Dienstag, 24. März 2009

Frauenzimmer und Spiegel


Ein Frauenzimmer war voll Flecken,
Und überhaupt nicht wohlgestalt,
Auch sechs und dreyßig Jahr schon alt,
Doch suchte sie mit großem Fleiß,
Durch ein erkauftes Roth und Weiß,
Die Misgestalt zu überdecken.
so oft sie vor den Spiegel trat,
Und sich in seinem Glas besahe,
(Das dann sowohl des Abends spat,
Als Morgens und Mittags, geschahe,)
Fuhr sie mit zornigen Gebehrden
Denselben also grimmig an:

Was stellst du mich, du grober Thor,
So ungestalt und häßlich vor?
Wart nur, du sollst bald inne werden,
Wie unbesonnen du gethan,
Wenn ich mich künftig an dir räche,
Und dich in tausend Stücken breche.
Es liegt ja nur allein an dir,
Daß ich so unannehmlich scheine;
Denn wie ich von mir selber meyne,
Komm ich mir nicht so häßlich für;
Drum ändre künftig diese Sache,
Und denke stets an meine Rache.

Ach! Sprach der Spiegel, ach du fehlst!
Daß du die Schuld auf mich geschoben;
Es ist umsonst, daß du so schmählst,
Ich kann nicht schelten oder loben;
Mein stets gerechter Ausspruch fällt,
Wie sich ein Ding mir fürgestellt;
Ich pflege nie was zu verstecken,
Und zeig an jedem Angesicht
Aufrichtig alle Fehl und Flecken,
ich mach sie aber selber nicht’.
Was ich an jeglichem erblicke,
Das geb ich ihm getreu zurücke.
Wer nur ein Auge hergebracht,
Kann ja nicht zwey von hinnen tragen;
Und wem die Nase krumm gemacht,
Dem wird sie hier nicht gleich geschlagen.
ich ändre niemals die Gestalt,
Schön wird nie garstig, jung nie alt.
***
Wenn treue Lehrer uns die Flecken
Des sündlichen Gemüths entdecken:
So sey man nicht im Zorn entflammt,
Noch suche sich dafür zu rächen;
Sie thun ihr Straf- und Warnungsamt,
Und müssen so, nach ihrer Pflicht,
Nothwendig mit uns ernstlich sprechen;
Sie zeigen uns nur die Gebrechen;
allein sie machen solche nicht.

Daniel Wilhelm Trillers
aus: Neue aesopische Fabeln, Hamburg 1740

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