Montag, 13. Mai 2019

Die Kuh

In meinem Stalle standen vier Kühe. Drei warfen in einer Woche ihre Kälber, die vierte, bereits übers Jahr galt, hoch im Alter, aber fein gemästet, sollte nächster Tage geschlagen werden. Die drei – wie es geht – waren vom Melker schlecht betreut, bekamen nacheinander Euterentzündung grober Art, und mußten gesondert werden. Und die Kälber bogen sich täppisch und indolent unter die fette Tante, sogen an ihr, daß wir verwundert lachten, sogen eins nach dem anderen und zu zweien und alle gleichzeitig. So etwas war meinem dummen Melker nie untergekommen und noch weniger mir. Sie, die früher jedem Kalbe altjüngferlich abwerhrte, war wieder jung, ließ überreichlich Milch, täglich mehr, beleckte die Waisen der Reihe nach und muhte und greinte nach ihnen und diese nach ihr. Die ganze Familie gedieh prächtig, jedes walzenrund.

Als die Kälber in der siebenten Woche standen und bereits ihr Gräschen naschten im Pferche, und plärrend ihre kälbigste Jugend vertollten, fiel eines morgens nebenan auf der Schlachtbrücke die brave Amme nach dem zweiten Beilhiebe auf den Rücken, trat mit den Hinterbeinen in die Luft, als wolle sie den Kot ihrer Hufe nach meiner Brust schleudern. Und als sie gar den langen Metzgerstich in der Lunge fühlte, da quoll ihre Zunge aus dem Halse und mit einem Blick sagte sie mir noch etwas ins Gesicht, das ich bei der seinerzeitigen Beweisführung für mein Menschentum wohl zu verschweigen habe.

Michel Philipp
Innsbrucker Nachrichten, 14.10.1917

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