Dienstag, 3. Januar 2012

Die junge und die alte Maus


Ein junges Mäuschen ging auf Reisen,
kam bald zurück ins Mutterhaus,
Und sprach: »Du Mut mich unterweisen,
Denn mein Verstand reicht noch nicht aus,
ich sehe mancherlei Gestalten
Vor meinem Blick vorüber zieh'n,
Und weiß mich dann nicht zu verhalten:
Soll ich mich nahen oder flieh'n?
So sah' ich heut' in einer Scheuer,
Worin ich still geschlichen war,
Ein wunderbares Abenteuer,
Voll Schreck und grausender Gefahr.
Ein Ungetüm von rauen Sitten,
Und feuerroth ums Haupt vor Zorn
Kam frech und stolz herein geschritten,
An beyden Füßen einen Sporn.
Es rauschte furchtbar mit den Schwingen,
Und öffnete den Hals dabey,
Als wollt' es mich im Nur verschlingen,
Doch tat’s nur einen langen Schrei:

Dagegen sah ich in der Ferne
ein Wesen, ganz der Anmut Bild;
Die Augen funkelten, wie Sterne,
Und waren dennoch fromm und mild.
Sanft', wie auf Rosen, kam's gegangen,
Und leckte sich fein säuberlich
Das Bärtchen und die weißen Wangen,
Dies mit zarten Pfötchen strich.
Voll Lieb' und Lust, die mich durchglühten,
Hätt' ich's um Freundschaft gern ersucht;
Allein des Flügelschlägers Wüten
Erschreckte mich zu schneller Flucht.«

»Das dank ihm ewig!« sprach die Mutter,
»Denn dich bezauberte, mein Kind,
Die schlaue Katze, deren Futter
Wir armen Mäuse täglich sind.
Doch stört, trotz seiner Flügelschläge,
Der Hahn nie unsre Sicherheit.
Geh' nur den Schleichern aus dem Wege;
Die Polterer Thun dir kein Leid.«
Vaterländische Unterhaltungen
Ein belehrendes und unterhaltendes Lesebuch
zur Bildung des Verstandes, Veredlung des Herzens,
Beförderung der Vaterlandsliebe und gemeinnütziger Kenntnisse
für die Jugend Österreichs
von Leopold Chimani
Vierter Teil, Wien 1815
Im Verlage bey Anton Doll

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