Montag, 13. Februar 2012

Das Nashorn und das Dromedar

Ein Nashorn sprach zu einem Dromedar:
„Mein Freund! es ist doch sonderbar,
Wie ungerecht das Schicksal uns behandelt;
Vielleicht vermagst du es, mich aufzuklären,
Und bist so gut, mich deßhalb zu belehren.
Der mensch, – ein Thier, zum Herrscher ausersehen,
Das stolz und mächtig einherwandelt,
Liebt euch, – und Euresgleichen stehen
Bei ihm in hohem Rang;
Er pflegt euch, nährt euch mit seinem Brod,
Euch quälet nie des blassen Hungers Noth;
Man suchet stets euch zu vermehren,
Und hält euch allenthalben sehr in Ehren.
Ich weiß zwar wohl, daß ihr auf eurem Rücken
Des Menschen Bürden tragt,
Die oft gewaltig schwer euch drücken:
Doch diesen Dienst kann auch das Nashorn ihm erweisen,
Und deßhalb braucht er euch nicht allzusehr zu preisen;
Ja, wenn ihr redlich seyd, so sagt,
Ob nicht vielleicht der Vorrang uns gebührt?
Denn seh’t nur her, welch großes Horn uns ziert,
Und welch eStärke unser Panzer hat?
Sie würden ihm sehr nützlich seyn
Beim Kampfe in des Feindes Reih’n.
Doch hasset uns der Mensch, und that
Gar nichts für uns. Drum fliehen wir,
Wenn sich uns nähert dieses Thier!“ –

„Mein Freund!“ – erwiedert drauf der Dromedar –
„Die Sache ist mir wirklich sonnenklar:
Der Mensch verlanget Dienste nicht allein,
Man soll ihm auch hübsch unterthänig seyn:
Was uns den Vorzug giebt vor Euresgleichen,
Das ist die Kunst, das Knie zu beugen!“

Jean-Pierre Claris de Florian

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