Mittwoch, 21. Januar 2009

Tierfabel im MIttelalter

… Die deutsche Litteratur zeigt für diese Dichtungsart erst Geschmack, nachdem gegen die Mitte des 13. Jahrhunderts die Blüte der höfischen Dichtung vorbei war und die frei schaffende Phantasie die Leitung der Poesie an den Verstand abgegeben hatte. Der älteste Fabeldichter ist der Stricker; ihm folgt mit einer Edelstein genannten, um 1330 gedichteten Sammlung von 100 Fabeln der Berner Predigermönch Ulrich Boner, es ist das erste in deutscher Spruche gedruckte Buch; Bamberg 1461; dann Heinrich von Müglin, der seine Fabeln in lyrischer Strophenform dichtete, während die übrigen Fabeldichter das gewohnte Reimpaar anwendeten; auch in den Renner des Hugo von Trimberg sind vielfach Fabeln eingeschoben. Der ahd. Name für diese lehrhaften, ohne Zweifel von den Tierepen beeinflussten Tierfabeln, denen meist die Lehre gesondert beigefügt ist, ist bîspel, zu ahd. und mhd. das spei = Rede, Erzählung, Sage, woraus erst nhd. Beispiel wurde. Erst im 15. Jahrhundert kehrte man zu der ursprünglichen Form der Fabel zurück, zur Prosa, und zwar übersetzte der Ulmer Arzt Heinrich Steinhöwel sowohl die Fabeln des Äsop als den indischen Bidpai, den letztern unter dem Titel Buch der Beispiele der alten Weisen, und zwar aus einer lateinischen Bearbeitung, welche im 13. Jahrhundert Johann von Capua unter dem Titel directorium humanae vitae verfasst hatte. Steinhöwel's Äsop erschien vor 1480, das Buch der Beispiele 1483. Beide Bücher bewiesen durch die zahlreichen Neudrucke, die sie durch mehr als ein Jahrhundert hindurch erlebten, wie sehr jetzt die Zeit der Fabel geneigt war …


Götzinger, E.
Reallexicon der Deutschen Altertümer
Leipzig 1885., S. 975-976

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