Donnerstag, 2. April 2015

Die Schlange

Es war einmal ein Weißer, so erzählt man, der traf eine Schlange, auf die ein großer Stein gefallen war, so daß sie sich nicht aufrichten konnte. Da hob der Weiße den Stein von der Schlange auf. Als er ihn aber aufgehoben hatte, wollte die Schlange ihn beißen. Der Weiße sagte jedoch: »Halt! Laß uns Beide erst zu klugen Leuten gehen!« So gingen sie denn und kamen zur Hyäne. Die sagte der Weiße: »Ist es auch wohl recht, daß die Schlange mich nun beißen will, obwohl ich ihr half, da sie hilflos unter dem Steine lag?« Die Hyäne erwiderte: »Nun, was wäre das denn Großes, wenn Du gebissen würdest?« Da wollte ihn die Schlange beißen, aber der Weiße sprach wieder: »Warte erst, und laß uns zu andern klugen Leuten gehen, damit ich höre, ob es auch recht ist!«

Als sie weiter gingen, trafen sie den Schakal. Da redete der Weiße den Schakal an: »Ist’s auch wohl recht, daß die Schlange mich beißen will, obschon ich den Stein aufhob, der auf ihr lastete?« Der Schakal erwiderte: »Ich kann es mir gar nicht vorstellen, daß die Schlange so vom Stein bedeckt sein konnte, daß sie nicht im Stande war aufzustehen. Nur wenn ich’s mit meinen eigenen Augen sähe, würde ich’s glauben. Kommt, wir wollen uns auf den Weg machen und zusehen, ob’s möglich ist.«
So machten sie sich denn Alle auf und gingen nach der Stelle, wo es geschehen war. Dort angekommen sprach der Schakal: »Schlange, lege Dich nieder und laß Dich mit dem Stein bedecken.« Da legte der Weiße den Stein auf sie, und, obschon sie sich sehr anstrengte, konnte sie doch nicht aufstehen. Der weiße Mann wollte den Stein wieder aufheben, aber der Schakal sprach: »Laß sie nur liegen, sie wollte Dich ja beißen; sie mag allein aufstehen!«

Und Beide gingen davon.

Reineke Fuchs in Afrika
Fabeln und Märchen der Eingebornen
nach
Originalhandschriften der Grey’schen Bibliothek
in der Kap-Stadt und andern authentischen Quellen
Von: Dr. W. H. J. Bleek, Weimar, 1870

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