er es aber ansehen wollte und seine Augen wieder aufschlug, da war er blind geworden und fiel auf die Stirn. Und er fühlte, wie schwach sein Königsherz war, und wie sein schwarzer Mantel vor Schreck mit ihm zusammenwuchs, und daß er kleiner und kleiner wurde und seine Nase immer spitzer, und plötzlich rutschte er zurück in die Erde.
Seit dem Tage gibt es Maulwürfe hier oben, und darum haben sie ein schwarzes Sammetfell und rosarote Zwerghände und sind blind. Und manchmal, wenn die Sonne recht kräftig scheint, dann stoßen sie ein Häufchen Erde hoch und stecken die spitze Nase an die Luft, vor Sehnsucht nach dem Licht.

Richard Dehmel

Donnerstag, 2. Februar 2017

Wie wird man reich?

Frag:
Was muß einer thun / der reich will werden?

Antwort.
Er muß fliehen die Weiber / Gastereyen / Sicherheit / und Spielen.

Hilarius Salustius, Melancholini
wohl-aufgeraumter Weeg-Gefärth
Vorbringend
Lächerliche / aber kluge Fabeln / nutzliche Fragen / denckwürdige Geschichten / wundersame Würckungen der Natur / auch ersprießliche Sitten-Lehren.
Allen
Mit der Miltz-Kranckheit und Unmuth beladenen Scorbuticis, zur nutzlichen ERgötzung ans Taglicht gegeben
Gedruckt im Jahr 1717

Dienstag, 31. Januar 2017

Hahnenkampf

Zwei Hähne wollten miteinander kämpfen. Sie sprachen in die Runde: »Schaut zu, und lacht den aus, der unterliegt!«. Dann begannen sie mit dem Kampf. Zunächst konnte keiner dem anderen beikommen, dann jedoch hackte der eine dem anderen ein Auge aus. Der eine hackte weitere, bis auch das zweite Auge des anderen blind war. Da fiel dieser um und starb. Der überlegene Hahn krähte so laut vor stolz, dass alle ihn hören konnten. Er flog auf einen Dachfirst und krähte von dort oben herunter: »Ich bin der Größte, keiner kann mir widerstehen.«
Da kam ein Habicht geflogen, fasste den Hahn und flog mit ihm fort. Er tötete ihn und fraß ihn auf. Da sagte ein Huhn zu den andern: »Wir sollten nicht zu pralerisch sein, einen Unglücklichen nicht noch unglücklicher machen als er ist.«
Dann kam ein alter Mann und sprach: »Seid nicht zu großsprecherisch, sterben müssen wir zuletzt alle.«
nach: Die beiden Kampfhähne
aus: Die Insel der schönen Si Melu
Indonesische Dämongeneschichten, Märchen und Sagen aus Simalur
von Dr. Hans Kähler
Erich Röth-Verlag, Eisenach und Kassel, 1952

Sonntag, 29. Januar 2017

Die faule Frau mit dem Korb

(c) Mirjam Radke
Kind am Strand von Malaysia

Es war einmal eine Frau, die war sehr faul. Sie wollte nicht arbeiten, ja, sich kaum baden; nur einmal wusch sie sich in zehn Tagen.

Eines Tages ging sie nach dem Badeplatz. Da rief eine Nipapalme nach ihr, die auf der anderen Seite des Ufers wuchs. Die Palme rief und rief, aber die Frau war viel zu faul, um zu antworten oder über den Fluß zu fahren und zu fragen, was sie wollte. Schließlich sagte die Nipapalme: »Warum bist du denn so faul, daß du nicht mal über den Fluß fahren willst? Auf deiner Seite ist doch ein Kahn; steig' ein, rudere herüber und hole dir meine jungen Blattsprossen.« Ganz langsam und bedächtig trottete die faule Frau nach dem Kahn, ganz langsam und bedächtig fuhr sie über das Wasser und holte sich dann die Blattsprossen. Darauf sagte die Nipapalme: »Ich rief dich, weil du so faul bist. Nimm nun diese Sprossen mit, trockne sie ein wenig in der Sonne und mach' dir daraus einen Korb.« Die faule Frau hätte beinahe geweint, als sie hörte, daß sie einen Korb machen sollte; sie nahm jedoch die Sprossen mit nach Hause und flocht auch richtig den Korb.

Als er fertig war, sagte er zu der Frau: »So, nun bringe mich an den Weg, wo die Leute zu Markte ziehen, setze mich dort hin, wo alle vorüber müssen, und dann geh' nach Hause.« Die Frau nahm den Korb und tat, wie ihr geheißen war. Viele Menschen zogen vorüber, niemand bemerkte ihn, bis schließlich ein reicher Mann des Weges kam. Als der ihn sah, sagte er: »Den Korb will ich nach dem Markte mitnehmen, da will ich meine Einkäufe hineinpacken, und treffe ich den Eigentümer auf dem Markte, dann kann ich ihn ihm wiedergeben.« Darauf ging der reiche Mann auf den Markt und fragte jeden, ob er einen Korb vermisse, aber niemand meldete sich. »Schön,« sagte der reiche Mann, »dann gehört er mir, ich werde meine Einkäufe hineinpacken und ihn mit nach Hause nehmen; wenn ihn jemand beansprucht, mag der zu mir kommen und ihn sich holen.« Und der reiche Mann packte alle seine Einkäufe hinein: Betelnüsse, Kalk, Kuchen, Fische, Reis und Bananen, bis der Korb voll war; wie nun der Mann sich noch ein Weilchen mit seinen Freunden unterhielt, verschwand der Korb und begab sich nach dem Hause der faulen Frau. Als er noch ein Stückchen vom Hause ab war, rief er die faule Frau. »Nun komm' her, komm' her und hilf mir, ich kann das Gewicht nicht allein schleppen.« Da ging die Frau zum Korbe hinaus, obschon sie dem Weinen nahe war, daß sie dies tun mußte, und holte ihn heim. Als sie sah, was für schöne Sachen darin lagen, meinte sie: »Das ist ja ein herrlicher Korb, aber vielleicht will er seinen Lohn dafür haben. Jedenfalls kann ich, wenn das immer so geht, ein recht gemütliches Leben führen. Ich brauch' den Korb doch nur an den Weg nach dem Markte zu setzen.« So setzte die Frau denn an den Markttagen den Korb immer an den Weg hin, und stets kehrte er gefüllt nach Hause zurück.

Sechs Leute betrog er auf diese Weise um ihr Eigentum. Nun machte es sich, daß die Sechse, die so ihre Habe eingebüßt hatten, den Korb wieder trafen, als sie zum siebenten Male zu Markte zogen. Sie erkannten den Betrüger sogleich wieder. Und diesmal sammelten sie Kuhfladen zusammen und füllten den Korb damit bis oben hin an. »Denn,« sagten sie, »dieser Korb ist ja ein abgefeimter Schurke.« Der volle Korb wanderte nicht auf den Markt, sondern begab sich nach Hause. Als die faule Frau ihn kommen sah, eilte sie zum Hause heraus. Als sie aber sah, daß er voller Kuhfladen war, schrie sie laut auf: »O, nun werde ich sterben müssen, denn der Korb bringt mir ja nichts mehr zu essen.« Und wirklich, fortan brachte der Korb nichts mehr vom Markte heim.

Hambruch, Paul
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
Eugen Diederich, Jena 1922

Montag, 23. Januar 2017

Der Soman-Soman-Dämon

Einmal fuhr ein Mann zum Festland und ließ seine Frau mit dem neugeborenen Kind zurück. Die Frau wickelte das Kind, legte es in eine Wiege, verließ die Hütte und ging Reis stampfen. Als die Sonne niedrig stand, hörte sie plötzlich eine Stimme:

Stampfe weiter, denn es ist noch ein Kopf übrig!
Siebe weiter, denn es ist noch ein Kinn übrig!
Seihe weiter, denn es ist noch ein Ohr übrig!

Als sie nichts mehr vernahm, eilte sie zurück zu ihrem Haus. In der Wiege sah sie nur noch Blut. Im gleichen Moment sprang etwas aus der Wiege und die Frau erblickte einen kleinen, sehr alten Mann mit gekrümmten Rücken und rot gefärbter Jacke.

Sie schrie um Hilfe und bald eilten die anderen Leute des Dorfes herbei. Keiner konnte den Dämon jedoch sehen und so nahmen sie die Frau mit den Resten ihres toten Kindes mit hinaus und zündeten dann Haus an. Als sie am anderen Morgen nachschauten, fanden sie eine verkohlte Wildkatze in der Asche.

Nun hatten sie Ruhe vor dem Dämon.

nach: Der Soman-Soman-Dämon’ und die Frau, die Reis stampfte
aus: Die Insel der schönen Si Melu
Indonesische Dämongeneschichten, Märchen und Sagen aus Simalur
von Dr. Hans Kähler
Erich Röth-Verlag, Eisenach und Kassel, 1952

Freitag, 20. Januar 2017

Der Affe und die Seegurke


 Foto: (c) Mirjam Radke


Es war 'mal ein Affe, der kam aus dem Hain. Und er ging hinaus um Schaltiere zu suchen, der arme Teufel! Und während er durch den Meertang lief, sah er eine Klebe-
Tripang.

Der Affe sagte: „Wohlan, Tripang, sofort wirst du platt getreten werden.”

Die Tripang antwortete: „Ich bin nicht deine Sklavin, Affe, rede doch nicht solch albernes Zeug!”

Der Affe sprach wieder: „Rede nicht so baren Unsinn, Tripang; sogleich werde ich dich zertreten, hörst du; es scheint mir, du willst scherzen!”

Die Tripang antwortete: „Zertrete mich nur, du mit deinen Lügen!”

Da versetzte ihr der Affe einen Fusstritt mit der rechten Pfote. Und seine Pfote klebte fest.

Der Affe sagte: „Lass loss, Tripang, willst du! sonst versetze ich dir einen Tritt mit meiner linken Pfote!”

Die Tripang sprach wieder: „Thue es nur frei!”

Da gab ihr der Affe abermals einen Fusstritt, folglich klebten die beiden Pfoten des Affen an der Tripang fest.

Da sagte der Affe: „Lass los, Tripang, sonst werde ich dich stossen!”

Die Tripang erwiderte: „Stosse nur zu!"

Der Affe stiess mit der rechten Faust, und auch diese klebte fest. Dann stiess er mit seiner linken Faust , und auch die klebte fest.

Darauf sprach der Affe: „Lass los, Tripang, sonst werde ich dich beissen, hörst du?”

Die Tripang sagte: „Beisse nur zu!”

Da biss sie der Affe, und sein Mund klebte fest.

Und als das Wasser stieg, so ist der Affe ertrunken, weil er an dem Körper der Tripang festgeklebt blieb.

Volksdichtung aus Indonesien
Sagen, Tierfabeln und Märchen
Übersetzt von T. J. Bezemer
1904

Originaltitel: Der Affe und die Tripang (Holothuria edulis)

Samstag, 14. Januar 2017

Der Kaffee-Klatsch der Tiere

 Es waren einmal drei Tiere, die Kröte, die Maus und die Kakerlak; die wohnten in einem Hause zusammen, und duzten sich unter einander.

Als sie eines Tages zusammen waren, so ging die Maus nach dem Wasser und die Kröte fing an, verleumderisch zu reden und sagte:

„Ach , Freundin Kakerlak, meine Freundin Maus hat eine ganz spitzige Schnauze wegen des Stehlens von dem Säkorn der ganzen Bevölkerung.”

Die Maus aber hatte sie belauscht in dem Raume unter dem Hause. Und als sie hörte , dass sie verlästert wurde , so weinte sie und ergrimmte. Als sie wieder nach oben gekommen war, fragte sie: „Sagt mal , ihr beide , ich habe eine spitzige Schnauze wegen Diebstahls von Jedermanns Säkorn, nicht wahr?”

Sie antworteten: „Nein, Freundin Maus, wir redeten nicht übel von dir, verstehe es nur gut, im Gegenteil, wir redeten davon, dass die Schnauze unserer Freundin Maus spitzig geworden sei wegen des Einbringens der Muster in die Gewebe”.

Dann entfernte sich die Kröte einen Augenblick; und jetzt verlästerte sie die Maus, und sprach: „Ach, Freundin Kakerlak, die Pfoten der Freundin Kröte sind schmal geworden wegen des Springens auf Steine, und ihre Schenkel sind abgeplattet durch das Sitzen auf Steinen.” Die Kröte aber war nicht ans Wasser gegangen, sondern hatte sie unter dem Hause belauscht.

Sie stieg hinauf und sprach : „Ihr sagt, ich habe mit meinem Springen meine Schenkel vermagert?” Sie antworteten: „Doch nicht, Freundin, wir redeten davon, dass deine Schenkel durch das Webbrett abgeplattet worden sind.”

Danach ging die Kakerlak nach dem Hofe. Da redeten die beiden anderen abermals verleumderisch: „Die Haut unserer Freundin Kakerlak ist geglättet wegen ihres Kriechens in die Kisten der ganzen Welt.” Die Kakerlak hatte unten abgelauscht, stieg hinauf und sprach: „Ihr sagt, ich bin glatt geworden durch das Kriechen in die Kisten der ganzen Welt?” „Nein doch” war die Antwort, „wir redeten darüber, dass du glatt geworden bist vom Häkeln: sogar in der brennenden Sonne sitzest du und häkelst.”

Volksdichtung aus Indonesien
Sagen, Tierfabeln und Märchen
Übersetzt von T. J. Bezemer
1904