Donnerstag, 11. Juni 2015

Von den Seehunden

 
§ 654. Sonderbar ist es, daß der gemeine Mann in Island einen gewissen Abscheu, und doch zugleich eine Ehrerbietung für die Seehunde hat. Die Ursache hiezu ist die ungegründete Meinung, daß sie an Gestalt den Menschen mehr als anderen Thieren gleichen sollen, worin man durch ihren Vorwitz und ihre Klugheit gestärket wird. Hier erzählt man auch die Fabel, daß Pharao und sein Kriegsheer, die im rothen Meere ersoffen, in Seehunde sollen verwandelt geworden seyn. Eine andere Fabel oder Meinung, die eben so unrichtig ist, giebt den Seehunden ein Ansehen, daß es nämlich eine Art menschliches Geschlechtes, Seefolk genannt, sey, und eine menschliche Gestalt unter der äußerlichen und bekannten Seehundebildung haben solle, welche er zuweilen, wenn er am Ufer spaziren gehen wollte, ablegte. Man soll ihre Weibchen geheyrathet haben; auch hat man ihre Kühe, die sehr gute Milch geben, so wie die aschgrauen Kühe, die von diesen entstehen, gefangen und gemerkt. Die alten dänischen Riesenlieder (Klompe-Viser) enthalten eins oder andres, das diesen und dergleichen Fabeln ähnlich ist. Es ist unbeschreiblich, wie viel von ihnen zum Zeitvertreib erdichtet und erzehlt und von Einfältigen geglaubt worden ist. Die Gestalt dieser Thiere betreffend, gleichen sie vielmehr Hunden, als Menschen, desfalls sie auch bey den neuesten Naturkündigern, bey jenen ihrer Stelle, und daher den Hundenamen erhalten haben.

Des Vice-Lavmands Eggert Olaffens
und des Landphysici Biarne Povelsens
Reise durch Island
Aus dem Dänischen übersetzt
Kopenhagen und Leipzig, 1774

Keine Kommentare: