Donnerstag, 22. September 2011

Begriff der Erdichtung der Beschreibung der Fabel

Dahero habe ich es vor gut befunden, den Begriff der Erdichtung der Beschreibung der Fabel beyzufügen, damit man sie von der Begebenheit hinlänglich unterscheiden könne. Nun weiß ich zwar wohl, daß einige die Geschichte und Fabel also unterscheiden, daß sie sagen, die Geschichte erzähle die Sache, wie sie sich zugetragen, und sorge weder für das Wahscheinliche, noch für die Anwendung; die Fabel aber sähe bey ihrer Erzählung auf das Wahrscheinliche, und suche aus vielerley Begebenheit das heraus was dem Glaubwürdigen am nähesten kommt, und sich am bequemsten auf eine Lebensregel anwenden läßt. Allein, dieses trifft man nicht bey allen Fabeln an. Denn es kann ein Vorfall ohne Zuthun des Dichters wunderbar, wahrscheinlich, und zum unterrichte geschickt seyn; er wird aber, wenn er gleich mit unter die Fabeln gesetzt wird, und eben den Nutzen, den die Fabel hat, deswegen dennoch nicht zur Fabel werden. Denn er hat seine Wirkung von sich selbst, da hingegen die eigentliche Fabel ihr Daseyn und ihren Nachdruck von der Erfindung des Poeten empfängt. Aber, wenn der Vorfall zum Theil verändert wird; wenn er durch etwas vermehrte wird; wenn kleine Umstände, die entweder gar nicht, oder nicht in dem Zusammenhange da waren, so hinzugesetzt und am Ende mit einander so verbunden werden, daß sie diesen Vorfall welcher den Leser zugleich zu unterhalten und zu lehren geschickt war, ganz erzehlen: so halte ich dafür, daß man dergleichen Erzehlung mit Recht eine Fabel nenne. Eben dieses gilt auch bey größern Fabeln, bey dem Trauerspiele und dem Heldengedichte, als in welchen wahre Begebenheit mit erdichteten verknüpft sind, und in welchen der Dichter solche Zufälle beybringt, von denen zwar sowohl die schriftliche als mündliche Geschichte nichts weiß, die aber doch die Absicht der Fabel erfordert. Herr Breitinger nennt nebst den la Motte die Fabel mit Recht eine ins kurze gezogene Epope; da nun aber niemand die Epope denkt, ohne zugleich sich an die Erdichtung zu erinnern; so folgt, daß, wenn die Vergleichung passend seyn soll, die Erdichtung auch bey dem Begriffe von einer kleinen Fabel nicht fehlen könne.

Christian Fürchtegott Gellert
Von denen Fabeln und deren Verfassern

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