Dienstag, 9. Juni 2015

Der Elefant und die Mäuse



Als vor alten Zeiten ein Elefant das Wasser des Meeres zu trinken ging, begegnete er einer Maus, die zu ihm sagte: »Onkel, du bist von Natur weise, ich bin von Natur listig; wer von uns beiden ist der ältere Bruder?« Der Elefant erwiderte zornig: »Ziemt es sich, dass du Knirps älterer Bruder sein willst? Ich zerstöre mit meinem Stosszahn den Berg Sumeru; wenn ich mit dem Fuss auftrete, töte ich zehntausend Mäuse«.

Als er im Begriff war, auf sie zu treten, floh die Maus erschrocken und sann auf eine List. Sie versammelte viele Mäuse und sprach: »Ein Elefant will uns alle töten. Wenn wir die Erde aus seinem Weg heimlich aushöhlen und ihn u Falle bringen und besiegen, so wird dies gut für unsern Ruhm sein«.

Die andern billigten diesen Vorschlag, gruben die erde auf und warteten. Der Elefant kam, stolperte und fiel, und da er sich nicht wieder aufrichten konnte, sprang die erste Maus auf das Haupt des Elefanten und sprach: »Onkel Elefant, wer von uns beiden ist nun der ältere Bruder?« Der Elefant antwortete: »Da alle Mäuse meine Lehrer gewesen sind, so mögen sie die älteren Brüder sein. Wenn ihr mich aus diesem Unglück errettet, so werde ich, wo ich eure Löcher sehe, erschrocken fliehen«. Auf diese Rede versammelte die erste Maus 800.000 Mäuse; einige befehligten von dem Körper des Elefanten aus und zogen von oben, andere gruben die Erde tiefer aus und feuchteten sie an, so dass der Elefant allmählich sich erhob. Als nun der Boden geebnet und der Elefant aufgestanden war, lief er erschrocken davon. Die Mäuse lachten.

O König, dass die einen Finger langen Mäuse durch Behendigkeit und List den gierigen Elefanten besiegt haben, ist durch solche List geschehen.


aus: Fünf indische Fabeln
Aus dem Mongolischen von Hans Conon von der Gabelentz
Aus einer unveröffentlichten Handschrift der Königl. Bibliothek zu Berlin
mitgeteilt von B. Laufer
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Bd. 52 (1898)

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