Dienstag, 31. Mai 2011

Die Grille

Eine Grille, namens Helene, zirpte vom 1. Juni bis 31. Juli (einundsechzig Tage) ununterbrochen, bis ihr der Stoff ausging. Darauf setzte sie sich ihren Kapotthut auf, hängte sich ihre altmodische Markttasche um und begab sich eiligst in die nächstgelegene Klein-bzw. Mittelstadt. Sie trat in ein Posamenteriewarengeschäft und sprach:

»Ich möchte siebentausend Meter Stoff.« Der gelbhaarige Kommis errötete bis in die Haarspitzen und klappte sein Mundwerk wie eine Unke verwundert auf und zu:

»Wie bitte?«

Bereitwillig wiederholte die Grille:

»Ich möchte siebentausend Meter Stoff«.

Der Kommis schwänzelte:

»Sieben-tausend Me-ter Stoff! Zu Diensten, gnädige Frau. Wir werden das Gewünschte durch einen Grossisten besorgen lassen. Darf ich fragen, welchen Stoff Sie benötigen?«

»Siebentausend Meter Stoff«, sagte die Grille und bekam vor Aufregung einen grünen Kopf.

Der Kommis knabberte erregt an seinen Fingernägeln.

»Gnädige Frau,« flötete er, »darf ich fragen, von welchem Stoff?«

»Siebentausend Meter Stoff«, sagte die Grille.

Der Kommis wippte wie eine Spitzentänzerin auf seinen Zehen:

»Gnädige Frau, von welcher Art darf der Stoff sein: Seide? Voile? Leinen? Samt? Barchent? Wolle? Crêpe de Chine?«

»Stoff«, sagte die Grille.

Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie fiel schwer ächzend in einen Lehnstuhl. Ihr Kleid knackte in allen Nähten. Veitstänzerisch schwankte der Kommis. Sein Ruf klang hilfeheischend wie der Schrei des Nebelhornes in dunkler Nacht.

»Was für ein Stoff, gnädige Frau?«

»Stoff«, sagte die Grille, »einfach Stoff.«

Der Kommis bullerte:

»Wozu benötigen Sie den Stoff, gnädige Frau?«

Die Grille raunzte ärgerlich:

»Wozu? Frage? Zum Zirpen natürlich...«

»Zum – Zirpen –?«

Der Kommis platzte wie ein aufgeblasener Frosch.

Das gab Stoff – für die Reporter – siebentausend Zeilen.

Die Grille ging leer aus.

Klabund
aus: Kunterbuntergang des Abendlandes
München 1922

Montag, 30. Mai 2011

Die Gans

Die Gans von Putlitz

Einst tadelte die Gans den Enten ihren Gang;
Pfuy! sprach sie, müßt ihr denn so unanständig hinken?
Was Henker, fehlt euch denn? Ihr seyd vielleichte krank,
Sonst würdet ihr wohl nicht zu ganzen STunden lang
Dem Tode mit dem Steisse winken;
Ihr saust euch, wie es scheint, nach Art der menschen, voll,
Und wetzt darnach durch alle Gassen;
Mir graut schon, wenn ichs sehen soll,
Man muß euch auch nur bloß des Ganges wegen hassen;
Ich bitte, was euch schimpft, das unterlasset doch!
Wenn meine Kinder also giengen:
So wollt ich, daß sie heut enoch
Beym Feuer an dem Spiesse hiengen;
Gotte ehre mir mein Volk! Von dem, wofern ihr wollt,
Lernt, wie ihr Fuß und Leib geschickt bewegen sollt,
Und ohne daß ihr euch so unanständig renket,
Und Kopf und Schweif bald Ost
bald wieder Westwerts schwenket.
Du rühmst dich ohne Grund, sprach eine Ente drauf,
Weil deine Kinder deine sind:
So bist du, als ein Narr, bey ihren Fehlern blind;
Betrachte doch einmal nur ihren Gang und Lauf!
Sie watscheln, wie du siehst, so sehr
Als unsre Kinder immermehr.
***
Ihr Eltern, seht hier euer Bild!
Was eure Tadelsucht an fremden Kindern schilt,
Das behaltet ihr an eurer Jugend,
Wie hier die dumme Gans, wohl gar für eine Tugend.
aus: Daniel Stoppe
Neue Fabeln
Erstes Buch
1745

Die Gans vom Putlitzer Preis

Montag, 16. Mai 2011

Ein kostenloses Hörbuch

Fabelhaft ist es, das ab heute ein kostenloses Hörbuch mit einer Liebesgeschichte von mir heruntergeladen werden kann, und zwar dort.

Horst-Dieter Radke

Samstag, 14. Mai 2011

Die Fabellehre

Die Fabellehre, plur. die –n, die Lehre oder Wissenschaft der gottesdienstlichen Fabeln der ältern Völker; die Mythologie.

Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart
mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten besonders aber der Oberdeutschen
von Johann Christoph Adelung
Zweiter Theil, von F - L.
Wien, 1808

Eine Buddha-Legende

Bildquelle:Wikipedia

Der gute Budda Otschirwani hatte einmal zufällig eine, vom bösen Dokschit zubereitete Schale, in welche die von diesem Dämon für das Menschengeschlecht angeschafften Übel und Kummer eingegossen waren. Otschirwani hatte Erbarmen mit den Menschen und beschloss, das für sie Bestimmte zu vernichten. Doch wohin solches thun? Die Schale irgendwo im Himmel oder in den Wolken verwahren – Dokschit wird sie suchen und gewiss finden; den Inhalt auf die Erde schütten – gerade dies ist nötig, um die Absichten des Feindes der Menschheit zu erfüllen ... Und der gute Budda beschloss, allein in sich selber alles für die Menschen zubereitete Übel zu fassen: mögen sie, die Millionen, glückselig sein, er allein wird für sie leiden! Otschirwani erfasste mit seiner göttlichen Hand die Schale mit dem Übel und trank sie ganz, in einem Zuge, bis zum letzten Tropfen aus. Seit jener Zeit leidet er unbeschreiblich: sein Körper war blau von der Höllenpein und brennt in ewigem Feuer; sein Gesicht ward tierisch; er stösst furchtbare Wehklagen aus; seine Arme und Beine winden sich, so dass er nicht mehr die ruhig beschauliche, einem Budda gebührende Haltung bewahren kann. Und dennoch erreichte seine Selbstaufopferung nicht vollständig ihr Ziel: er vergass die Schale des bösen Dokschit abzulecken und der Feind der Menschheit bemühte sich, das Gefäss leer findend, von dessen Wänden aufzusammeln, und sammelte noch einen Tropfen Unglücks zusammen, den er dann auch auf die Erde warf. Und dieser Tropfen war es nun, der all das Übel und Elend erzeugte, in denen das Menschengeschlecht bis auf den heutigen Tag verharrt. Wie gross aber wäre jetzt das Leiden der Menschheit, wie böse wären die Leute, wenn Otschirwani nicht fast den ganzen Inhalt der grossen Schale ausgetrunken hätte! ... Wegen dieser grossherzigen That aber wird er gleich den anderen grössten Buddas verehrt und, ungeachtet seines schrecklichen Aussehens, der gute Gott genannt.

Seidel, A. (Hg.)
Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur
Weimar, 1898

Sonntag, 8. Mai 2011

§ 383

Zwei Chinesen in Europa waren zum ersten Mal im Theater. Der eine beschäftigte sich damit, den Mechanismus der maschinerien zu begreifen; welches ihm auch gelang. Der andere suchte, trotz seiner Unkunde der Sprache, den Sinn des Stückes zu enträthseln. – Jenem gleicht der Astronom, diesem der Philosoph.

Arthur Schopenhauer

Samstag, 7. Mai 2011

Die Fischotter kurirt


Die 75. Fabel

Ein Wolf ward einsmals von einem hitzigen Fieber angegriffen. Die Fischotter bot ihm darauf ihre Dienste an, mit der Versicherung: sie wollte das Fieber in wenigen Tagen vertreiben. Der Wolf unterwarf sich auf diese Versicherung ihrer Kur; aber den Tag darauf starb er. Dadurch entstund zwischen der Fischotter und den Anverwandten des Verstorbenen ein Proceß; denn diese bestunden darauf: Die Arzteney habe ihn aus der Welt geschafft. Die Fischotter hingegen meynte, sie habe ihrem Versprechen Folge geleistet, und diesfalls habe sie ihre Bezahlung verdient. Sie sagte: Der Patiente starb zwar, aber das Fieber verließ ihn in der bestimmten Zeit.

Diese Fabel zeiget, daß auf diese Art die größten Krankheiten zu kuriren sind. Ja diese Kur schläget niemals fehl.

Moralische Fabeln mit beygefügten Erklärungen einer jeden Fabel
Aus dem Dänischen des Herrn Barons von Holberg
übersetzt durch J.A.S.K.D.E.
Leipzig 1752

Mittwoch, 4. Mai 2011

Hugin und Munin

Bildquelle: Wikipedia

Als Björn ins Zimmer trat, saß Großvater vor einem aufgeschlagenen Buch. Er sah ihm über die Schulter.
„Das ist Odin mit seinen beiden Raben“ erzählte der Großvater. Björn sah sich das großformatige Bild genau an. Ein Mann im braunen Mantel und mit Krone füllte das Bild fast komplett aus. Der Mann hielt ein Schwert mit einer breiten Klinge in der rechten Hand. In der linken hielt er einen langen Stab mit einem sehr spitzen Ende. Auf den Schultern links und rechts saßen zwei Vögel, einer mit geöffnetem Schnabel. Er schien dem Mann etwas ins Ohr zu flüstern. In ungelenken Buchstaben stand links neben der Krone ‚Odinn Huginn‘ und rechts neben der Krone ‚Köngur Muninn‘. Über dem Stab las Björn: ‚Geyrin Gugnir‘.
„Das soll also Odin sein“, sagte Björn.
„Und auf den Schultern siehst du die beiden Raben.“
„Was bedeuten die beiden Raben?“
„Es sind seine Kundschafter. Er schickt sie hinaus in die Welt, damit sie ihm berichten, was vor sich geht. Hugin flüstert ihm dann Morgens ins Ohr, was er gesehen hat, deshalb nennt man ihn auch ‚den Gedanken Odins‘. Munin merkt sich alles, von Anbeginn an und kann Odin berichte, was der längst vergessen hat. Deshalb nennt man ihn auch ‚die Erinnerung Odins‘.“

HDR

Dienstag, 3. Mai 2011

Die Parabel

Die Parabel muss von der Fabel (denn sie ist mit ihr eng verwandt, weil auch sie gänzlich Erdichtung) wohl unterschieden werden, beide beschäftigen sich mit einem Bilde, aber in der Fabel liegt die Lehre in der beigefügten Anwendung des Bildes, in der Parabel in einem Gleichnisse, wie das des Jetham (Richt. 9,8 ff.), welches Gleichnis entweder gedeutet wird oder nicht; die Fabel nimmt ihre Bilder nicht aus der Menschenwelt, wohl aber die Parabel, jene nimmt sich auch aus der Thierwelt, die Parabel nicht. Die Fabel gibt stäts eine Moral, die Parabel nicht bloß diese, sondern sie deutet auf alle Zustände des Lebens, namentlich aber auf Religion; die Fabel kann scherzen, die Parabel ist stäts ernst. Sie ist eine durch ein Gleichniß belehrende Erzählung. Sie bewegt sich gern auf dem Gebiete der Wirklichkeit (was bei der Fabel nie der Fall ist) und stellt gern einen wahrscheinlichen Fall dar (so Jesu meiste Parabeln, z.B. von verlorenen Sohne, von den Arbeitern im Weinberge). Sie will eine Idee in einem fortschreitenden Bilde (zum Unterschiede von den Allegorie, deren Bild statarisch ist) entwickeln, dadurch Belehren, überzeugen, warnen. Der Meister in der Parabel ist Jesus. Ausgezeichnete Parabeln sind außer des schon erwähnten des Jotham, die Bußpredigt Nathan’s an David (2. Sam. 12.), in Lessing’s Nathan die von den drei Ringen. Auch Herder und Krummacher haben auf diesem Gebiete Ausgezeichnetes geliefert.

D.J.G. Scheibel
in: Allgemeine Kirchenzeitung
Sonntag 22. October 1837
Nr. 169, S. 1389 f.

Montag, 2. Mai 2011

Die Fabel

Als didaktische und darum weil mehr nüchterne Erzählung einer erdichteten Begebenheit bezeichnet sich die Fabel; stäts Erdichtung, will sie doch immer belehren und nimmer ihr Bild aus der physischen Welt, dadurch unterscheidet sie sich vom Mährchen; als Bild ist sie eine moralische Allegorie. Aber sie ist mehr, nämlich erzählende, aber auch dialogisierte Darstellung einer Regel der Lebensklugheit oder Lebensweisheit unter einem aus der physischen Welt (namentlich Thier- und Pflanzenwelt) hergenommenen Sinnbilde. Sie besteht aus zwei wesentlichen Theilen, dem Sinnbilde und dessen Anwendung, stäts deutet das Bild auf eine Moral, und diese wird am Schlusse angegeben. so spiegelt sich in der Fabel die Moral in der physischen Welt ab. weil aber die Menschenwelt nicht immer moralisch ist, nimmt der Fabeldichter sein Bild aus der nicht-menschlichen Welt. Der Ton dieser Dichtungsart ist einfach, kindlich, edel, oft scherzhaft, naiv. Herder’s Eintheilung in theoretische, sittliche und Schicksalsfabeln ist überflüssig, denn die Fabel moralisiert stäts. Als ausgezeichnete Fabeldichter nennen wir den Araber Leckman, Aesop, Phädrus, Gellert. Reineke Fuchs ist eine epische Fabelreihe in erzählender und dialogisierter Form.

D.J.G. Scheibel
in: Allgemeine Kirchenzeitung
Sonntag 22. October 1837
Nr. 169 - S. 1389 f.