… Wie ein Mittelding zwischen Vogel und Maus ist sie schon in frühen Zeiten dem Betrachter erschienen, und als ein solch wundersames Tier steht sie auch im Vordergrund der folgenden Fabeln und Sagen.
In naiver Auffassung ist nichts natürlicher, als daß jene Doppelnatur, die sich im Äußern der Fledermaus so stark ausprägt, auch in ihrem innern Wesen, so vor allem im Benehmen andern Tieren gegenüber an den Tag tritt. In den Sagen nun zeigt sich dieser zwiespältige und zweideutige Charakter darin, daß die Fledermaus im Kriege der Vögel gegen die Vierfüßler es mit derjenigen. Partei hält, von der sie glaubt, daß sie die stärkere sei. Im Augenblick der Gefahr des Unterliegens verläßt sie daher treulos die Scharen der Vögel und geht zu den Feinden über.
Die äsopische Fabel … von der Fledermaus und der Katze dürfte auf die Fledermausfabeln in der Phädrus- und Romulustradition einen entscheidenden Einfluß gehabt haben. Dort bittet die von der Katze ergriffene Fledermaus um ihr Leben. Auf die Erklärung der Katze, sie könne es ihr nicht schenken, denn sie führe kraft ihrer Natur Krieg mit den Vögeln, erwiderte jene, sie sei ja kein Vogel, sondern eine Maus, und so wurde sie denn losgelassen. Als sie später einmal von einer andern Katze ergriffen wurde, bat sie abermals darum, nicht gefressen zu werden, und als jene bemerkte, sie sei die Widersacherin aller Mäuse, entgegnete sie, sie sei keine Maus, sondern ein Nachtvogel, und wurde abermals freigegeben.
Die Doppelnatur der Fledermaus ist auch hier schon das eigentliche Thema, aber die Abweichungen der jüngeren Fabeln sind doch so große, daß wir für sie eine vermittelnde Fassung voraussetzen müssen. Das Kriegsmotiv ist jedoch in der äsopischen Fassung schon deutlich vorgebildet durch die Motivierung der Katze, ›sie führe Krieg mit den Vögeln‹.
Oskar Dähnhardt
aus: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden
4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912
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