Mittwoch, 20. Februar 2019

Über Garuda

Vishnu auf Garuda reitend
(Wikimedia commons)


In der indischen Mythologie ist Garuda ein Wesen, halb menschlich, halb Vogel, das Schlangen sucht, tötet und frisst. Er dient dem Gott Vishnu als Reittier. Auch in anderen asiatischen Ländern hat er eine Bedeutung. In Thailand ist er das persönliche Emblem des thailändischen Königs, in Tibet gilt er als eine der vier »Würden«. Das sind Symboltiere, die den vier Himmelsrichtungen zugeordnet sind. Über seine Entstehung erzählt man sich in Indien folgendes:

Der alte Schildkröten-Mann, der Schöpfergott, hatte zwei Ehefrauen: Vinata, den Himmel, und Kadru, die Erde. Während Kadru viele Eier legte, aus denen Nagas (Schlangenwesen) schlüpften, legte Vinata nur drei Eier. Wütend über Kadru und ihre Nachkommen zerbrach Vinata das erste Ei. Zu früh geboren fehlte dem Nachkommen die Gestalt und es entstand der Blitz. Auch das zweite Ei wurde von Vinata zerstört. heraus kam ein schöner Jüngling, dem aber die Beine fehlte. Wütend auf seine Mutter verfluchte er sie und wurde Aruna, die Morgendämmerung. Der Fluch aber machte Vinata zur Sklavin von Kadru. Aus dem dritten Ei aber, das Vinata vollständig ausbrütete, schlüpfte ein mächtiger Dämon: Garuda. Um seine Mutter vom Sklavendasein zu befreien, musste er für Kadru von den Göttern Amrita, das Unsterblichkeits-Elixir, stehlen.

Seither hasst Garuda die Schlangen und stellt ihnen, wo er kann, nach, um sie zu töten und zu fressen.

Samstag, 16. Februar 2019

Die Schlange und die Dirne


Aus Furcht vor dem Vogel Garuda hatte sich eine Schlange in das Haus einer Dirne geflüchtet und dort menschliche Gestalt angenommen. Die Dirne nahm als Geschenk fünfhundert Elefanten, und der Schlangendämon gab ihr auch täglich diesen Lohn kraft seiner Zaubermacht. »Woher nimmt der Herr nur täglich so viele Elefanten, und wer ist der Herr?« Mit diesen Fragen quälte ihn das hübsche Dirnlein, bis endlich der verliebte Dämon plauderte: »Sag es aber niemand! Aus Furcht vor dem Garuda halte ich mich hier verborgen; denn ich bin ein Schlangendämon.« Und von der Buhlerin erfuhr es, als Geheimnis, die Kupplerin.

Nun kam auch dahin der Vogel Garuda, der die Welt nach Schlangen durchsuchte; er war in Menschengestalt. Er ging zur Kupplerin und sagte: »Madame, ich möchte heute im Hause ihrer Tochter bleiben. Was nimmt sie als Geschenk dafür?« Sie sprach; »Ein Schlangendämon ist hier, der gibt täglich fünfhundert Elefanten; wir haben es nicht nötig, uns für einen Tag was schenken zu lassen.« Nun wußte Garuda, daß ein Schlangendämon da sei, und betrat als Gestalt die Wohnung der Buhlerin. Da erblickte er auf dem Söller des Hauses die Schlange, offenbarte sich in seiner wahren Gestalt, flog auf, tötete und fraß die Schlange auf.

Deshalb wird ein kluger Mann nie vor Frauen ein Geheimnis ausplaudern.

Indische Erzählungen
Aus dem Sanskrit zum erstenmal ins Deutsche übertragen
von Dr. Hans Schacht
Edwin Frankfurter Verlag
Lausanne und Leipzig
1918