Bei den Krähen war große Versammlung angesagt. Ein Bote des Ältestenrates hatte alle erwachsenen Krähen auf die Schloßwiese eingeladen. Der einsame, verfallene Schuppen sollte der Treffplatz sein.
Der Winter war überaus kalt; dicker Schnee bedeckte die Erde; es war eine schwere Zeit für alles Lebendige und für die Vögel besonders.
Deshalb hatte der Ältestenrat die Versammlung angesagt. Zur festgesetzten Zeit erschienen sie in großen Schwärmen; Hunger und Langeweile, Not und Neugier hatten sie hergetrieben. Da gab es graue und schwarze Krähen, plumpe und zierliche, junge Gelbschnäbel und erfahrene Urgroßväter. Alle ließen sich erwartungsvoll um den alten Schuppen nieder.
Eine dickköpfige weise Krähe meldete sich zum Wort. »Meine geliebten Freunde,« krächzte sie, »ihr kennt die Not, die uns hier zusammenführt. Wir können unser tägliches Brot in dieser schweren Zeit nicht mehr finden, und schon mancher ist Hungers gestorben in unsern Feldern. Viele sind so matt, daß sie kaum noch fliegen können. Daran ist vor allem der Schnee schuld, diese Himmelsplage, die keinen Zweck weiter hat, als uns Krähen das Leben zu erschweren. Wenn er nicht wäre, könnte man immer noch das Nötigste finden.«
»In langen schlaflosen Nächten habe ich mir das klar gemacht und beschlossen, euch folgenden Vorschlag zu unterbreiten. Wir müssen den Schnee fortschaffen und das Land freilegen; alle müssen an dem Rettungswerk mitarbeiten. Seid ihr damit einverstanden?« »Ja, ja,« rief das Volk mit hoffnungsvollem Gekrächz, nur eine Einzelstimme fragte: »Aber wie?«
»Das werdet ihr gleich hören,« sagte die weise Krähe, und während sie ihren Schnabel putzte und sich aufplusterte, fuhr sie mit gewichtiger Miene fort: »Es ist keine leichte Arbeit, die ich euch zumute, es gilt nämlich, den Schnee fortzutragen. Jeder nimmt auf Rücken und Flügel soviel er vermag, und so tragen wir ihn auf einen Berg zusammen, bis das Land frei ist.«
Einige Alte schüttelten bei diesem Vorschlage bedenklich die Köpfe; aber die Mehrheit jubelte der Rednerin zu, und am nächsten Tage begann das große Werk.
Die Krähen waren fleißig wie noch nie, fast über ihre Kräfte, und doch war nach acht Tagen erst eine einzige Ackerfurche freigelegt. Und was sie da an Nahrung fanden, reichte kaum für zehn hungrige Schnäbel. Da ermüdeten schon viele und ließen ihre Genossen im Stich; und nach abermals acht Tagen war kein Arbeiter mehr zur Stelle.
Der Schnee fiel wieder in dichten Flocken, als sich die Krähen aufs neue versammelten. Diesmal waren sie noch bekümmerter, und ein lautes Krächzen und Schreien verriet ihre Erregung.
Eine vornehme Krähe schrie, man solle die Spatzen zwingen, Brot herbeizuschaffen, die hätten List und Frechheit genug, die Menschen zu bestehlen. Aber der Antrag wurde mit Empörung zurückgewiesen.
Eine junge Krähe schlug vor, es den Schwalben und Störchen nachzumachen und in warme Länder auszuwandern. Aber als man sie nach dem Wege fragte, wußte sie ihn nicht; sie hatte bloß gehört, daß er übers Meer ginge. Da schrien alle: »Nein, nein, lieber hier verhungern, als in die unbekannte Fremde fliegen und noch dazu übers Meer!«
»Fliegt in die Häuser der Menschen,« meinte eine zahme Krähe, »die sind gut und füttern euch; ich brauche mir schon seit Jahren im Winter kein Körnchen mehr zu suchen.« Aber da gab es ein furchtbares Gekrächz: »I, so geh doch, geh doch zu deinen Menschen, laß dir die Flügel beschneiden, mach Grimassen und Kunststücke! Wir andern sind nicht zu Knechten und Narren geboren!« Und die zahme Krähe wurde mit Biß und Hieb fortgejagt.
Nachdem sich die Versammlung wieder beruhigt hatte, sagte eine weitgereiste Krähe mit nachdenklichem Flügelschlagen: »Wir könnten es einmal mit Auftauen versuchen, wie die Menschen es zuweilen machen.«
Da niemand einen bessern Vorschlag hatte, stimmte das Krähenvolk schweigend zu.
Am andern Morgen hockten sich Tausende von Krähen in den frischgefallnen Schnee. Unter den warmen Vogelleibern zeigten sich kleine Wasserlachen. Viele erstarrten bei dieser furchtbaren Arbeit, aber neue Ankömmlinge nahmen ihre Plätze ein. So hofften und harrten sie auf Erfüllung und duldeten alle Mühsal.
Da kam nach ein paar Tagen die Sonne; und was die vielen tausend Seelchen in hundert Jahren nicht fertig gebracht hätten, vermochte die Tochter des Himmels in ein paar Stunden. Der schlimme Schnee zerschmolz zusehends, das Land wurde frei und fruchtbar, und die Vögel hatten vollauf zu essen.
Aber fragt einmal die Krähen: die glauben fest, daß ohne sie die Sonne nichts hätte ausrichten können, ja, daß ihnen der größte Teil der Arbeit zugefallen sei!
Belauscht sie nur einmal auf den Feldern; da könnt ihr hören, wie sie sich ihrer Kraft und Weisheit rühmen!
Die Sonne aber leuchtet und schweigt und läßt dem Krähenvolk seinen Spaß!
1 Kommentar:
Schöne Fabel und ein ganz faszinierendes Foto!
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