Mittwoch, 18. November 2009

Die Bibel und die Fabellehre

Wir haben schon oben angedeutet, wie bei Novalis Poesie und Religion sich gewissermaßen identifizierten. Nachdem er (im Ofterdingen) in der Tugendlehre die Religion als Wissenschaft, die sogenannte Theologie im eigentlichen Sinne erkannt hat, stellt er gleich darauf die Poesie, nur als einen andern Ausdruck der Tugend, recht in den Mittelpunkt desselben Kreises. »Also«, sagt er, »ist der Geist der Fabel eine freundliche Verkleidung des Geistes der Tugend und der eigentliche Geist der untergeordneten Dichtkunst die Regsamkeit des höchsten, eigentümlichsten Daseins. Eine überraschende Selbstheit ist zwischen einem wahrhaften Liede und einer edlen Handlung; – so wie diese (die Tugend) die unmittelbar wirkende Gottheit unter den Menschen und das wunderbare Widerlicht der höheren Welt ist, so ist es auch die Fabel. Wie sicher kann nun der Dichter den Eingebungen seiner Begeisterung oder, wenn auch er einen höheren überirdischen Sinn hat, höheren Wesen folgen und sich seinem Berufe mit kindlicher Demut überlassen. Auch in ihm redet die höhere Stimme des Weltalls, und ruft mit bezaubernden Sprüchen in erfreulichere, bekanntere Welten. Wie sich die Religion zur Tugend verhält, so die Begeisterung zur Fabellehre, und wenn in heiligen Schriften die Geschichten der Offenbarung aufbehalten sind, so bildet in der Fabellehre das Leben einer höheren Welt sich in wunderbar entstandene Dichtungen auf mannigfache Weise ab. Fabel und Geschichte begleiten sich in den innigsten Beziehungen auf den verschlungensten Pfaden und in den seltsamsten Verkleidungen, und die Bibel und die Fabellehre sind Sternbilder eines Umlaufs.«

Joseph von Eichendorf
Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands
2. Teil

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