Freitag, 11. März 2011

Das Grab

Brahma
Bildquelle: Wikipedia
Dritte Parabel

1814

Still und voll Wehmuth wandelte der Brame in seinem einsamen Thale und gedachte der geprüften duldenden Fürstin, siehe, da erhob sich von neuem ein furchtbarerer Krieg. Der gewaltige Verderber brach auf von Abend her mit seiner wilden Heerschaar, das Land gegen Morgen zu verwüsten. Und was er mit Schmach und Hohn begann, gelang ihm, aber die Menschheit erseufzte.
Da flehete der Greis Tag und Nacht zu Brama für Wikrama den Gerechten und für Sakontala, die holdselige Fürstin. Aber sein Gebet ward nicht erhört, und das Getümmel des Krieges wälzte sich wie ein Strom bis an das Thal des Braminen, und das Land erlag unter der Geißel des Drängers.
Da floh der Brame trauernd in das wilde Gebirg‘ und wohnte zwischen den Felsen und verschmähete, ein menschlich Antlitz zu schauen. Denn seine Seele war voll Gram und wünschte zu sterben.
Aber sein Wunsch ward nicht erfüllt und er wohnete einsam zwischen den Felsen mehrere Jahre lang. Plötzlich erscholl ringsumher aus der Ferne ein freudiges Getön von Siegesjubel und Friedensgesängen mit Cymbeln und Drommeten.

Da neigete sich der Greis mit seinem Angesicht zur Erde und betete an, stand auf und salbte sein Haupt und sprach: Ehe denn ich sterbe, muß ich den Sieg der Gerechten und das Antlitz der Königin schauen!
Darauf füllte der Brame von neuem sein Körbchen mit den schönsten Frühlingsblumen des Thals und bedeckt‘ es mit den jungen Sprößlingen des Oel- und Palmbaums und dem duftenden Laube der zarten Mirte. Nun wandte er eilends sein Angesicht zur Königsstadt, und wandelte schweigend zwischen den jauchzenden Schaaren des Volkes.
Als er nun in die Thore des Palastes trat, da erheiterte sich das Angesicht des Greises, und er that seinen Mund auf und sprach zu den Dienern des Königs: Geleitet mich zu der Königin, daß ich mein Opfer ihr bringe Ich habe seit sieben Jahren die Welt nicht gesehen.
Da er diese Worte geredet, sahen die Diener ihn an, und sie verstummten und weinten. Der Brame aber sprach: Was weinet ihr, und wie ist euer Angesicht verwandelt?
Da antworteten die Diener und sprachen: Bist du denn ein Fremdling auf Erden, daß du allein nicht weißt, was geschehen ist? – Und sie führten ihn zu dem Grabe der Fürstin. Siehe, sprachen sie, ihr Herz ist gebrochen! – Und sie vermochten nicht mehr zu reden und weineten.
Da verklärte sich das Angesicht des Greises, und sein Auge glänzte wie eines Jünglings, und er erhob sein Haupt und sah auf gen Himmel und sprach: Seh‘ ich nicht Brama’s Thron und den Glanz des ewigen Lichtmeers, das ihn umschwebet! Und Sakontala ruhet vor ihm auf des Morgenroths duftigem Gewölk und blicket hernieder. – Des versöhnten Vaterlandes reinstes Opfer strahlet sie nun als Priesterin des himmlischen Friedens – Verklärte, sieh, auch jetzt noch weih‘ ich dir die irdischen Blumen. –
Darauf schwieg der Greis und neigte sein Angesicht über das Grab und die Blumen. Da erhob sich ein lindes Säuseln; und Brama lösete seine Seele.

Parabeln
von Dr. Friedrich Adolph Krummacher
Essen, 1829

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