Sonntag, 31. August 2008

Die reisende Fabel

Die arme Tochter des Äsop,
Die Fabel, reiste von Athen,
Entfernte Länder zu besehn.
Wer sie erblickte, der erhob
Ihr Wesen, ihren Gang,
Und ihren Anzug. Nicht zu lang
Und nicht zu kurz, war er bequem:
Wohin sie kam, da war sie angenehm.
Zu Rom schenkt ihr ein feinres Kleid
Ein Freigelassener 1) des Kaisers seiner Zeit,
Es stand ihr wohl, es war gemacht
Nett, aber ohne Pracht!
Dann reiste sie darin, noch blöde, nach Paris;
Ein edler Ritter 2) nahm sie auf, und unterwies
Das wohlerzogne Kind, das seine Freundin ward,
In Sitten und in Putz, nach seiner Landesart.
Auch nahm er einst sie mit, in einer Gallanacht,
An Ludwigs Hof, in Hofestracht.
Und weil der jungen Maintenon 3)
An Geist und Schönheit sie vollkommen glich,
So zog sie allsobald des Königs Aug' auf sich.
Was hatte sie davon?
Er rühmte sie den Prinzen, sie gefiel!
Und einst beim Spiel,
Nannt' er, in Gnaden, sie: die Menschenlehrerin!
Ich? Ihro Majestät! ich bin
Nur eine Zeitvertreiberin! 4)
Mich hören Kinder nur so gern!
Ich? Lehrerin? der Menschen? das sei fern!
Was recht und Tugend ist, zu lehren und zu preisen,
Das überlaß' ich Herrn,
Und Königen, und Weisen!

Anmerkungen:

1) Phädrus.
2) La Fontaine.
3) Der Geliebten Ludwig XIV., Königs von Frankreich.
4) Weil selbst ein Bodmer diesen Scherz für Ernst genommen hat, wie solches erweislich ist aus seiner Vorrede zu den Fabeln des von Knonau (Zürich 1757), so scheints nicht überflüssig, zu sagen, daß die reisende Fabel hier eine Spötterin ist.


Johann Wilhelm Ludwig Gleim

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