Doch heute sitzt der Erzähler lange still. Niemand traut sich etwas zu sagen oder zu fragen. Mal räuspert sich hier eine, mal hustet dort jemand. Irgendwann beginnt der Erzähler doch, mit geschlossenen Augen und mit einer ganz neuen Geschichte.
Eines Tages, so erzählt er, kam die Wahrheit an eine Wegkreuzung, und wusste nicht weiter. Jeder den sie fragte, gab ihr eine andere Antwort. Der eine sagte »links gehen«, eine andere behauptete »rechts ist der richtige Weg«. Ein noch junger Mann rief emphatisch: »Nur geradeaus führt der Weg ins Neue!« und ein altes Männlein wollte die Wahrheit sogar zurückschicken, weil direkt voraus das größte Unheil zu erwarten sei. Da stand sie nun, die Wahrheit, und wusste nicht, wem sie glauben sollte. Da ihr selbst die Lüge fremd war, galt alles, was andere sagten, für sie so, als hätte sie es selbst gesagt. Was tun? Gleichzeitig nach links, rechts, vorne und hinten ging nicht. Am liebsten wäre sie nach oben weg, weil das niemand vorgeschlagen hatte, aber fliegen konnte sie nicht. Seufzend ließ sie sich auf einen Stein am Wegesrand nieder. Hier wollte sie bleiben. Da kam ein kleines Mädchen an die Kreuzung und sah die Wahrheit. »Warum gehst du nicht weiter«, fragte es, »bist du müde?« »Nein, müde bin ich niemals, aber ich kann nicht sehen, wo ich hin soll. Jeder gibt mir eine andere Richtung an und deshalb weiß ich nicht, welchem Rat ich folgen soll.« »Ist doch egal«, sagte das Kind. »Wo du hingehst, muss es richtig sein, denn wo die Wahrheit erscheint, muss das Falsche verschwinden.« Da lächelte die Wahrheit, nahm das Kind an die Hand und ging mit ihr gerade aus weiter. Doch schon im nächsten Ort kamen die Menschen schreiend gelaufen, schlugen die Wahrheit, prügelten das Kind und warfen die Geschundenen zur Stadt hinaus. »Was war das?« klagte die Wahrheit. »Ich weiß es auch nicht«, weinte das Kind. »Sie haben etwas von Fremden, die ihnen die Heimat wegnehmen und die Ordnung zerstören wollen« gerufen. »Aber das ist ja schrecklich«, sagte die Wahrheit, »wer sind denn diese Fremden.« »Ich glaube, sie meinten uns damit«, antwortete das Kind. Da war die Wahrheit sehr betroffen und beschloss, nicht mehr geradeaus zu gehen sondern lieber nach links abzubiegen. Doch sie kamen nicht weit, denn bald standen sie vor einem Zaun, der aus stacheligen Drähten gespannt war. Da hinüber konnte sie nicht kommen. Nun gingen sie in die andere Richtung, bis sie zu einer Mauer kamen, die so hoch war, dass sie nicht drüber hinweg sehen konnten. Bald standen sie wieder an der Kreuzung und seufzend machte sich die Wahrheit auf den Weg dorthin zurück, woher sie gekommen war. Aber auch das wurde ihr bald verwehrt. Menschen standen dort, mit Waffen und drohten, sie zu vernichten, wenn sie nur einen Schritt weitergehen würde. So kam es, das seit diesem Tag die Wahrheit an der Wegkreuzung sitzt. Viele Kinder haben sich zu Ihr gesellt, viele zerschunden und zerschlagen. Sie alle bleiben dort und warten auf den Tag, an dem sich alle Wege wieder öffnen werden. Doch wann wird das sein?
Der Märchenerzähler erhebt sich, verneigt sich in alle vier Himmelsrichtungen, und geht. Keiner hindert ihn. Aber es bleibt still auf dem Platz und beim nach Hause gehen gibt es kein fröhliches Gespräch, keine angeregte Unterhaltung, kein Wort zum Abschied. Jeder denkt über diese Fabel nach, die der Märchenerzähler heute das erste Mal erzählt hat.
Horst-Dieter Radke
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