3. §. Die Fabel, so nächst dieser die älteste ist, steht im II. Buche Samuels im 12ten Cap. und Nathan erzählete sie dem Könige David. War die obige aus dem Reiche der Bäume genommen: so ist diese von der zweyten Gattung, und hat lauter menschliche Personen; weil nämlich die Schafe, so darinn vorkommen, nichts reden, oder handeln. Von eben der Art ist die dritte, des klugen Weibes zu Thekoa, die im 14ten Cap. desselben Buches steht: und diese wollen einige Neuere lieber Erzählungen (CONTES) nennen; weil es nämlich mehr Anschein hat, daß sie wohl geschehen seyn könnten. So liefert uns denn die Schrift selbst ältere Muster von äsopischen Fabeln und Erzählungen, als die äsopischen sind: gesetzt, daß Aesopus, wie einige Gelehrte meynen, mit dem Assaph in Davids Hofcapelle einerley gewesen wäre. Allein der ganze Orient ist in den ältesten Zeiten wegen seiner Neigung zu den Fabeln und Allegorien berühmt gewesen. Kam nicht die Königinn von Saba, den König Salomon mit ihren Räthseln zu versuchen? Erzählet uns nicht Josephus, auf desjenigen Dius Bericht, der die phönizische Geschichte geschrieben, und auf des ephesinischen Menanders Zeugniß, der die Jahrbücher der Tyrier übersetzet hatte: daß Salomon und Hiram einander Räthsel aufgegeben, und große Summen darauf gesetzet, wer sie nicht würde auflösen können? Selbst die Brachmanen, die Gymnosophisten, ja die Chineser haben in den ältesten Zeiten die Art an sich gehabt, alles in Allegorien und Erzählungen vorzutragen, was sie als gute Lehren fortpflanzen wollen. Die ältesten Römer müssen diese Art zu moralisiren auch geliebet haben, wie wir aus der Fabel des Menenius Agrippa, von dem Streite der Glieder am menschlichen Leibe sehen, womit er den aufgebrachten Pöbel besänftigte, und wieder in die Stadt brachte.
Johann Christoph Gottsched
Versuch einer critischen Dichtkunst,
Des I. Abschnitts II. Hauptstück
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