Dienstag, 26. März 2013

Von Werwölfen (1)

»The Werewolf Delusion« by Ian Woodward
18. Jh. (Quelle: Wikipedia)

Einst mähten Arbeiter Gras auf einer Wiese. Da sprach einer von ihnen: »Wenn ich doch jetzt ein Schäflein hätte! Mich gelüstet sehr nach solchem Braten.« Der andere lachte, er aber ging hinter einem Balkenhaufen fort und verschwand am Waldessaum. Als er nach längerer Zeit nicht wiedergekommen, gingen ihm die übrigen Arbeiter nach. Hinter jenem Balkenhaufen fanden sie seine Mütze und Kleider hart bei einem Baumstumpf, dessen Wurzel aus der Erde herausgewachsen war, so daß sie ein kleines Thor zu bilden schien. Nun ging dem ältesten der Arbeiter, dem sogenannten Vorarbeiter, ein Licht auf; er nahm einen starken Knüttel und verbarg sich hinter einer Tanne. Nach einiger Zeit kommt ein mächtiger Wolf gelaufen, der ein frisch getötetes Schaf im Rachen trägt. Zuerst steckt er das Schaf durch jenes Wurzelthor an der Erde hindurch und will dann selbst nachkriechen – aber – klatsch! – saust der Knüttel des Vorarbeiters gerade auf des Wolfes Schwanz nieder, so daß derselbe vom Körper fällt. Sofort verwandelt sich der Wolf wieder in jenen Arbeiter, wurde von den andern ergriffen und trotz wütender Gegenwehr mit Gewalt nach Hause gebracht. Der Wolfsschwanz war am andern Tage von jener Stelle verschwunden, der Arbeiter aber hat niemals wieder ein Schaf geraubt.

Lettische Märchen
Nacherzählt von Victor von Andrejanoff
Leipzig, 1896

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