Dienstag, 16. Juni 2015

Auslegung der Fabel von Phaethon, von den Heliaden, seinen Schwestern, und von dem Cygnus

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Was wir jetzt von der Sonne gesagt haben, das führt uns auf die Fabel vom Phaeton. Diese Fabel, welche Ovidius […] umständlich beschreibt, ist kürzlich folgenden Inhalts. Als Phaethon einen Streit mit dem Epaphus, dem Sohne Jupiters und der Io, hatte, warf ihm dieser vor, daß er kein Sohn der Sonne oder des Phöbus sey, wie er sich rühme, sondern daß seine Mutter, Klymene solches nur ausgesprengt habe, um ihre Schwachheit zu verbergen, zu der sie sich von irgend einem Liebhaber verleiten lassen. Den Phaethon verdroß dieser Vorwurf, und er beklagte sich gegen seine Mutter darüber. Diese befahl ihm, daß er in den Palast des Phöbus gehen, und ihn bitten sollte, daß er ihm, zum beweise seiner Abkunft von ihm, die Führung seines Wagens auf einen Tag überlassen möchte. Phaethon kam dem Befehle seiner Mutter nach, und nachdem er seinem Vater die Ursache seines Besuchs eröffnet, beschwor er ihn, daß er ihm eine Gnade erweisen möchte, ohne diese aber zu bestimmen. Phöbus, oder die Sonne, ließ sich das nicht einfallen, daß ein so junger Mensch ihn um eine Sache bitten könnte, die seine Kräfte so sehr übersteige, als die Führung seines Wagens; er beschwor es ihm bey dem Styx, daß er ihm nichts abschlagen wolle, und Phaethon bath ihn um Erlaubniß, die Welt zu erleuchten. Phöbus hatte sich durch einen unwiderruflichen Eid zu Gewährung seiner Bitte anheischig gemacht; nachdem er nun alles Mögliche angewendet, seinen Sohn von einer so schweren und so gefährlichen Unternehmung abzubringen, gewährte er ihn endlich seiner Bitte. Der junge Wagehals besteigt den wagen der Sonne; aber die Pferde fühlten, daß die Hand ihres Herrn sie nicht lenkte, und wichen von der gewöhnlichen Straße aus, indem sie bald zu hoch stiegen, und den Himmel mit einer unvermeidlichen Verbrennung bedrohten, bald tief herunter kamen, und die Brunnenquellen und Flüsse austrockneten. Die Erde, welche dadurch in Schrecken gesetzt wurde, wendete sich an den Jupiter, und flehte ihn um Hülfe an. Der Gott wurde durch die gerechten Klagen dieser Göttinn gerührt, und schlug den jungen Phaethon mit einem Donnerkeile herab, daß er in den Fluß Eridanuns hinab stürzte. Die Heliaden, seine Schwerstern, überließen sich der grausamsten Verzweiflung. Cygnus, sein Bruder, starb vor Schmerz, und die Götter verwandelten ihn in einen Schwan.

Denen, welche die Fabeln nur für Behältnisse ansehen, in denen die Alten die Sätze der Sittenlehre und Naturkunde aufbewahrt, kostet es nicht viel Mühe, die gegenwärtige zu erklären. Sie sagen, sie sey das Sinnbild eines Verwegenen, welcher sich einer Unternehmung erkühnt, die seine Kräfte übersteigt. Aber bedurfte es so vieler Zurüstungen, uns eine so alltägliche Sittenlehre vorzutragen?

Anton Baniers
Erläuterungen der Götterlehre und Fabeln
aus der Geschichte
Aus dem Französischen übersetzt von
Johann Adolf Schlegel
und mit Anmerkungen begleitet von
Johann Matthias Schroeckh
Wien, 1791

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