Samstag, 31. Dezember 2016

Die Legende Silvesters …

By Unknown medieval artist in Rome [Public domain or Public domain], via Wikimedia Commons


Die Legende Silversters, offenbar erdichtet, um die römische Taufe Constantins zu beglaubigen, muss schon am Ende des 56en Jahrhunderts verfertigt worden sein. Sie ist aus Einem Gusse und trägt keine Spuren späterer Einschaltungen. Der Griechische Text, in welchem sie erhalten, ist augenscheinlich eine Uebersetzung aus dem Lateinischen, der wohl in Rom geschrieben wurde. In dem ganzen Dokumente findet sich nicht ein historischer Zug. Constantin ist zuerst ein Feind der Christen, lässt Viele und darunter seine eigne Gemahlin, da sie den Götzen nicht opfern wollen, hinrichten, so dass Silvester sich nach dem Gebirge Soracte flüchtet. Der Kaiser, mit dem Aussatz behaftet, soll, um zu genesen, sich in einem mit frischen Knabenblute gefüllten Teiche baden, aber durch die Thränen der Mütter dieser Knaben erweicht, verzichtet er auf das grausame Heilmittel und wendet sich, durch eine himmlische Vision belehrt, an Silvester, der ihn durch die christliche Taufe von der Krankheit heilt, worauf ganz Rom, Senat und Volk, an Christus glaubt. Eingeflochten sind noch zwei Episoden. die eine von der grossen Schlange unter dem Tarpeischen Hügel, die mit ihrem Gifthauche Tausende tödtet, bis Silvester die Pforten ihre Höhle verschliesst; und dann eine lange, durch Helena veranlasste, für Silvester siegreiche Disputation mit den Juden.
Der Verfasser hat die Kirchengeschichte des Eusebius gekannt, er will, wie er im Eingange sagt, die Berichte derselben ergänzen; aber die Biographie Constantins, welche der Taufe des Kaisers gedenkt, hat er entweder nicht gekannt, oder er hat doch Unbekanntschaft mit derselben bei seinen Lesern vorausgesetzt. Und wirklich ist es ihm gelungen, seiner Fabel, trotz der so bestimmten und einhelligen Zeugnisse des vierten Jahrhunderts, Eingang zu verschaffen. Selbst die Chronik des Hieronymus, der man doch sonst in geschichtlichen Dingen unbedingt folgte, unterlag zuletzt in dieser Frage.

Johann Joseph Ignaz von Dollinger
Die Papst-Fabeln des Mittelalters
1863

Papst Silvester I., von 314 bis zu seinem Tod am 31. Dezember 335 Papst, gilt für die römisch katholische Kirche als Namensgeber für den 31. Dezember, für die griechisch- und bulgarisch-orthodoxen Kirchen am 2. Januar und für die russisch-orthodoxe Kirche am 15. Januar.

Freitag, 30. Dezember 2016

Der Sperling und der Strauß

"Sei auf deine Größe, auf deine Stärke so stolz wie du willst", sprach der Sperling zu dem Strauße; "ich bin doch mehr ein Vogel als du. Denn du kannst nicht fliegen, ich aber fliege, obgleich nicht hoch, obgleich nur ruckweise."

Der leichte Dichter eines fröhlichen Trinkliedes, eines kleinen verliebten Gesanges, ist mehr ein Genie, als der schwunglose Schreiber einer langen Hermanniade.

Gotthold Ephraim Lessing

Donnerstag, 29. Dezember 2016

Der Knabe und der Hund

Von einem Hund geleitet, schlich
Ein blinder Greis an seinem Stabe
Durch eine Stadt. Ein wilder Knabe,
Der Spitzbarts Israelchen glich,
Schnitt, um sich einen Spaß zu machen,
Des Manne’s Compas, den Strick entzwey.
»Flieh,« - sprach er. - »Phylax, du bist frey;
»Dein Graukopf mag sich selbst bewachen.«
Der Pommer fuhr dem kleinen Wicht
Voll edlen Grimmes an die Waden,
Und sagte: »Nein, ich fliehe nicht,
»Du willst mir wohlthun, um zu schaden.«

Fünfzig Fabeln und Bilder
aus der Jugendwelt.
Von
Wilhelm Corrodi
Zürich, 1876, Zweite Auflage

Sonntag, 18. Dezember 2016

Die Muse und Phädrus

»Du willst nutzen«, sagte die Muse zu Phädrus: »Warum sagest du also dem Menschen die Wahrheit nicht, wie sie an sich selbst ist? Warum lehrest du in Bildern?«

»Ich will nutzen«, antwortete Phädrus, »und eben darum lehre ich in Bildern.«

Die nackte Wahrheit sieht, und liest, und hört Niemand gern.

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Mittwoch, 7. Dezember 2016

Der Affe und der Hund

Ein Urang-Utang hatte sich
Mit Menschenkleidung säuberlich
Nach neuster Mode ausgeschmückt.
Den Hut in seine Stirn gedrückt
Trat er nun seine Wallfahrt an,
Und zwar mit solchem Schaugepränge,
Als wär' er Sultan Soliman,
Und ihm die weite Welt zu enge.

Das Dörflein sah den fremden Herrn,
Und wich ihm aus, un grüßte ihn von fern.
Doch als im seligen Genuß
Der hohen Würde Petz zum Genuß
Den großen Hut vom Kopfe nahm,
Und man ihm in die Augen sah,
Da hieß es: Seht den Narren da!
man rief und schrie und zischt' ihn aus.

Petz aber lief voll Gram und Scham;
Und als er nun nach Hause kam,
Sprach er zu Phylax seinem Freund:
Ich habe wunderfest gemeint,
Daß ich dem Herrn der Thiede glich,
Und sieh! man verspottet mich,
Und treibt mich fort mit Ungestüm!

Ey! Sprach der Hund, du gleichst ihm
Aufs Haar; allein bloß äußerlich,
Deshalb, mein Freund, verlacht man dich.

***

Der reiche Star will auch ein Denker seyn.
Das Sein ist schwer; er wählt den Schein;
Sein Bildersaal, sein blanker Bücherschrein
Verkünden dir den weisen Mann,
Doch Jammer! Niemand glaubt daran.

Vaterländische Unterhaltungen
Ein belehrendes und unterhaltendes Lesebuch
zur
Bildung des Verstandes, Veredlung des Herzens, Beförderung der Vaterlandsliebe und gemeinnütziger Kenntnisse
für die Jugend Österreichs
von Leopold Chimani
Dritter Teil
Wien 1815, Im Verlage bey Anton Doll

Montag, 5. Dezember 2016

Wie aus dem Wolf was Nützliches wurde


Jetzt aber raus, dachte sich der Wolf und sprang aus dem Fenster, bevor der
Jäger ihn sah. Wat is los? Steht da plötzlich so ein kleines Mädchen
mitten aufm Weg vor ihm.
"Hömma, jetz is Schluss mitten auffressen vonnne Omas anderer Leute."
"Äh" sagte er Wolf. Dat Mädchen wedelte mit sonnen Stab inne Luft, und ratzfatz war dat Untier weg un stattdessen stand da wat ganz nützliches vor ihr aufm Weg. Steckt sie inne Tasche und macht seitdem lecker Spritzgebäck mit dem Wolf, durch den sich allet drehen ließ. Auch Plätzkenteig. Der alte Wolf, innen drin, dreht immer noch durch.

Amos Ruwwe

Sonntag, 4. Dezember 2016

Der Ichnevmon *) und der Ibis


An den Ufern des Nils begegnete Ichnevmon dem auf die Opfer stolzen Ibis, welche ihm die dankbaren Aegypter brachten, weil er ihr Land von schädlichem Ungeziefer wohlthätig reinigte. In der That, Ibis, sagte er, wenn man dem Muthe Gerechtigkeit wiederfahren ließe, so würde man mir, als dem Ueberwinder des Krokodils, diese Altäre rauchen sehen, welche man dir bestimmt, der du deine Siege auf elendes machtloses Gewürme einschränkest. Vielleicht, versetzte der Ibis, würde man diesen Muth, den du von dir preisest, nicht an dir wahrnehmen, wenn die Leber des Krokodils nicht zu viel Reizungen für deinen Gaumen hätte.

*) Der Ichnevmon ist ein kleines Thier, welches nach Plinius und andrer Zeugniß, der gefährlichste Feind des Krokodils ist, dem er im Schlaf in den offenen Rachen kriecht und die Leber abfrißt. Der Ibis aber ist eins chwarzer Vogel, der viel ähnliches mit dem Storche hat.

Wilhelm Ehrenfried Neugebauer, 1761

Donnerstag, 1. Dezember 2016

Sagen und Legenden des Mittelalters



Seit kurzem ist ein neues Buch von mir erhältlich: Sagen und Legenden des Mittelalters. Das Besondere ist, das nicht einfach Sagen abgedruckt werden, sondern durch vorsichtige Bearbeitung lesbar gemacht wurden und zusätzlich zu jeder Sage Hintergrundwissen vermittelt wird. So sind die Sagen heute besser zu verstehen.

Mittwoch, 30. November 2016

Der Wanderer und der Vielfraß

Ein Wandrer ruhte unter einem Baume, auf dem sich ein Vielfraß befand. Der Wandrer erblickte das Thier, sprang von der Erde auf, und lief davon.
»Halt!« rief der Vielfraß; »Komme zurück, und fürchte mich nicht.« Der Wandrer kehrte um, und fragte:
»Was bist du für ein Thier?« »Ich bin der Vielfraß«, war die Antwort, »und fresse ein Pferd oder Rennthier auf ein Mahl, ohne davon satt zu werden.« »Das ist viel«, versetzte der Wandrer, »da du nur so groß, als ein MetzgerHund bist.«
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Gibt es nicht auch gewisse Menschen unter uns, die ganze Häuser verschlucken, Wiesen und Felder verdauen, und ganze Herden verzehren, ohne davon – satt zu werden?

Joseph Krause
Fabeln für unsre Zeiten und Sitten
Strasburg und Mainz, 1801

Freitag, 25. November 2016

Die zween Füchse

Die zween Füchse

Zween Füchse giengen lange mit einander auf den Raub aus, endlich wurden sie in einer Falle gefangen.

Besorgt um ihr Leben sassen sie in dem Gefängniß, und unterhielten sich mit einem tröstenden Gespräche. Unter andern sagte der ältere Fuchs zu dem jüngern: Beyde werden wir ja doch nicht um das Leben kommen, und wenn einer von uns davon kömmt, welcher meinst du, Bruder! würde es wohl seyn?

Ich zweifle nicht, du wirst es seyn, erwiederte der jüngere Fuchs; den du bist ein größerer und älterer Dieb als ich.

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Montag, 21. November 2016

Der Bettler und der Tod

Ein elender Bettler rief oft den Tod, und der Tod hörte ihn nicht.
Endlich überfiel er ihn von ohngefähr, und fragte ihn: was willst du?
Herr! antwortete der Bettler, daß ich reicher werde, und zu leben habe.

Heinrich Brauns
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Joahnn Nepomuk Fritz,
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Montag, 14. November 2016

Der Nagel


»Ewig halte ich Euch schon«, sagte der Nagel zu den Brettern. »Ich bin es nun leid.« Damit lockerte er sich, die Bretter brachen auseinander und der Nagel fiel zu Boden. Er rollte in eine Ritze, versteckte sich, und seufzte erleichtert auf, nun bar aller Verpflichtungen zu sein. Doch die Erleichterung schwand mit der Zeit. Feuchtigkeit machte sich in der Ritze breit, Rost fraß an ihm. Mehr und mehr spürte er seine Vergänglichkeit. »Bretter, wo seid ihr?« rief er. »Ich komme zurück und halte euch wieder!« Doch seine Rufe verhalten ungehört. Die Bretter hielt längst ein anderer Nagel.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 8. November 2016

Ein fabelhaftes Angebot


Weihnachten naht! Unerbittlich. Wer in Panik gerät, wenn die Gedanken auf die Geschenke kommen, kann sich jetzt beruhigt zurücklehnen. Es gibt ja »Puff und Poggel«, die Krimireihe aus den 1950er Jahren. Alfred Poggel, Kriminalkommissar und seine Zimmervermieterin Anna Puff ermitteln - im Schmwarzmarktmilieu, unter Falschmünzern, in katholischen Kinderheimen und in der boomenden Autobranche. Drei Bände gibt es bislang, alle sowohl als Druck- wie als E-Book-Ausgabe zu haben.

Ich habe beim Sutton-Verlag für die ersten beiden Bände jeweils ein kleines Kontigent mit günstigem Autorenrabatt locker gemacht. Wer also die Bücher nicht kennt oder gerne weiterverschenken will, kann sie für eine kurze Zeit bei mir für 5 Euro inklusiv Versandkosten bekommen (solange der Vorrat reicht). Auf Wunsch auch mit Signatur (Signatur von beiden Autoren allerdings mit Aufschlag von 1 Euro, weil ein Postweg mehr dazu kommt). Damit sich die Autoren auch wieder die Butter für die Brötchen leisten können, ist ein schneller Abverkauf erwünscht.

Also, per Mail (blog[at]hd-radke.de), Chat oder Anruf bei mir melden, wer ein oder mehrere Exemplare haben möchte. Wer sich ersteinmal gründlich über Puff & Poggel informieren möchte, bekommt gegen 1 Euro eine informative und spannende Überraschungssendung.

Montag, 7. November 2016

Wildschwein und Frosch schwimmen um die Wette

Lambo, das Wildschwein, begegnete eines Tags am Rande eines Reisfeldes Boketra, dem Frosch. Der Große sah auf den Kleinen herab und sagte: »Verhalte dich ruhig und plantsche nicht im Wasser, wenn du dabei soviel Lärm machen mußt!« – »Mein Lieber,« antwortete Herr Boketra, »ist's auch schon recht, daß du der Große bist, so verbitte ich's mir doch ernstlich, so anmaßend zu mir zu sprechen. Bist du wirklich so stark wie du scheinst? Laß uns einmal unsere Kräfte im Schwimmen messen.« – »Halt den Mund und belästige mich nicht obendrein. Ich nehme es mit hundert deinesgleichen auf.« – »Gewiß, sehr wohl! Ich weiß, daß du sehr kräftig bist. Aber vielleicht bin ich dir doch im Schwimmen über.« – »Schön, einverstanden! bei Neumond treffen wir uns wieder, jeder bringt seine Angehörigen mit, die dann dem Austragen des Wettstreites in der Großen Lagune in Amparihilara zuschauen sollen.«

Vor dem Kampfe dachte sich nun Boketra eine List aus. Er bat mehrere andere Frösche, sich hier und dort in der Lagune, wo die Schwimmer vorbei mußten, zu verstecken, und etwa von Herrn Lambo gestellte Fragen richtig zu beantworten.

Als die beiden Gruppen beieinander waren, hielten ihre Führer einen Rat ab, um zu beschließen, was mit dem Besiegten geschehen sollte. Man kam überein, daß er mit seiner ganzen Familie hinzurichten wäre. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Wildschweine durchaus nicht glaubten, daß eine Niederlage ihres Kämpen überhaupt möglich war.

Die Schwimmer starteten also. Der eine verließ sich allein auf seine Kraft; er schwamm mit kräftigen Stößen vorwärts, und das Wasser spritzte um ihn hoch auf; der andere hielt sich zurück. Herr Lambo befand sich bald mitten im See. Seine Verwandten feuerten ihn durch Zurufe an. Doch fühlte er sich plötzlich matt und matter werden; er wandte den Kopf nach rechts, nach links, um zu sehen, wieviel er wohl seinem Gegner voraus war. Sofort rief ihm ein Frosch zu: »Na, noch ein bißchen und du hast ihn um ein gutes Stückchen überholt.« – »Wo steckt denn mein Gegner?« fragte das Wildschwein. »Hier bin ich!« antwortete hinter ihm ein anderer Frosch. Da begann das Schwein mit verstärkter Anstrengung wieder weiter zu schwimmen.

Ein wenig später wiederholte sich das gleiche Spiel. Als der erschöpfte Herr Lambo den Mund öffnete, um sich nach seinem Gegner zu erkundigen, drang ihm das Wasser in den Schlund, und er ertrank.

Die anderen Schweine, die am Ufer zurückgeblieben waren, wurden durch den plötzlichen Tod aufs höchste überrascht. Wütend über die Frösche, die dem Sieger zujubelten, wollten sie sich auf die kleinen Kerle stürzen, um sie zu verschlingen; doch die sprangen sämtlich ins Wasser und entkamen so ihren Feinden. Seither sind Frösche und Schweine keine Freunde mehr gewesen.

Hambruch, Paul:
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde.
Jena, Eugen Diederich, 1922.

Mittwoch, 2. November 2016

Der kreißende Berg

Der kreißende Berg

In dem Innern eines Berges vernahm man einst ein fürchterliches Getöse. Alle benachbarten Leute liefen voller Neugierde herbei, um die Ursache dieses Lärmens zu entdecken, und vermuteten nichts weniger, als dass der Berg noch einen andern gebären würde. Aber wie sahen sie sich getäuscht, als es nach einer Weile wieder ruhig wurde, und sie eine Maus erblickten, welche aus dem Berg hervorkam. »Also einer Maus wegen,« - riefen die Zuschauer lachend – »hat der Berg diesen schrecklichen Lärm gemacht?« und ihn verspottend, entfernten sie sich.

Anwendung

So wie der Berg machen es viele Prahler, die vorher von ihren Projekten und Plänen so große Dinge sprechen, daß sie die Neugierde und Erwartung aller Zuhörer auf’s höchste spannen, und am Ende nur etwas sehr Geringfügiges oder gar Erbärmliches an den Tag bringen, wodurch sie sich verdienterweise Spott und Gelächter zuziehen, und von sich sogar sagen lassen müssen, daß sie viel Geschrei gemacht und nichts Erhebliches hervorgebracht haben.

Äsop

Montag, 20. Juni 2016

Parabel

Es ereigneten sich einst allerlei seltsame Erscheinungen, worüber die Menschen in Sorge und Angst gerieten, weil nur eine schlimme Vorbedeutung darin erkannt werden konnte. Feurige Drachen stiegen aus der Erde, und einer verschlang den andern; Todtensärge schwebten in den Lüften, und drüber her lagen weiße Knochen und blanken Schwerter; Gräber öffneten sich, und bleiche, grinzende Larven gingen daraus hervor, mit drohender Bewegung.

Die Leute standen da, fast starr vor Schrecken, und seufzten über diese Zeichen. Unter der Menge befand sich aber auch ein Mann, der lachte höhnisch und sprach: die Umstehenden möchten wohl bethört seyn, ja vielleicht wahnsinnig, denn Er sehe von alle dem nichts, der Himmel sey vielmehr ungewöhnlich klar, und der Boden habe noch nie so viele Blumen und Kräuter getragen.

Die ihm zunächst standen, blickten den Mann mit Erstaunen an, aber bald merkten sie, daß er die Augen hinten am Kopfe habe, und unverrückt nach der Seite hinstarre, wo auch in der That von den furchtbaren Erscheinungen nichts wahrgenommen werden konnte. Sie wollten ihn darüber belehren, der Mann aber hieß sie dummes Gesindel, vom lieben Gott mit Blindheit geschlagen. Er allein sey sehend, und wolle alsbald nach Haus gehen, und es ausrufen und auch drucken lassen, daß sie den Verstand verloren hätten.

Aloys Schreiber

Sonntag, 19. Juni 2016

Parabel

Es ging ein Mann im Syrerland,
Führt' ein Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
Urplötzlich anfing, scheu zu werden,
Und tat so ganz entsetzlich schnaufen,
Der Führer vor ihm mußt' entlaufen.
Er lief und einen Brunnen sah
Von ungefähr am Wege da.
Das Tier hört er im Rücken schnauben,
Das mußt' ihm die Besinnung rauben.
Er in den Schacht des Brunnens kroch,
Er stürzte nicht, er schwebte noch.
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
Aus des geborstnen Brunnens Bauch;
Daran der Mann sich fest tat klammern,
Und seinen Zustand drauf bejammern.
Er blickte in die Höh', und sah
Dort das Kamelhaupt furchtbar nah,
Das ihn wollt oben fassen wieder.
Dann blickt er in den Brunnen nieder;
Da sah am Grund er einen Drachen
Aufgähnen mit entsperrten Rachen,
Der drunten ihn verschlingen wollte,
Wenn er hinunterfallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte
Da sah der Arme noch das Dritte.
Wo in die Mauerspalte ging
Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,
Da sah er still ein Mäusepaar,
Schwarz eine, weiß die andere war.
Er sah die schwarze mit der weißen
Abwechselnd an der Wurzel beißen.
Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
Die Erd' ab von der Wurzel spülten;
Und wie sie rieselnd niederrann,
Der Drach im Grund aufblickte dann,
Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
Der Strauch entwurzelt fallen würde.
Der Mann in Angst und Furcht und Not,
Umstellt, umlagert und umdroht,
Im Stand des jammerhaften Schwebens,
Sah sich nach Rettung um vergebens.
Und, da er also um sich blickte,
Sah er ein Zweiglein, welches nickte
Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;
Da konnt' er doch der Lust nicht wehren.
Er sah nicht des Kameles Wut,
Und nicht den Drachen in der Flut,
Und nicht der Mäuse Tückespiel,
Als ihm die Beer' ins Auge fiel.
Er ließ das Tier von oben rauschen,
Und unter sich den Drachen lauschen,
Und neben sich die Mäuse nagen,
Griff nach den Beerlein mit Behagen,
Sie däuchten ihm zu essen gut,
Aß Beer auf Beerlein wohlgemut,
Und durch die Süßigkeit im Essen
War alle seine Furcht vergessen.

Du fragst: Wer ist der töricht Mann,
Der so die Furcht vergessen kann?
So wiß, o Freund, der Mann bist du;
Vernimm die Deutung auch dazu.
Es ist der Drach im Brunnengrund
Des Todes aufgesperrter Schlund;
Und das Kamel, das oben droht,
Es ist des Lebens Angst und Not.
Du bist's, der zwischen Tod und Leben
Am grünen Strauch der Welt muß schweben.
Die beiden, so die Wurzel nagen,
Dich samt den Zweigen, die dich tragen,
Zu liefern in des Todes Macht,
Die Mäuse heißen Tag und Nacht.
Es nagt die schwarze wohl verborgen
Vom Abend heimlich bis zum Morgen,
Es nagt vom Morgen bis zum Abend
Die weiße, wurzeluntergrabend.
Und zwischen diesem Graus und Wust
Lockt dich der Beere Sinnenlust,
Daß du Kamel die Lebensnot
Daß du im Grund den Drachen Tod,
Daß du die Mäuse Tag und Nacht
Vergissest, und auf Nichts hast acht,
Als daß du recht viel Beerlein haschest
Aus Grabes Brunnenritzen naschest.

Friedrich Rückert

Sonntag, 1. Mai 2016

Der Wolf im Team

Keineswegs ist ein Wolf im Team ein Fremdkörper, wie ein spezieller Fall im Team des 42er Blogs beweist. Dort hat er sich fabelhaft bewährt. Siehe hier.

Freitag, 8. April 2016


Eine fabelhafte Sammlungen von Sagen & Legenden hat Monika Detering vorgelegt. Sie hat gesammelt, was an interessanten Themen im Münsterland, Ostwestfalen-Lippe, längs der Weser, um Paderborn, in der geheimnisvollen Stadt Bielefeld und auch im Ruhrgebiet in Vorzeiten alles so passiert sein soll. Sagen & Legenden aus Westfalen eben. Und das schönste dabei – Sie hat die Sagen nicht einfach nur zusammengestellt, sondern erläutert und erklärt, wo sich uns heute die Sage nicht mehr so ohne weiteres erschließt. Man ist schlauer nach dem Lesen dieses Buches und das ist, finde ich, eine fabelhafte Sache. Erschienen ist das Buch gerade eben im Regionalia Verlag, Rheinbach (ISBN 978-3-95540-197-9), zu bekommen in jedem Buchladen offline und online und auch im Gemischtwarenhandel.

Montag, 1. Februar 2016

List oder Weisheit?

Einstmals sagte ein König zu seinem Minister: »Minister, welches ist das Vorzüglichere, List oder Weisheit?« Der Minister antwortete: »Die List«. Da wurde der König sehr zornig und sprach: »Warum ziehst du die List der Weisheit vor?« Damit liess er den Minister hinauswerfen. Als der König einen Monat lang gezürnt hatte, rief er seinen Elefantenwärter und sprach: »Hahu, höre meine Worte. Nachdem du einem wütenden Elefanten tausend Mass Branntwein gegeben hast, so lass ihn auf jenen Minister los«. Er liess den Minister kommen und gab ihm reichlich zu essen und zu trinken. Nachdem er gegangen war, begaben sich der König und die übrigen aus dem Palast, der König und die Königin sahen von einem Versteck aus zu. Als der Minister sich hinsetzte und pisste, wurde der Elefant losgelassen. Als dieser wütende Elefant angerannt kam, dachte der Minister: »Weil ich keine Waffen bei mir habe, bin ich verloren«. Er packte einen in der Nähe befindlichen Hund beim Schwanze, und nachdem er ihn dreimal gegen den Elefanten geschwungen hatte, bis der Hund den Elefanten in den Rüssel, so dass dieser erschrocken floh. Als dies der König sah, lachte er sehr, liess den Minister kommen und sprach: »Deine Rede war richtig; die List ist das Vorzüglichere!« Er machte ihn auf der Stelle zum Fürsten, wies ihm einen jährlichen Gehalt von 9000 Stücken Silber an und entliess ihn.

O König, dies ist die Macht der List. Es bedeutet, dass du durch unsere Macht König bist. Wir halten Religion und Sitte durch allerelei List; weil der König etwas Unpassendes befohlen, hat, deshalb waren wir ungehorsam.

Fünf indische Fabeln
Aus dem Mongolischen von Hans Conon von der Gabelentz
Aus einer unveröffentlichten Handschrift der Königl. Bibliothek zu Berlin
mitgeteilt von B. Laufer
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Bd. 52 (1898)

Donnerstag, 28. Januar 2016

Der giftige Fisch

Ein Mann hatte einstmals einen Fisch gefangen, den man Stachelbauch oder Fugu nennt und für giftig hält. Er kannte aber dessen böse Eigenschaften nicht recht und begann, ihn zum Mahle herzurichten, obwohl er doch nicht ohne alle Besorgnis war. Während er mit dem Zubereiten des Fisches beschäftigt war, kam eine hungrige Katze, ergriff ein Stück von dem Fische und lief mit demselben davon. Der Mann verfolgte sie; sie lief deshalb in einen engen Spalt zwischen zwei Häuser, wo sie in Sicherheit war; das Stück Fisch hielt sie fortwährend im Maule.

Der Mann dachte nun, als er von der Verfolgung der Katze zu seiner früheren Beschäftigung zurückgekehrt war, daß seine Besorgnis wohl unbegründet sein müsse, denn wenn die schlaue Katze den Fisch nicht verschmähe, könne er ihm unmöglich schaden. Er begann daher, als sein Mahl fertig war, ruhig den Fisch zu verspeisen.

Die Katze aber hatte, nachdem sie ihre Beute in Sicherheit gebracht, doch auch einige Bedenken gehabt. Sie kam daher aus ihrem Verstecke wieder hervor und sah zu, ob der Mann den Fisch auch wirklich verzehre. Als sie nun sah, daß er ihn wirklich aß, da zögerte sie nicht länger und fraß ihr Stück ebenfalls. Beide, Mann und Katze, starben elendiglich. So täuschen sich die schlauesten oft am allerleichtesten.

Brauns, David
Japanische Märchen und Sagen
Leipzig, 1885

Dienstag, 26. Januar 2016

Russische Fabeldichter

Als Begründer der russischen Fabel gilt Alexander Petrowitsch Sumarokow (1717 - 1777). Sumarokow stammt aus einer adligen Familie, diente u.a. in der militärischen Kanzlei und war eine Zeit lang auch Theaterdirektor. Er schrieb Theaterstücke, Opernlibretti und zwischen 1762 und 1769 Fabeln. Seine Fabeln zeichnen sich durch eine große Geschwätzigkeit aus. A. A. Rževskij (1737 - 1804) ist ein weiterer Dichter, der sich in Rußland der Fabel angenommen hatte. Anders als Sumarokow, der die Prosafabel pflegte, nutzte Rževskij die Gedichtform, teilweise durch druckgrafische Gestaltung, in dem er den Gedichten geometrische Formen gab. Vasilij Ivánovič Májkov (1728-1778) bewunderte Sumarokow, dem er insbesondere in den Fabeln nachstrebte. Bekannt wurde er allerdings durch seine Episteln. Iwan Andrejewitsch Krylow (1769 - 1844) war Hauslehrer und Bibliothekar in Sankt Petersburg. Er veröffentlichte zwischen 1809 und 1843 mehr als 200 Fabeln, von denen eine Auswahl bereits 1842 in deutscher Sprache erschien. Nur am Anfang orientierte sich Krylow an Äsop und La Fontaine, schuf später dann aber eigene Fabeln. Alexander Nikolajewitsch Afanassjew (1826 - 1871) gilt als der »russische Grimm«. Er war Märchensammler und erfasst dabei auch Fabeln.
Horst-Dieter Radke

Mittwoch, 20. Januar 2016

Der Baum



Er lies sich an dem mächtigen Baum am Fluss nieder, lehnte sich mit dem Rücken an. Was war das überhaupt für ein Baum? Eine Buche? Eine Linde? Ein Ahorn? Er hatte überhaupt keine Ahnung. Von Bäumen verstand er nicht viel. Also zog er sein Buch hervor und begann zu lesen, vom Ringeherrn, dem Auenland und dem Fangornwald. So vertieft war er in die Lektüre, dass er nicht merkte, wie langsam und leise knirschend sich zwei starke Äste herunterbogen, ihn umfassten, umklammerten und nach und nach den Druck erhöhten. Erst als das Atmen schwer wurde, merkte er auf. »Was? … Lass mich los!« Doch so sehr er sich mühte, er kam nicht mehr frei. Immer kräftiger drückten ihm die Äste die Brust und den Atem ab. »So soll es allen gehen«, wisperte es aus den Zweigen, »die aus meinen Brüdern schnödes Papier machen und dies mit Schwärze beschmutzen.«

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 19. Januar 2016

Nathan

Nathan, ein Prophet und weiser Lehrer zu Salem, saß unter seinen Jüngern und die Worte der Lehre und der Weisheit flossen wie  Honig von seinen Lippen.

Da sprach einer seiner Jünger, Gamaliel: Meister wie kommt es, daß wir so gern deine Lehren empfangen, und alle horchen der Rede deines Mundes?

Da lächelte der bescheidene Lehrer und sprach: heißt mein Name nicht Nathan (Geben?) – der Mensch nimmt ja gerne, wenn man nur zu geben weiß!

Wie giebst du denn? fragte Hillel, ein anderer von denen, die zu seinen Füßen saßen.

Und Nathan antwortete: Ich reiche euch den goldenen Apfel in silberner Schaale. – Die Schaale empfanget ihr, aber ihr findet den Apfel.

Parabeln, oder Gleichnisse aus der Natur gezogen
mit anmuthigen Erzählungen und lehrreichen Bildern geziert
vorzüglich der Jugend und allen Ständen gewidmet
Friedrich Adolf Krummacher (Hrsg.)
Bregenz, 1810

Sonntag, 17. Januar 2016

Buddha im Schnee


Eines Tages wurden Buddha und seine Jünger beim Meditieren bereits morgens vom Schnee überrascht. Während seine Jünger nach und nach aufhörten zu meditieren, blieb der Buddha in seiner Versenkung und rührte sich nicht. Es wurde Mittag, die Jünger liefen frierend und zitternd herum, sich mit den Armen sich auf Brust und Schulter schlagend. Keiner wagte es, den Erhabenen aus seiner Versenkung zu holen. Nur Ananada befreite ab und zu den Meister von allzu großer Schneelast. Am frühen Nachmittag hörte der Schneefall auf, die Sonne kam durch und schmolz den Schnee wieder weg. Noch vor Sonnenuntergang schüttelte sich der Buddha, stand auf, schaute um sich und sah nur bibbernde Mönche.

»Was ist los?« fragte er. »Warum friert ihr? Wärmt euch die Sonne nicht, die gerade dabei ist, mit einem wunderschönen Rot für die Nacht zu verschwinden?«

»Habt ihr nicht gefroren, Meister? Wir hatten den ganzen Tag über Schnee und eisigen Wind!«

Buddha lächelte. »Vielleicht hatten wir Schnee und vielleicht war es kalt. Ich war jedoch nicht da. Wie konnte ich da frieren?«

Der Kater, dem Buddha schon einige Male begegnet war, schnurrte, während er noch mit seinen Jüngern sprach, heran und rieb sich an seinem Bein. Auf seinem schwarzen Fell glänzten noch wenige Schneekristalle. »Auch er war nicht anwesend«, sagte Buddha, »und hat folglich nicht gefroren.«

»In einer Höhle wird er gewesen sein, in irgend einem Unterschlupf. Das Katzenvieh ist viel zu bequem um der Kälte zu trotzen«, schimpfte ein Jünger.

»Oder zu schlau«, sagte Buddha. »Wer wird auch so dumm sein, im Schnee und in der Kälte auf und ab zu laufen ohne sich unterzustellen.«
apokryphe Buddha-Legende aus dem 21. Jh.
aufgeschrieben erstmals von
 Horst-Dieter Radke

Samstag, 9. Januar 2016

Die beiden Hunde

Längs einem Strom in einem Felsenschlunde,
Ging einst ein Edelmann,
Und ihn umhüpften seine beiden Hunde:
Joli und Soliman.

Joli, das Windspiel, sprang mit tausend Possen
Hinan an seinen Herrn,
Und wird geküßt, indessen steht verstoßen
Der arme Pudel fern,

Den armen liebt man nicht, er kann nicht schmeicheln,
Zu finster ist sein Blick,
Und statt den treuen, wie Joli, zu streicheln,
Stößt man ihn stets zurück.

Nun aber wankt der Herr am steilen Strande
Mit ungewissem Fuß
Und stürzet plötzlich von dem glatten Rande
Des Abgrunds in den Fluß.

Indes Joli mit Furcht und bangem Bellen
Am hohen Ufer steht,
Sich in dem Silberspiegel glatter Wellen
Begaffet und dann geht,

Stürzt sich der brave, stets verschmähte Pudel
Hinab vom hohen Strand,
Entreißet mühsam seinen Herrn dem Strudel
Und trägt ihn froh ans Land.

O möge diese kleine Fabel lehren,
Wie oft der Schein belügt,
Nur die Gefahr kann einen Freund bewähren,
Die Außenseite trügt.

Ihr Weltenherrscher hasset nicht den Braven,
Weil er nicht niedrig kriecht,
Der erste eurer tiefgebückten Sklaven
Ist oft ein Bösewicht.

Franz Grillparzer