Montag, 16. Januar 2012

Eine hübsche Parabel

(c) Jeremias Radke

Eine kluge Prinzessin wurde von einem beschränkten, aber sehr mächtigen König geliebt, schenkte aber seinen Werbungen kein Gehör. Als er immer dringender und infolgedessen lästiger wurde, beschloß sie, ihn für immer aus ihrer Nähe zu entfernen. Dies mußte jedoch mit Güte geschehen, denn die Feindschaft des starken Nachbarn wollte die Prinzessin ihrem Lande nicht zuziehen.
So sprach sie denn eines Tages zu ihm: »Deine Treue hat mich gerührt, und ich will sie belohnen. Du sollst mein Gemahl werden, wofern es dir gelingt, die Aufgabe zu lösen, welche ich dir stellen will.«
Darauf erwiderte der König: »Nenne sie, und wenn es im Bereich menschlicher Kraft liegt, so werde ich sie erfüllen.«
»Ziehe hin«, sagte darauf die Prinzessin, »und suche mir folgende drei Dinge ausfindig zu machen: Ein Vorurteil, das durch Vernunft besiegt wurde. Eine Torheit, die so groß ist, daß noch kein Mensch sie begangen hat. Eine Lästerung, so schamlos, daß sie keine Zunge findet, um sie zu wiederholen.«
Der König lachte und gab Befehl, die Hochzeitsfeier zu bereiten, denn er meinte, in wenigen Tagen schon seine Braut heimzuführen. Dann begab er sich auf die Reise.
Dies geschah vor tausend Jahren, und bis heute ist er nicht zurückgekommen.

E.T.
aus. Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens
Jahrgang 1904, Elfter Band, S. 226 f.

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