Montag, 9. Juni 2008

Von dem Wolf und dem Lamb



Ein wolf het glaufen in der sonnen
Und kam zu einem külen bronnen.
Als er nun trank, sich weit umbsach,
Ward er dort niden an dem bach
Eins lambs gewar, das auch da trank.
Gar zorniglich der wolf zusprank
Und sprach: »Du trübst das waßer mir,
Daß ich nicht trinken kan für dir.«
Das lamb erschrack und sprach: »Herr, nein!
Bitt, wöllest nicht so zornig sein
Und kein gewalt wider mich üben!
Wie kan ich euch das waßer trüben?
Das waßer, welchs ich trunken hab,
Das fleußt von euch zu mir herab;
Tu euch hiemit nichts zu verdrießen:
Drumb laßt mich meiner unschuld gnießen.
Wenn ich schon wolt, könt ich doch nit
Euch etwas schaden tun hiemit.«
Der wolf sprach: »Schweig, du böses tier!
All deine freunde haben mir
Von anbegin zuwidern tan,
Dein bruder und deinr mutter man;
Kunt mit in kommen nie zu recht;
Ihr seid ein bös, verflucht geschlecht.
Meins schadns wil ich mich jetzt erholen;
Du must mir heut das glach bezalen.«
Der wolf zeigt die tyrannen an,
Das lamb die armen undertan.
Denn so geschicht noch heut bei tag:
Wo der groß übern kleinen mag,
Wirft er auf in sein ungedult,
Unangesehn ob er hab schult.
Doch hat der gsündigt allzu vil,
Den man zur antwort nicht statten wil.
Wenn man gern schlagen wolt den hund,
Findt sich der knüttel selb zur stund.
Die hund das brot den kindern nemen:
Die alten laßens wol bezemen.
Der weih die tauben tut bekriegen
Und leßt schedliche rappen fliegen;
Und wo der zaun am nidrigsten ist,
Da steigt man über zu aller frist.
Burkard Waldis

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