Dienstag, 19. August 2008

Kritik an La Fontaine

In Frankreich möchte es bald an der zeit sein, das lang überschätzte verdienst Lafontaines auf seinen wahren werth zurückzuführen. Wenn schalkhafter witz, frivole anspielung auf den weltzustand, epigrammatische wendung in der thierfabel an ihrer stelle sind, so muss er ein trefflicher fabulist heißen. aber selbst einzelne naive züge, die ihm allerdings noch zu gebot stehen, können nicht die verlorne einfalt des ganzen ersetzen; er ist ohne epischen tact, und viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass er bei der entfaltung des alten materials, welches er oft zu grund richtet, verweilen wollte. jene eigenschaften thun daher nicht selten eine widerwärtige störende wirkung, die sättigende fülle der wahren thierfabel hat er nie erreicht. seine leichte, gewandte erzählungsgabe soll nicht verkannt werden, aber von der äsopischen natürlichkeit, selbst der phädrischen präcision ist er absichtlich gewichen, um in einem freien und losen versmass die arbeit nach dem geschmack seiner zeit aufzuheitern …

Jacob Grimm
Reinhart Fuchs, Berlin 1834
(Cap. I, Vom Wesen der Thierfabel, S. XVII)

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