Freitag, 31. Oktober 2008

Wie viele Fabeln der Alten …

Wie viele Fabeln der Alten von menschlichen Ungeheuern und Mißgestalten haben sich durch das Licht der Geschichte bereits verloren! Und wo irgend die Sage noch Reste davon wiederholet, bin ich gewiß, daß auch diese bei hellerm Licht der Untersuchung sich zur schönern Wahrheit aufklären werden.

Johann Gottfried Herder
aus: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,
Zweiter Teil, Siebtes Buch

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Die verliebte Sonne


DER MAGISTER. Als wer Verstand genug hat, in die Natur der Dinge zu dringen. Die Liebe ist eine Übereinstimmung zweener Willen zu gleichen Zwecken. Mich deucht, dies ist sehr adäquat. Oder soll ich Ihnen eine andere Beschreibung geben?

JULCHEN. Nein, ich habe mit dieser genug zu tun. Sagen Sie mir lieber die Fabel. Ich muß zu meiner Schwester.

DER MAGISTER. Ja, ja, die Fabel ist freilich nicht so schwer zu verstehen als eine Kausaldefinition. Sie ist kurz, und sie scheint mir mehr eine Allegorie als eine Fabel zu sein. Sie klingt also: Die Sonne verliebte sich, wie man erzählt, einstmals in den Mond. Sie entdeckte ihm ihre Wünsche auf das zärtlichste; allein der Mond blieb seiner Natur nach kalt und unempfindlich. Er verlachte alle die Gründe, womit ihn einige benachbarte Planeten zur Zärtlichkeit gegen die Sonne bewegen wollten. Ein heimlicher Stolz hieß ihn spröde tun, ob ihm die Liebe der Sonne gleich angenehm war. Er trotzte auf sein schönes und reines Gesicht, bis es eine Gottheit auf das Bitten der Sonne mit Flecken verunstaltete. Und dies sind die Flecken, die wir noch heutzutage in dem Gesichte des Mondes finden. Dies ist die Fabel. Was empfinden Sie dabei?

JULCHEN. Ich empfinde, daß sie mir nicht gefällt, und daß der Verfasser ihrer noch viel machen wird. Ich will doch nicht hoffen, daß Sie diese Erzählung im Ernste für artig halten.

DER MAGISTER. Freilich kann der Verstand bei witzigen Sachen seine Stärke nicht sehen lassen. Aber wie? wenn ich die Fabel selbst gemacht hätte?

JULCHEN. So würde ich glauben müssen, daß die Schuld an mir läge, warum sie mir nicht schön vorkommt.

Christian Fürchtegott Gellert
aus: Die zärtlichen Schwestern, Zweiter Aufzug

Mittwoch, 29. Oktober 2008

Mensch und Tier

Es ist nicht bloß die äußere menschähnlichkeit der thiere, der glanz ihrer augen, die fülle und schönheit ihrer gliedmaße was uns anzieht; auch die wahrnehmung ihrer manigfalten triebe, kunstvermögen, begehrungen, leidenschaften und schmerzen zwingt in ihrem innern ein analogon von seele anzuerkennen, das bei allem abstand von der seele des menschen in ein so empfindbares verhälnis zu jenen bringt, daß ohne gewaltsamen sprung, eigenschaften des menschlichen gemüts auf das thier, und thierische äußerungen auf den menschen übertragen werden dürfen. In mehr als einer sinnlichen kraft thut es uns das thier zuvor, in schärfe des gesichts, feinheit und stärke des gehörs und geruchs, schnelle des laufs und befähigung zum flug; sollten wir ihm nicht zugestehen, neben uns und in der einwirkung auf uns seine besonderheit geltend zu machen?
Jacob Grimm
aus: Reinhart Fuchs, Berlin 1834, S. I/II

Dienstag, 28. Oktober 2008

Der Athener und der Böotier (Parabel)


Ein Athener saß am Gestade, versenkt in die Betrachtung des ewig bewegten Ozeans. Der Wagen des Helios sank dem Lande des Hesperus zu, und glutrot stieg das Gespann des Gottes hinab in das stahlfarbene Meer, einen purpurnen Saum am blauen Kleide des Uranus zurücklassend. Der Athener sank in die Knie, entzückt von der Größe der Erscheinung, die jeden Tag in ihr Grab steigt, um am folgenden Morgen neu geboren zu werden.
Da kam ein Schwätzer.
»Guten Abend, was gaffst du?«, rief er dem Athener zu. »Hast du nicht gehört, daß heute Feigen ausgeschmuggelt worden sind?«
Der Athener wandte sich um und antwortete nicht. Er ging von dannen.
Der andere war ein Böotier.

Edward Stilgebauer
aus der Zeitschrift: Der Floh, 2.1.1910

Montag, 27. Oktober 2008

Der Wolpertinger

auch (je nach Region): Wolperdinger, Woipertinger, Woiperdinger, Volpertinger. In Niederbayern: Oibadrischl, Oberpfalz: Rammeschucksn, Niederösterreich: Raurackl. Bayerisches Fabelwesen, Ursprung und Herkunft unbekannt. Es handelt sich um ein Mischwesen. Das Aussehen kann aber variieren. Mal tritt es als Eichhörnchen mit Entenschnabel auf, dann wieder als Hase mit Entenflügeln oder Hirschgeweih. Der Wolpertinger gilt als sehr scheu und kann, der Legende nach, nur in Begleitung einer jungen und gutaussehenden Frau gesichtet und gefangen werden. Wer es einfacher haben möchte, besucht das Wolpertinger Museum in Mittenwald. Dies »wahre Urvieh aus Bayern« ist auch heute noch ein beliebtes Fabelwesen.

Horst-Dieter Radke

Sonntag, 26. Oktober 2008

Die Raupe und der Schmetterling


Eine kleine Raupe lag,
In ihr Leichentuch gesponnen,
Tot im Angesicht der Sonnen,
Und es war der schönste Tag.

Und ein schöner Schmetterling
Kam geflogen, setzte sich
Still daneben, sagte: Dich,
Kleine Raupe, wird nun bald
Die allmächtige Gewalt,
Die dort oben strahlt, erheben,
Und noch schöner an Gestalt,
Als du starbest, wirst du leben!
Toter! ich will Achtung geben,
Wie du zu dem zweiten Leben
Wirst hervor gehn!

Plötzlich warf
Sie die Schal' ab, ließ sie liegen,
Und der schöne Schmetterling
Sah den neuen Engel fliegen,
Wenn ich ihn so nennen darf.

Johann Wilhelm Ludwig Gleim

Freitag, 24. Oktober 2008

Oh Muse …


O Muse! die du weißt, was Thier’ und Bäume sagen,
Wovon der Vogel singt, was Fisch’ und Wurm beklagen,
Ich bitte, sage mir, wie reden Löw’ und Maus?
Wie drückt sich eine Gans, und wie ein Adler aus?
Wovon schwatzt Schneck’ und Forsch? wie sprechen muntre Pferde?
Was denkt der volle Monde? worüber seufzt die Erde?
Wie redet die Natur? Es läßt ja ungereimt,
Wenn roher Sänger Witz von Wuth der Lämmer träumt,
Die Löwen weinen läßt, die Hasen drohen lehret,
Gewächsen Flügel dreht, und die Natur verkehrt.
Aesopus dichtete natürlich, ohne Zwang,
Aesop, der von der Maus bis an den Löwen sang,
und ohne der Natur was falsches aufzubürden,
Die Thiere reden ließ, wie Thiere reden würden,
Die Wölfe dürsteten nach feiger Lämmer Blut,
Der Hirsch pries sein Geweih, der Uhu seine Brut,
der Panther drohete, der Stier sprach von dem Stalle,
Der Sperling plauderte, der Fuchs belog sie alle.
So sang der Phrygier; nichts, so sich widersprach,
Floß jemals in sein Lied, ihm sang ein Phädrus nach,
und Alle die nach ihm das Fabelreich durchstrichen,
Erhoben ihren Ruhm, so weit sie jenen glichen.
Mein Mund versucht ihr Lied. Wie, wenn es nicht gelingt?
Wer zweifelt, hat gewählt. Es sey gewagt, er singt.

Magnus Gottfried Lichtwer

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Fliege und Spinne


Lange saß die Spinne am Rande des Netzes, bis die Fliege sich darin verfing. Gnädig betäubte sie die Gefangene, bevor sie ihr das Leben aussaugte, um eigenes zu erhalten.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 21. Oktober 2008

Der Wiesel und die Hühner

Nach Recht und Urtheil, mit dem Prügel
Ward vor dem frohen Hausgeflügel
Ein Dieb und and’rer Tullian,
Ein schlimmer Wiesel, abgethan.
Ein Hof voll Hühner sah’ ihn leiden,
Und gackerte dabei vor Freuden.
Nur eine Henne blieb betrübt,
Und sprach: »Man bricht des Räubers Glieder;
Allein die That ist schon verübt,
Wer giebt mir meine Kinder wieder?«

Magnus Gottfried Lichtwer

Sonntag, 19. Oktober 2008

Abraham Emanuel Fröhlich

Bildquelle: Wikipedia

wurde am 1.2.1796 in Brugg (Schweiz) als Sohn eines Lehrers geboren. Er besuchte die städtischen Schulen und studierte seit 1811 in Zürich Theologie. Anfang 1817 wurde er ordiniert und erhielt anschließend die Stelle eines Lehrers an der heimatlichen Lateinschule. 1820 heiratete er seine Jugendfreundin Elisabeth Frei.

Fröhlich war auch an den Künsten, insbesondere der Musik, interessiert. Da er zur Satire neigt und weltoffen war, schuf er sich nicht nur Freunde. Er scheiterte deshalb 1823 bei der Bewerbung um die Pfarrstelle in Brugg. Dies regte ihn an, Fabeln zu schreiben, die zunächst unter dem Namen Demokrit Schmerzenreich in der Zeitschrift »Europäische Blätter« erschienen. 1825 gab es dann eine Buchausgabe mit dem Titel Hundert neue Fabeln unter seinem richtigen Namen. Die zweite Ausgabe musste bereits im Jahre 1829 neu aufgelegt werden. Im Herbst 1827 nahm Fröhlich eine Stelle als Professor der deutschen Sprache an der Kantonsschule in Aarau an, an der er auch von 1832 bis 1833 Rektor war. Er betätigte sich außerdem zwischen 1831 und 1835 als Redakteur der »Neuen Aargauer Zeitung«. Bei der Neuwahl der Kantonsschullehrer wurde er übergangen genauso wie bei der Besetzung der Pfarrstelle von Kirchberg. Der Gemeinderat von Aarau jedoch wählte ihn zum Rektor der Bezirksschule.

Gemeinsam mit seinem Bruder Theodor erarbeitete er ein Gesangbuch (Auserlesene Psalmen und geistliche Lieder für die evangelisch-reformirte Kirche des Cantons Aargau), das er jedoch alleine fertig stellen musste, da der Bruder 1836 Selbstmord in der Aare beging. Das vollendete Werk erschien 1844 und brachte Fröhlich die philosophische Doktorwürde der Basler Universität ein. Fröhlich veröffentlichte mehrere satirische Gedichte (u.a. Der junge Deutsch-Michel, 1843) und zwei Sammlungen Trostlieder (1851 und 1864), die in Folge des Todes der Ehefrau und der Tochter entstanden. Auch epische Gedichte (Ulrich Zwingli, Ulrich von Hutten, Johannes Calvin) sowie Novellen und Erzählungen legte er vor. Als bedeutendste Leistungen werden aber seine Fabeln angesehen. Nach einem Schlaganfall im Sommer 1865 starb er am 1.12. des gleichen Jahres.

Horst-Dieter Radke

Samstag, 18. Oktober 2008

Himmelsschüssler


Bei seines Waldes Leuten
den Glauben zu verbreiten,
der einzig selig macht,
sang Uhu seinem Chor,
durchwachend manche Nacht,
die Trauerpsalmen vor.

Allein beim besten Willen
war ihres Uhus Lahr
den Vögeln allzu schwer.
Sie duldeten im Stillen
und ließen ihren Sang
den ganzen Winterlang.

Doch wie das neue Licht
in junge Waldung bricht,
wird von den tausend Zungen
auch tausendfach gesungen:
»Wie sich die Baumgestalten
zu Einem Kranz entfalten,
soll auch in allen Weisen
Gesang den Höchsten preisen!«

Abraham Emanuel Fröhlich

Die Eulen


Der Uhu, der Kauz und zwo Eulen
Beklagten erbärmlich ihr Leid:
Wir singen; doch heißt es, wir heulen:
So grausam belügt uns der Neid.
Wir hören der Nachtigall Proben,
Und weichen an Stimme nicht ihr.
Wir selber, wir müssen uns loben:
Es lobt uns ja keiner, als wir.

Friedrich von Hagedorn

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Die Fabel, so nächst dieser die älteste ist …

3. §. Die Fabel, so nächst dieser die älteste ist, steht im II. Buche Samuels im 12ten Cap. und Nathan erzählete sie dem Könige David. War die obige aus dem Reiche der Bäume genommen: so ist diese von der zweyten Gattung, und hat lauter menschliche Personen; weil nämlich die Schafe, so darinn vorkommen, nichts reden, oder handeln. Von eben der Art ist die dritte, des klugen Weibes zu Thekoa, die im 14ten Cap. desselben Buches steht: und diese wollen einige Neuere lieber Erzählungen (CONTES) nennen; weil es nämlich mehr Anschein hat, daß sie wohl geschehen seyn könnten. So liefert uns denn die Schrift selbst ältere Muster von äsopischen Fabeln und Erzählungen, als die äsopischen sind: gesetzt, daß Aesopus, wie einige Gelehrte meynen, mit dem Assaph in Davids Hofcapelle einerley gewesen wäre. Allein der ganze Orient ist in den ältesten Zeiten wegen seiner Neigung zu den Fabeln und Allegorien berühmt gewesen. Kam nicht die Königinn von Saba, den König Salomon mit ihren Räthseln zu versuchen? Erzählet uns nicht Josephus, auf desjenigen Dius Bericht, der die phönizische Geschichte geschrieben, und auf des ephesinischen Menanders Zeugniß, der die Jahrbücher der Tyrier übersetzet hatte: daß Salomon und Hiram einander Räthsel aufgegeben, und große Summen darauf gesetzet, wer sie nicht würde auflösen können? Selbst die Brachmanen, die Gymnosophisten, ja die Chineser haben in den ältesten Zeiten die Art an sich gehabt, alles in Allegorien und Erzählungen vorzutragen, was sie als gute Lehren fortpflanzen wollen. Die ältesten Römer müssen diese Art zu moralisiren auch geliebet haben, wie wir aus der Fabel des Menenius Agrippa, von dem Streite der Glieder am menschlichen Leibe sehen, womit er den aufgebrachten Pöbel besänftigte, und wieder in die Stadt brachte.

Johann Christoph Gottsched
Versuch einer critischen Dichtkunst,
Des I. Abschnitts II. Hauptstück

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Geburtstag

»Ich will Dich aber nicht!«, sagt die Frau an ihrem 39. Geburtstag. Der Geburtstag lächelt milde. »Du kannst mich aber nicht ablehnen, ich stehe in Deinem Ausweis«. Da lacht die Frau und verbündet sich mit dem Kugelschreiber. Fortan korrigiert sie Jahr für Jahr, stets am selben Tage, das Geburtsdatum nach oben.

»Da bist du also«, sagt der Mann zu seinem Geburtstag. »Da bin ich«, sagt der Geburtstag. Gemeinsam feiern sie, die neuen Falten, die ausgefallenen Haare, die grauen Schläfen, kurz: dass der Mann wieder ein Jahr interessanter geworden ist.

Dienstag, 14. Oktober 2008

Kernsprüche


Kürbisstauden eine
sagt zur hohen Eiche:
»Du Gepriesne, Reiche,
hast doch gar gemeine
Frücht’ und winzig kleine,
Schau dagegen meine
Aepfel, wie sie quollen,
Wunder von Gewichte!«

»Aber schnell zu Nichte
sind die wasservollen,
spricht die Eich’; aus meinen
Kernen, den so kleinen,
wird in späten Zeiten
sich ein Wald verbreiten!«
Abraham Emanuel Fröhlich

Montag, 13. Oktober 2008

Die Fabel von den drei Fischen


Drei Fische lebten in einem Teich: Anagatawidhatri, das ist der, der an die Zukunft denkt; Pratjutpannamati, der in der Not Rat weiß und Jadbhawischja, der sorglos in den Tag lebt. Eines Tages kamen Fischer an den Teich und sagten: »Der Teich ist reich an Fischen. Morgen wollen wir ihn abfischen.«
Als Anagatawidhatri dies hörte, rief er alle Fische des Teichs zusammen und riet, in der Nacht in einen anderen Teich zu wandern: »Schwache müssen stets entfliehen, wenn sie ein starker Feind bedroht.« Pratjutpannamati stimmte ihm zu: »Nur Elende und Mutlose leiden den Tod im Heimatland, weil Furcht der Fremde sie schreckt«, sprach er. Jadbhawischja aber sagte lachend: »Verlässt man denn auf ein Wort irgend eines Fischers den Teich, in dem schon die Großväter gelebt haben? Ist Vernichtung für uns verhängt, so erleiden wir die auch in der Fremde. Ich werde nicht auswandern.«
Anagatawidhatri und Pratjutpannamati zogen in der Nacht mit ihrem Gefolge ab. Am nächsten Tag aber kamen die Fischer und fingen mit ihren Netzen alles, was im Teich lebte. Auch Jadbhawischja ging dabei zu Grunde.

Indische Fabel aus dem Pantschatantra,
nacherzählt auf Basis der Übersetzung
aus dem Sanskrit von Theodor Benfey (1859)
von Horst-Dieter Radke


Sonntag, 12. Oktober 2008

Fabeln noch älter als Homer

2. §. Daß indessen die Fabeln noch älter, als die übrigen Arten der Gedichte, sonderlich das Heldengedicht seyn, ist leicht zu erweisen. Ohne Zweifel ist das Buch der Richter, wenn es gleich erst um Samuels Zeiten geschrieben wäre, älter als Homer: und in demselben finden wir schon Jothams Fabel von den Bäumen, die sich einen König gewählet. Jotham also, war unstreitig lange vorm Samuel ein Fabeldichter: und da sein Gedicht dergestalt das älteste dieser Art ist, das wir kennen: so ist es wohl werth, daß wir es hier einrücken. …

Johann Christoph Gottsched
Versuch einer critischen Dichtkunst, Des I. Abschnitts II. Hauptstück

Samstag, 11. Oktober 2008

Johann Wilhelm Ludwig Gleim


Johann Wilhelm Ludwig Gleim wurde am 2. April 1719 in Emsleben (Ostharz) als viertes Kind des Obersteuereinnehmers Johann Laurenz Gleim geboren. Er besucht die Stadtschule und das Lyzeum in Wernigerode und studierte ab 1739 die Rechte, nahm aber bald die Philosophie hinzu. 1735 starben beide Eltern, das Studium wurde ihm durch wohlhabende Gönner ermöglicht. 1740 wurde Gleim Hauslehrer in Potsdam, dadurch dem Prinzen Wilhelm von Brandenburg bekannt, der ihn als Sekretär in seine Dienste und 1744 in den Zweiten Schlesischen Krieg mitnahm. Im gleichen Jahr war sein »Versuch in Scherzhaften Liedern« in zwei Teilen erschienen und machten den Verfasser berühmt. Nachdem der Prinz den Krieg nicht überlebte, wurde Gleim zunächst Sekretär des Alten Dessauers (Leopold I.), den er aber verließ, weil er mit dessen Rücksichtslosigkeit und Strenge nicht klar kam. Er lebte dann in Berlin, bis er 1747 als Domsekretär nach Halberstadt berufen wurden. Später wurde er Kanonikus im Stift Walbeck.
Gleim war mit wichtigen Dichtern seiner Zeit bekannt (Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Gottfried Herder, Johann Heinrich Voß, Johann Gottfried Seume u.a.) und gründete den Halberstädter Dichterkreis (Johann Georg Jacobi, Wilhelm Heinse u.a.), in dem sich viele junge Literaten trafen. Neben den »Preußischen Kriegsliedern« (1756) sind es vor allem seine »Fabeln« (1757), die ihn bekannt machten. Im Gegensatz zu den Kriegsliedern werden die Fabeln auch heute noch gelesen.
Am 18. Februar 1803 starb Gleim in Halberstadt.


Horst-Dieter Radke

Freitag, 10. Oktober 2008

Die Sperlinge


Man flickte - war’s zu Straßburg oder Rom?
Ich weiß es nicht - an einem Dom,
Und jagte Mutter, Brüder, Schwestern
Des Sperlingvolks aus ihren Nestern;
Und als die Flickerei zu Ende war,
Da kam, bei Tausenden, die Schar
Der Flüchtigen zurück geflogen;
Und freudig hätte jedes Paar
Sein Nestchen wieder gern bezogen;
Allein man sah betrübt, daß keins gelassen war.
Und: Gott! was hat sie doch bewogen,
Erseufzte da, mit tiefem Ach,
Ein alter Sperling auf dem Dach:
Uns unsere Wohnungen so grausam zu zerstören?
Was Bösers konnten sie nicht thun;
Als wenn die hohen Mauern nun
Zu etwas nütze wären!
Johann Wilhelm Ludwig Gleim

siehe auch hier

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Wiederfinden


»O du lieblicher Geselle,
sprachen Blumen zu der Welle,
eile doch nicht von der Stelle!«

Aber jene sagt dawider:
»Ich muß in die Lande nieder,
weithin auf des Stromes Pfaden,
mich im Meere jung zu baden.
Aber dann will ich vom Blauen
wieder auf euch niederthauen.«

Abraham Emanuel Fröhlich

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Der arme Kranke und der Tod

Ein Greis, den Alter, Frost und Gram,
Und Gicht und Krampf und Hunger krümmten,
Dem oft sein bittres Weh die Lust zum Leben nahm,
Das Zeit und Schicksal ihm bestimmten,
Rief voller Ungeduld und Noth:
Ach! komm' doch bald, gewünschter Tod!
Der Tod erschien, die Qual zu heben;
Da fleht' er, aus verzagtem Sinn:
Freund, geht zu meinem Nachbar hin
Und laßt mich armen Alten leben.

So weibisch ist der meisten Herz;
Auch brechend wünscht es kaum zu sterben.
Verfolgung, Drangsal, Schimpf, Noth, Armuth, Krankheit, Schmerz,
Nichts wird dem Tode Gunst erwerben.
Ihn hält ein zärtlicher Mäcen
Auch auf der Folter nicht so schön;
Vielleicht starb Cato nicht gelassen.
Oft scheuet der, den Krebs und Aussatz frißt,
Der sein und andrer Scheusal ist,
Mehr als dies alles, sein Erblassen.

Friedrich von Hagedorn

Dienstag, 7. Oktober 2008

Karl Wilhelm Ramler

Foto: Wikipedia

Wurde als Sohn des Steuerinspektors Wilhelm Nikolaus Ramler und dessen Ehefrau Elisabeth Stieg am 25.2.1725 in Kolberg (Hinterpommern) geboren. Nach dem Schulbesuch in seiner Heimatstadt, in Stettin und Halle (Saale) begann er 1742 an der Universität Halle Theologie zu studieren, wechselte aber drei Jahre später an die Universität Berlin und zum Medizinstudium, das er jedoch nicht beendete. Durch Vermittlung von Johann Wilhelm Ludwig Gleim trat er eine Anstellung als Hauslehrer auf der Domäne Lähme bei Werneuchen an.
1747 kehrte Ramler nach Berlin zurück und wurde 1748 Dozent für Philosophie an der Kadettenanstalt. Dieses Amt hatte er bis 1790 inne. Ramler war Teilnehmer des angesehenen Montagsclubs, zu dem auch Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai gehörten. Zum weiteren Bekanntenkreis gehörten neben Gleim auch Ewald Christian von Kleist und Gotthold Ephraim Lessing.
In seinem literarischen Schaffen dominierte die Lyrik. Friedrich den Großen besang er in mehreren Oden, was von diesem aber ignoriert wurde. Dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm II. berief Ramler jedoch 1786 in den Rat der Akademie der Wissenschaften und setzte ihm eine Pension aus. 1790 übernahm Ramler auf Wunsch des Königs die Direktion des Nationaltheaters. Seit 1750 gab Ramler die »Kritischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit heraus«. 1783 erschien Ramlers »Fabellese« (Neuauflage 1790).
Am 11. 4. 1798 starb Karl Wilhelm Ramler im Alter von 73 Jahren. Sein Grab befindet sich auf dem Alten Sophienkirchhof.
Horst-Dieter Radke

Montag, 6. Oktober 2008

Der Rang



Vor Zeiten als am Hofe gar
Ein eigenes Amt für Narren war,
Anstatt daß sie in unsern Tagen
Zugleich noch andre Würden tragen,
Ging eines Fürsten lust’ger Rath,
Hans Ley, dem Kanzler aus Versehen
Zur rechten Seite. Der Magnat
Hub an sich heftig aufzublähen,
Ward roth, und polterte voll Wuth,
Gleich einem Hahn aus Kalkut:
»Ich, von stiftsfähigem Geschlechte,
und erster Herr im Staat dabey,
Ich lasse keinem Narrn die Rechte.«
»Wohl aber ich«, sprach Hofnarr Ley,
Und sprang, mit Lachen, Nicken, Winken
Dem ersten Herrn des Staats zur Linken.

Karl Wilhelm Ramler

Die frohe Lerche

Der Zustand einer Lerche war

Vergnügen halber wunderbar,

Sowohl als ihres Ehegatten

Und aller Kinder, die sie hatten;

Sie waren wegen reinen Bluts

Gesund und sämtlich frohen Muts;

Sie lebten ohne Nahrungssorgen,

Und Lust auf heut und Lust auf morgen,

Lust über Lust,
Freud’ über Freude,

War unaufhörlich ihre Weide.

»

Unmöglich ist es«, sprach die Alte,

»Dass ich noch länger mich enthalte,

Mein Wohlsein herzlich zu besingen;

Ich will mich in die Höhe schwingen.«

Gleich flog sie auf, und in dem Flug

Sang sie, doch sang sie nie genug.

Sie dacht’: Sind gleich die Nachtigallen

Die besten Sänger unter allen,

So soll die Lerche doch nicht schweigen,

Sie steht auch in der Sänger Reigen.



Sie schwang sich folgends von der Erden

So hoch ins Reich der Luft empor,

Als wollte sie im Himmelschor

Ein Mitglied jener Sänger werden.

Sie singt und singt sich endlich müde,

Und nach dem freudenvollen Liede

Sehnt sie sich nach der Ruhe wieder

Und sank zu ihren Jungen nieder,

Die durch ein lallendes Getöne

Die alte liebe Feldsirene

Mit voller Herzenslust

Die Lust in ihrer Mutter Brust

Zugleich mit neuer Lust versüßten.

Johann Ludwig Meyer von Knonau

Sonntag, 5. Oktober 2008

Die Fabel

Ich durchwandelte die Gassen,
ihre Weisheit zu erfassen;
aber bald hab' ich's gelassen.
Was mir etwa noch, im Toben
überschrieen und umstoben,
alte Stein' und Bilder loben:
davon tönt's im weiten Kreise
laut und leise, klarer Weise,
tausendfach in einem Preise.
Sonnen, Monde, Wolken, Lüfte,
Frühlingshügel, Todesgrüfte,
Wald und Strom und Blum und Düfte
und der Thiere bunte Schaaren:
Alles hör' ich offenbaren,
und Uraltes neu erwahren.
Und was noch so golden gleißet,
in den Gassen »Göttlich!« heißet,
alles mächtig mit sich reißet:
Derlei Vieles hör' ich richten
und verspotten und zernichten
ernst und leicht in Thiergeschichten.
*
Was ich also mir erschauete,
meinem Freunde sei's vertrauet,
der sich mit mir auferbauet:
einsam durch die Au'n zu gehen:
ihre Bilder zu verstehen,
und sich selber drin zu sehen.

Abraham Emanuel Fröhlich

Samstag, 4. Oktober 2008

Johann Ludwig Meyer von Knonau

… wurde am 5.7.1705 in Winingen bei Zürich geboren als Sohn des Hans Ludwig, Landvogts zu Regensberg. Johann Ludwig Meyer von Knonau war Gutsbesitzer und Gerichtsherr, aber auch künstlerisch veranlagt. Er gehörte zum Kreis um Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger und wurde durch eigene Erlebnisse angeregt, Fabeln zu schreiben. Bodmer schrieb das Vorwort zu von Knonaus Fabelbuch “Ein halbes Hundert neuer Fabeln”, das 1744 erstmalig erschien. Die dritte Auflage im Jahr 1757 hat der Dichter, der auch Maler war, mit 58 Kupferstichen selbst und Daniel Düringer, seinem späteren Schwiegersohn, illustriert. Dieses Fabelsammlung war so erfolgreich, dass sie 1767, 1771 und 1773 neu aufgelegt werden mussten. Meyer von Knonau pflegte Kontakte zu Wieland. Außerdem übersetzte er die französischen Fabeln Muralts ins Deutsche. Herder und Abraham Emanuel Fröhlich waren von Knonaus Fabeln beeinflusst. Er starb am 2.11.1785 in Weiningen.

Horst-Dieter Radke

Freitag, 3. Oktober 2008

Der Dornenstrauch


Aber Joasch, der König von Israel, sandte zu Amazja, dem König von Juda, und antwortete ihm: Der Dornstrauch, der im Libanon ist, sandte zur Zeder im Libanon und ließ ihr sagen: Gib deine Tochter meinem Sohn zur Frau! Aber das Wild auf dem Libanon lief über den Dornstrauch und zertrat ihn.

2 Könige, Kapitel 14
siehe auch: 2. Chronik, Kapitel 25

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Sperrmüll



Eine alte Lampe und ein alter Sessel stehen am Straßenrand und warten auf den Abtransport.
»Was ist an dir schon dran?« lästert der Sessel. »Du bist altmodisch, überholt und nicht mehr zu gebrauchen. Bei mir ist das anders. Wenn mich der richtige Passant sieht, nimmt er mich mit, beschafft mir einen neuen Bezug und schon bin ich wieder im Einsatz und für Jahre versorgt.«
Die Lampe schweigt still vor sich hin.
Ein Student kommt vorbei und bleibt stehen. »Du bist ja ein Schätzchen!« sagt er für sich. »Eine neue Birne, etwas entstaubt und du passt gut in jede gemütliche Leseecke. Ich nehme dich mit und mach dich Flohmarkttauglich.« Er greift sich die alte Lampe und verschwindet pfeifend um die nächste Ecke.
Eine Katze kommt und setzt sich auf den Sessel. Sie hinterlässt ihre Notdurft und verschwindet wieder.
Horst-Dieter Radke

Mittwoch, 1. Oktober 2008

Etliche Fabeln aus Esopo …

Dis Buch von den Fabeln oder Merlin ist ein hochberümbt Buch gewesen bey den allergelertesten auff Erden, sonderlich vnter den Heiden. Wiewol auch noch jtzund die Warheit zu sagen, von eusserlichem Leben in der Welt zu reden, wüsste ich ausser der heiligen Schrifft nicht viel Bücher, die diesem vberlegen sein solten, so man Nutz, Kunst vnd Weisheit vnd nicht hochbedechtig Geschrey wolt ansehen Denn man darin vnter schlechten Worten vnd einfeltigen Fabeln die allerfeineste Lere Warnung vnd Vnterricht findet (wer sie zu brauchen weis), wie man sich im Haushalten in vnd gegen der Oberkeit vnd Vnterthanen schicken sol, auff das man klüglich vnd friedlich vnter den bösen Leuten in der falschen argen Welt leben müge.

Das mans aber dem Esopo zuschreibet ist meins achtens ein Geticht vnd vieleicht nie kein Mensch auff Erden Esopus geheissen. Sondern ich halte es sey etwa durch viel weiser Leute zuthun mit der zeit Stück nach Stück zuhauffen bracht vnd endlich etwa durch einen Gelerten in solche Ordnung gestelt. Wie jtzt in Deudscher sprach, etliche möchten die Fabel vnd Sprüche so bey vns im brauch sind samlen vnd darnach jemand ordentlich in ein Buch fassen. Denn solche feine Fabeln in diesem Buch vermöcht jtzt alle Welt nicht, schweig denn ein Mensch erfinden. Drumb ist gleublicher, das etliche dieser Fabeln fast alt etliche noch elter etliche aber new gewesen sind, zu der zeit da dis Büchlin gesamlet ist wie denn solche Fabeln pflegen von jar zu jar zuwachssen vnd sich mehren. Darnach einer von seinen Vorfaren vnd Eltern höret vnd samlet.

Martin Luther
Vorrede aus: Etliche Fabeln aus Esopo verdeudscht