Es war einmal ein Mann, der wohnte in der Wildnis mit seinen zwei Kindern, einem Knaben und einem Mädchen. Als seine Kinder kaum etwas herangewachsen waren, ging der Vater eines Tages an die Küste. In der Nacht erhob sich ein starkes Geräusch; denn ein Greif kam geflogen, setzte sich auf das Dach des Hauses, in dem die Kinder allein waren und machte sie furchtsam, indem er sprach:
»So, ihr Kinder, nun ist mein Essen bereit! Wohin ist euer Vater gegangen?«
Sie antworteten:
»An die Küste.«
Der Greif sagte:
»Gut! So will ich mein Essen haben.«
Da fürchteten sich die Kinder und zeigten ihm die Hühner ihres Vaters. Die verzehrte der Vogel und machte sich davon.
In der zweiten Nacht schlief der Vater an der Küste. Der Greif kam wieder auf das Dach geflogen und sprach zu den Kindern die gleichen Worte wie am Tage vorher. Da waren die Kinder sehr ängstlich und zeigten ihm die Ziegen ihres Vaters, die verspeiste er und flog fort.
In der dritten Nacht war der Mann nicht mehr sehr weit von seinem Hause entfernt. Der Greif kam wieder auf das Haus geflogen und sprach, wie er vordem gesprochen hatte. Die Kinder fürchteten sich und zeigten ihm die Hunde. Die fraß er auf und flog davon.
Am folgenden Morgen kehrte der Vater heim. Er begrüßte seine Kinder, fand sie aber krank und abgemagert. Deshalb fragte er sie:
»Warum seid ihr so mager geworden, meine Kinder?«
Da berichteten sie, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Der Vater hörte schweigend zu und überlegte, wie er wohl am besten des Greifes habhaft werden könne. Er hatte an der Küste starke Pfeile gekauft und hoffte, mit ihnen den bösen Vogel zu erlegen. Als die Sonne untergegangen war, begab er sich mit seinen Kindern ins Haus, schloß die Türe zu und machte eine Luke in das Grasdach. Es dauerte gar nicht lange, bis der Vogel kam und sich gerade vor der Luke auf dem Dache niederließ.
Er rief die Kinder und fragte:
»Wohin ist euer Vater gegangen?«
Der Vater aber hatte den Kindern befohlen, den Greif wütend zu machen; deshalb antworteten sie:
»Du Taugenichts und Bösewicht, warum läßt du uns nicht in Frieden? Du hast unsere Hühner, Ziegen und Hunde gefressen, heute bekommst du nichts!«
Da wurde der Vogel sehr zornig und rief:
»Wie kommt es, daß ihr mich heute beschimpft? Ich werde kommen und euch selber fressen.«
Mit diesen Worten versuchte er, in das Haus einzudringen; aber der Vater nahm geschwind seinen Bogen und seine Pfeile und schoß. Da fiel der Greif blutend zu Boden, und ein zweiter Schuß tötete ihn. Der Vater ging nun mit seinen Kindern vor die Tür des Hauses, wo der tote Vogel lag; sie rupften ihn und bereiteten ihn zu, daß er gebraten werden konnte. Darauf legten sie das Fleisch an das Feuer, und der Vater sprach zu den Kindern:
»Ich gehe jetzt auf das Feld. Gebt wohl acht, daß das Fleisch gut gebraten ist, wenn ich wiederkomme, und eßt nicht davon, denn ich will es allein essen.«
Der Knabe aber spürte Lust, von dem Gericht zu kosten, trat herzu, hob den Deckel von dem Topf auf, in dem das Fleisch war, und wollte eben zulangen, als er eine Stimme hörte, die rief:
»Iß mich nicht, iß mich nicht!«
Da lief der Knabe davon. Bald aber kehrte er zurück, ergriff schnell ein Stück des Fleisches und aß. Da erscholl die Stimme des Fleisches wiederum laut und deutlich, so daß die Schwester des Knaben sie hörte, herzulief und fragte:
»Warum hast du von dem Fleisch gegessen?«
Ihr Bruder wurde darauf sehr böse und schalt sie und gab ihr allerlei Namen. Da lief das Mädchen auf das Feld zu dem Vater und erzählte ihm alles. Als beide bald darauf nach Hause zurückkehrten, fanden sie den Knaben in einen Büffel verwandelt. Der Vater rief ihm zu:
»Wenn du Säbelantilopen siehst, so folge ihnen nicht; wenn du Elefanten siehst, folge ihnen nicht; wenn du eine Herde Büffel siehst, so folge ihnen!«
Da rannte der Büffel davon und verschwand in dem Walde; der Vater blieb mit der Tochter allein zurück.
T.Heid
afrikanisches Märchen, 1904
afrikanisches Märchen, 1904
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