Sonntag, 28. Juni 2015

Der Hänfling und die Lerche

Ein Hänfling hörte oft in lehrbegierger Ruh
Den holden Nachtigallen zu;
Und einst, einst schlug die kleine Philomele
Mit ganz bezaubernd süßer Kehle
Das Chor der Vögel schwieg, entzückt durch jeden Ton,
Und Büsch’ und Bäume tanzten schon.
Die Schönen kamen um die Wette,
Die kleine Blonde, die Brunette;
Und nie ward dieser Zauberklang
Der flüchtgen Galathee zu lang;
Und Doris, die erst nicht den Thirfis leiden wollte,
Die bat nunmehr, daß er doch mit ihr gehen sollte;
Und da ihr lauschend Ohr den süßen Ton empfand,
Litt’ sie den Kuß auf Mund und Hand,
Und ließ, bey so entzückendem Vergnügen,
Den losen Schäfer willig siegen,
Und dabey noch der Freude Thränen sehn.
Wie konnte sie ihm widerstehn?
Ach Philomele sang zu schön!

Das kleine Ding hat gar zu feine Gaben;
Wie gerne möcht’ ich es in einem Käfig’ haben.

War auch der Hänfling da? Ja, auf dem nächsten Zweig,
Und lernte mehr und mehr, und ward empfindungsreich;
als eben, voller Neid, die Lerche, die itzt kam,
Den Hänfling und das Lied der Nachtigall vernahm.
Das Närrchen singt? rief sie. O eine schlechte Gabe!
Ich schwör, ob nicht der Kukuk besser singt,
Der Wiedehopf, die Aelster und der Rabe,
Als Philomelens Stimme klingt.
Und, schöner Hänfling, du
Weihst ihr die stille Abendruh?
Erregt ihr Lied wohl mehr, als ein verzärtelt Sehnen?
Wohl mehr, als Doris weiche Thränen?
O steig mit mir empor, und hör der Lerche zu!
Nein! rief der Hänfling, wie ich sehe,
Liebst du nur deine stolze Höhen,
Dein Lied ist mir zu schwer,
Von Philomelen lern ich mehr.

***

Du singst ein Heldenlied. Wird auch die Welt gebessert,
Wenn, was schon groß genug, dein Lied noch mehr vergrößert?
Was nützs der Erde denn, wenn du den Himmeln singst?
Dich in Gedanken stets hoch in die Wolken schwingst?
Du denkst: ich sing den Ewigkeiten.
O sing, ich bitte dich, doch erst für unsre Zeiten!
Die Nachwelt lobt dich warlich nicht,
Und lacht nur über dich und über dein Gedicht;
Denn, lieber Freund, wie Klopstock singst du nicht.
So bleibe doch im Thal, und sing, wie Philomele,
Dem Mensch mit edlem Trieb’ Empfindung in die Seele.
Schaff, daß es Nutzen bringt. Sing lehrreich, zärtlich, schön:
So wirst du dich bald groß, berühmt und glücklich sehn.
Setz dich zu Hagedorns und Gellerts Füßen nieder,
Und lerne ihnen ab. Sing selbst so schöne Lieder:
So folgt dir allgemein der größte Beyfall nach;
Wo nicht: so merke dir, was vor der Hänfling sprach.

Anonymus, aus:
Nachahmungen in Fabeln und Erzählungen
Nebst einem Anhange anderer Gedichte
Dresden und Leipzig
In der Gerlachischen Buchhandlung
1761

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